Friedlich in die Krise

Die gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik nimmt Gestalt an. Die EU will sich vor allem im zivilen Bereich profilieren. von thorsten fuchshuber

Unsere Streitkräfte sind keine Friedenstruppen. Wenn die Arbeit getan ist, sollten wir ein UN-Protektorat einrichten und gehen«, erklärte US-Präsident George W. Bush 2001 während des Afghanistan-Feldzugs. Eine Herangehensweise, die sich nach Ansicht von Kritikern immer mehr als Schwäche der US-Außenpolitik offenbart. So schreibt der neokonservative Vordenker Frederick W. Kagan in der US-Zeitschrift Policy Review, im Zuge der Kriege gegen Afghanistan und den Irak sei deutlich geworden, dass das »wahre Gravitationszentrum in einem Krieg, der auf einen Regimewechsel abzielt, nicht in der Zerstörung des alten Systems liegt«. Viel wichtiger sei die Schaffung der neuen Strukturen. Dieser Aspekt jedoch, so Kagan, tauche in den Militärstrategien der USA gar nicht auf.

»Zur Bewältigung der immer wichtiger werdenden Herausforderungen des Nation Building verfügen die Mitgliedstaaten und die EU wohl über den reichsten Erfahrungsschatz und den besten Instrumentenkasten«, tönte dagegen Außenminister Joseph Fischer im vergangenen November in einer Rede an der Universität Princeton. In Deutschland, das gemeinsam mit Frankreich die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) vorantreibt, wittert man Chancen. Auch Bundeskanzler Gerhard Schröder warb gegenüber Präsident Bush bereits im vergangenen Jahr für eine »internationale Arbeitsteilung«.

Mit einer Unterordnung unter die Politik der USA hat dies indes nichts zu tun. Keinesfalls wollen sich die Europäer, wie bereits öfters kolportiert wurde, als Aufräumkommando der USA betätigen. Da sie jedoch wissen, dass es auch mit einer forcierten europäischen Militärpolitik absehbar nicht gelingen wird, die Hegemonie der Vereinigten Staaten zu schwächen, setzen die Protagonisten Kerneuropas zunehmend auf die zivile Komponente der ESVP.

So will die EU ihren Einflussbereich dort erweitern, wo dies ohne »robustes« militärisches Eingreifen möglich ist. In den vergangenen Jahren wurden komplexe Strukturen geschaffen, mit denen innerhalb kürzester Zeit Protektorate errichtet werden können. Die Polizeimission in Bosnien sowie die im Dezember begonnene Mission in Mazedonien sind erste Testfälle dieser Strategie. Die Möglichkeiten reichen jedoch viel weiter.

So ist man mittlerweile in der Lage, auf ein Netzwerk aus Polizeikräften, Juristen, Verwaltungsangestellten und Katastrophenschützern zurückzugreifen. Nach einer Studie der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik werden dadurch alle Aufgabenfelder abgedeckt, die »für die Stabilisierung von Krisenregionen entscheidend« sind.

Bereits im Januar des vergangenen Jahres stellten die Mitgliedsstaaten der EU ein Kontingent von 5 000 Polizeibeamten zur Verfügung. Zudem sind insgesamt 282 Richter, Staatsanwälte und Strafvollzugsbeamte abrufbar. Im Bereich der Zivilverwaltung in Krisenregionen ist vom Gesundheits- und Bildungswesen bis zur Abfallwirtschaft an alles gedacht. Auch »hoch spezialisierte Fachleute« aus nationalen Behörden und Nichtregierungsorganisationen stehen bereit. Sie alle sollen innerhalb von nur 30 Tagen mobilisiert werden können. Zu Unrecht werde die »zivile Komponente der ESVP« deshalb »in der Öffentlichkeit und gelegentlich auch in der Politik unterbewertet«, klagt Reinhardt Rummel von der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Auch Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan lässt sich bei der Bundeswehrreform von diesen Prämissen leiten. »Dem ›cyber war‹ folgt das ›nation building‹«, erklärte er vor kurzem. Seine Konzeption, die er in dieser Woche im Parlament vorstellt, sieht eine völlig neue Struktur der Bundeswehr vor. Die starre Aufteilung in die Teilstreitkräfte Heer, Luftwaffe und Marine soll durch eine »streitkräftegemeinsame Einteilung der Bundeswehr in drei Kräftekategorien« ersetzt werden.

Rund 35 000 Soldaten sollen künftig die »Eingreifkräfte« bilden. Sie »entfalten eine hohe Abschreckungswirkung, können friedenserzwingende Maßnahmen durchsetzen«, wie Schneiderhan schreibt. Aus diesen Kräften wird auch der deutsche Beitrag für die Nato Response Force und die EU-Eingreiftruppe, für die Deutschland mit 18 000 Soldaten das größte Kontingent stellt, rekrutiert.

Hinzu kommen die »Stabilisierungskräfte«. 70 000 Soldaten werden für »friedenserhaltende Einsätze« zuständig sein. Mit der entsprechenden Ausrüstung sollen die Truppen nach Meinung der Welt besser als die US-Armee zu einer »dauerhaften Befriedung« von Krisenregionen in der Lage sein. Die restlichen 145 000 Soldaten werden als »Unterstützungskräfte« eingesetzt.

Auch sonst hält sich Schneiderhan strikt an die neuen verteidigungspolitischen Richtlinien von Verteidigungsminister Peter Struck. In der »neuen Ära« der Bundeswehr, wie die Süddeutsche Zeitung schreibt, spielt die Landesverteidigung keine Rolle mehr, »internationale Kriseninterventionsfähigkeit« lautet nun das Paradigma.

Schleunigst werden deshalb die Überbleibsel des Kalten Krieges entsorgt. Über 120 Bundeswehrstandorte sollen geschlossen werden. Die bisherigen Rüstungspläne werden ebenfalls radikal zusammengestrichen. Allein bis 2012 fallen demnach Rüstungsprojekte im Umfang von knapp neun Milliarden Euro weg. »Wir müssen nicht über das Gesamtspektrum aller denkbaren Waffen und Geräte verfügen – aber die, die wir haben, müssen im Verbund einsetzbar sein«, fasst der Generalinspekteur sein Vorgehen zusammen.

Für mehr Effizienz im Rüstungsbereich soll ab Ende 2004 auf europäischer Ebene auch eine gemeinsame Rüstungsagentur sorgen. Waren bisher alle größeren westeuropäischen Länder bestrebt, in möglichst vielen rüstungspolitisch relevanten Feldern eigene Entwicklungs- und Produktionskapazitäten aufzubauen, soll nun mit Hilfe der Agentur vor allem in den Bereichen Forschung und Entwicklung kooperiert werden. Die dadurch frei werdenden Gelder können wiederum zur Anschaffung von Waffensystemen verwendet werden.

Mit der Defragmentierung der nationalen Märkte für die Rüstungsindustrie soll gleichzeitig ein wettbewerbsfähiger europäischer Markt geschaffen werden, der nicht mehr auf in den USA entwickelte Produkte angewiesen ist. Damit wäre die EU rüstungsindustriell unabhängig. Dies hängt jedoch nicht zuletzt davon ab, ob sich die europäischen Konzerne von einer Kooperation mit US-Firmen abhalten lassen.

Und auch das Kaufverhalten USA-freundlicher EU-Beitrittsländer wird dabei eine Rolle spielen. Vertreter einiger EU-Staaten leisten deshalb mitunter Überzeugungsarbeit. So weiß Robert E. Hunter vom US-amerikanischen Think Tank Rand zu berichten, dass mehrere Länder, die nicht Mitglieder der EU sind, aufgefordert wurden, europäische statt amerikanische Rüstungsgüter zu kaufen. Polnischen Politikern sei beispielsweise gesagt worden: »Die USA haben euch in die Nato gebracht, aber nur wir können euch in die EU bekommen.«

Am grundsätzlichen militärischen Kräfteverhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und der EU wird jedoch auch die Rüstungsagentur mittelfristig nichts ändern. »Die Stärken der europäischen Fähigkeiten liegen im zivilen Bereich, in der Fähigkeit zu sozialer, politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Intervention«, schreibt Otfried Nassauer vom Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit.

Die Folgen einer solchen von Deutschland dominierten Kerneuropa-Politik sind absehbar. Der »kritische Dialog« mit dem Regime im Iran und die Ethnisierung von sozialen Konflikten, wie etwa im ehemaligen Jugoslawien, flankieren jenen deutschen Weg, der dazu führt, dass das Elend nicht endet.