»Stanford gibt’s nicht noch mal«

hans n. weiler, emeritierter Erziehungswissenschaftler und Politologe, vergleicht die Bildungssysteme in Amerika und in Deutschland

Sie haben lange an der amerikanischen Eliteuniversität Stanford gelehrt, und Sie haben in Frankfurt/ Oder die deutsch-polnische Universität Viadrina als Gründungsrektor mitaufgebaut. Was halten Sie da von der Idee einer Eliteuniversität?

Eine interessante Idee, dachte ich zunächst, aber sie ist bei näherem Hinsehen reichlich vordergründig und unrealistisch. So sind die deutschen Hochschulprobleme nicht zu lösen.

Sind Stanford und Harvard denn Universitäten, wie sie in Deutschland oder Europa denkbar wären?

So sicher nicht. Aber sie wären auch so in Amerika nicht mehr herzustellen, denn ihre Entstehungsbedingungen sind ja sehr charakteristisch für das 18. und 19. Jahrhundert. Stanford und Harvard sind Einrichtungen in einer Größe und einem Ausmaß, wie sie selbst für Amerika heute als Neugründungen nicht mehr zu bezahlen wären. Stanford hat ein Stiftungskapital von acht Milliarden Dollar und einen Jahresetat von zweieinhalb Milliarden Dollar, er ist also zehn Mal so hoch wie der der FU Berlin.

Aber ist für die deutschen Bildungspolitiker wenigstens ein europäisches Berkeley denkbar, also Eliteuniversitäten, die public universities sind?

Sie haben insofern Recht, dass man in Europa nicht nur auf Harvard und Stanford schauen sollte, sondern auch auf Berkeley, auf North Carolina, auf New York und etliche andere öffentliche Universitäten. Aber die Unterscheidung von öffentlichen und privaten Universitäten verschwimmt ohnehin immer mehr. Harvard und Stanford als ursprünglich große Privatuniversitäten bestreiten einen großen Teil ihres Betriebs mit öffentlichen Forschungsmitteln, und die öffentlichen Universitäten bestreiten einen immer größeren Teil aus privaten Mitteln. Nur 30 Prozent des Etats von Berkeley kommt vom kalifornischen Staat.

Verweist nicht schon der Begriff »Elite« auf ein antidemokratisches Bildungsverständnis?

Nein, überhaupt nicht. Da sollte man sich in Deutschland langsam freischwimmen. Es geht um einen Leistungsbegriff, der in der Wissenschaft und auch in der übrigen Gesellschaft völlig legitim ist. Da ist nichts falsch dran, wenn sich Elite über Leistung definiert. Denn es ist ja eine Tatsache, dass es in Deutschland gute und schlechte Universitäten gibt, und erst recht gute und schlechte Fachbereiche. Aber das passt vielleicht nicht so gut in Ihre Zeitung.

Och, das stört mich nicht. Interessant ist aber doch, dass die SPD ihre bisherige Bildungspolitik über Bord werfen möchte. Oder gibt es da doch eine Konstante?

Da müssten Sie besser Herrn Scholz fragen. Aber mir scheint, dass die SPD dabei ist, auf einen Wagen zu springen, der schon längst fährt. Die SPD muss da, glaube ich, viel von ihrer eigenen Geschichte abarbeiten. Aber unabhängig davon fehlt in Deutschland ein leistungs- und qualitätsbezogenes Bildungssystem.

Wenn wir noch einen Moment bei sozialen Inhalten der Bildungspolitik verweilen: Wie groß oder klein ist die soziale Durchlässigkeit von Eliteuniversitäten in den USA?

Sie lässt erheblich zu wünschen übrig, das ist die eine Seite. Aber auf der anderen Seite muss man sehen, dass die soziale Durchlässigkeit erheblich besser ist als noch vor dreißig, vor zwanzig oder auch noch vor zehn Jahren. Und man muss herausstellen, dass sie nicht so dramatisch ist, wie sie außerhalb der USA oft dargestellt wird. Die Universitäten bemühen sich sehr um Stipendien für Studenten aus unteren Schichten, und diese Stipendien kosten die Universitäten auch viel Geld. Die amerikanischen Privatuniversitäten sind gewiss keine Chancengleichheitsparadiese. Aber sie sind ebenso gewiss keine Bollwerke der Reproduktion des Klassensystems.

Mehr als von sozialen Fragen ist ja die hiesige Bildungspolitik von der Sorge um den »Wissenschaftsstandort« getrieben. Gibt es in den USA eine ähnliche Debatte?

Ja, die gibt es. Aber sie ist von anderer Art als in Deutschland. Die Hochschulpolitik ist für Amerika sehr bedeutend, so etwas wie Silicon Valley wäre ja ohne ein entsprechendes Forschungsumfeld undenkbar gewesen. Aber hier macht sich niemand Sorgen, dass eine nennenswerte Zahl von amerikanischen Wissenschaftlern nach Deutschland abwandern könnte.

Spielt in einer solchen amerikanisch-europäischen Debatte auch Antiamerikanismus eine Rolle?

Ich merke so etwas gelegentlich. Ich halte ja sehr oft Vorträge in Deutschland, arbeite dort auch in etlichen Kommissionen mit, und da höre ich, wenn ich über das amerikanische Bildungssystem spreche, immer wieder Reaktionen dazu, was die Amerikaner ansonsten Verwerfliches angerichtet haben.

Ich halte aber solche Anwürfe für nicht sehr relevant, vor allem nicht, wenn man sich die Fakten anschaut. Mein Kollege Gerhard Casper kommt zu dem Schluss, dass das alte Humboldtsche Bildungsideal von der Einheit von Forschung und Lehre, auf das in europäischen Debatten immer wieder rekurriert wird, heute vor allem in amerikanischen Forschungsuniversitäten verwirklicht ist. Das liegt nicht zuletzt daran, dass in Europa große Teile der Forschung aus den Universitäten in reine Forschungsstätten ausgelagert wurden. Das ist in Amerika grundsätzlich anders.

Zu einer kritischen linken Sicht auf die Zukunft der Hochschule gehört, dass vor dem Ausbluten der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten gewarnt wird, weil die alles bestimmende Industrie nur Interesse an den Naturwissenschaften habe und auch hier nur an der unmittelbar verwertbaren Forschung. Teilen Sie diese Kritik?

Die Gefahr besteht zweifelsohne. Denn Natur- und Technikwissenschaften sind marktfähiger als Geistes- und Sozialwissenschaften.

Dafür gibt es in Europa ja das Schlagwort von der Amerikanisierung.

Aber in den USA kann man besichtigen, wie man es anders machen könnte. Das MIT, das Massachusetts Institute of Technology, könnte doch heute steinreich – oder noch steinreicher – sein, wenn es sich nur auf die Technik- und Naturwissenschaften hin orientiert hätte. Das Gleiche gilt auch für Stanford. Aber bewusst wurden hier immer auch die geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten gefördert. Und sowohl in Stanford als auch beim MIT genießen diese Sparten mittlerweile ein glänzendes Renommee, das für den gesamten Ruf dieser Einrichtungen unerlässlich ist.

Aber damit es zu einer solchen Entwicklung der Hochschulen kommt, bedarf es doch staatlicher Eingriffe?

Ja, es bedarf einer hochschulpolitischen Initiative. Wenn man alles dem Markt überließe, würde das nicht funktionieren. Es gibt ja Hochschulen in den USA, wo das der Fall war und ist. Die aber sind ziemlich armselig, was ihre wissenschaftliche und hochschulpolitische Reputation angeht.

interview: martin krauß