Zwerg mit Keule

Die EU auf dem Weg zur Militärmacht: Eine Bilanz der bisherigen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. von karin waringo, brüssel

Als Feiglinge stempelte der US-amerikanische Wissenschaftler und Vordenker der Neokonservativen, Robert Kagan, die Europäer noch vor einem Jahr ab. Natürlich waren die Formulierungen etwas diplomatischer, doch im Kern war die Botschaft seines Buches »Macht und Ohnmacht«, eindeutig: Europa hat sich während des Kalten Krieges hinter dem militärischen Schutzschild der USA verschanzt und sich dort als die moralischere Macht, die auf diplomatische statt auf militärische Mittel zur Bewältigung von Konflikten setzt, aufgespielt. Doch die EU zeigt inzwischen ihre Milchzähne.

Für die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik war das vergangene Jahr sehr erfolgreich, auch wenn es zu Anfang nicht danach aussah. Ein bisschen verstimmt stellten die strategischen Planer in Brüssel fest, dass ihnen die USA mit ihrem Angriff auf den Irak, just zu dem Zeitpunkt, als die Union ihre erste Militärmission in Mazedonien lancieren wollte, die Show stahl. In Mazedonien wurde freilich kein Diktator gejagt oder nach modernen Massenvernichtungsmitteln gesucht. Die Aufgabe, um die die EU lange mit der Nato gerungen hatte und für die sie letztlich die Einladung der mazedonischen Regierung erwarb (»Ihr lasst uns hier ein bisschen üben, und wir lassen euch ein bisschen näher an die Union«) war wesentlich bescheidener. Die 350 Mann starke Truppe sollte die internationalen Beobachter beschützen, die die Umsetzung des Ohrider Friedensabkommens überwachten. Für die Sicherheit des Ganzen stand nach wie vor die Nato.

Mitte Dezember wurde die Operation Concordia feierlich beendet und gleich die nächste EU-Mission in Mazedonien eingeläutet. Bei Proxima handelt es sich um eine Polizeimission, die zweite im Jahr 2003, nachdem die EU zu Jahresanfang die Polizeimission der Uno in Bosnien übernommen hat. In Mazedonien werden nun annähernd 200 europäische Polizisten, assistiert von Kollegen aus den USA und möglicherweise auch Russland, der Ukraine und Kanada ihren mazedonischen Kollegen bei der Arbeit über die Schulter schauen und sie beim Aufbau eines modernen Polizeiapparats unterstützen.

In Brüssel ist man auf diesen Ablauf stolz: Militärs geben den Stab an zivile Kräfte, nämlich Polizisten, weiter, die bei der Stabilisierung mitwirken sollen. Hier könnte das neue Profil der EU liegen, das ihr eigenständiges Auftreten als internationaler Sicherheitsagent rechtfertigen würde.

Beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Brüssel in Dezember hat man sich auf den Ausbau des strategischen Planungsstabs der EU geeinigt, der bisher im Ratssekretariat angesiedelt ist. Den annähernd 130 militärischen Planern sollen weitere Kräfte zur Seite gestellt und die Struktur soll in eine Dauereinrichtung umgewandelt werden.

Damit wäre die EU zum ersten Mal in der Lage, Militäroperationen eigenständig zu planen und durchzuführen. Aber eben nicht nur militärische, sondern auch zivile Operationen: den Krieg und den Nachkrieg sozusagen. Auf diesem Gebiet ist die EU den USA weit überlegen, wie man mit dem Hinweis darauf unterstreicht, dass die Union der größte Geber humanitärer Hilfe ist.

Aber wird der militärische Planungsstab Brüssel jemals aktiviert? Die Militärmission in Mazedonien wurde vom militärischen Hauptquartier der Nato im belgischen Mons gesteuert, wo die EU ebenfalls eine Planungszelle unterhält. Die zweite Militärmission, Artemis, in der Provinzhauptstadt Bunia in der Republik Kongo, wurde von Frankreich ausgeführt. Zwei Optionen, die der EU in Zukunft ebenfalls offen stehen sollen, während die autonome Planungszelle nur in letzter Instanz zum Einsatz kommen soll, um eine Konkurrenz zur Nato zu vermeiden.

Die Etablierung eines festen Planungsstabs in Brüssel ist ein Kompromiss. Im April sorgte die Viererinitiative Frankreichs, Deutschlands, Belgiens und Luxemburgs, die sich in Brüssel zum später viel gescholtenen »Pralinengipfel« versammelten, um der dumpf vor sich hin dämmernden europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf die Sprünge zu helfen, noch für Missfallen jenseits des Atlantiks, aber auch des Ärmelkanals. Insbesondere die Idee des Aufbaus eines eigenen militärischen Hauptquartiers sorgte für Argwohn.

Doch vor ein paar Wochen ließ sich der britische Premierminister Tony Blair überzeugen, dass es besser sei, sich mit den beiden Großen auf einen Kompromiss zu einigen, als dass Europas Verteidigungspolitik weiter auf der Stelle tritt, und stimmte dem Vorschlag zu. Denn militärisch ist Europa nach wie vor ein unbedeutender Akteur. Nach dem Ende des Kalten Krieges sind die Militärausgaben in den meisten EU-Ländern schlagartig gesunken. Selbst Großbritannien und Frankreich reichen nicht an die drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts heran, die sich die USA ihr Arsenal kosten lassen. Blairs Ansatz steht durchaus im Einklang mit der Politik der Vorgängerregierungen, die europäischen Partner zu einer Aufstockung der Militärausgaben zu bewegen, um den USA effektiver zur Seite zu stehen.

Hier laufen die Ambitionen der Mitgliedsstaaten auseinander, und bis Dezember 1998 scheiterte jegliche Initiative, Europa mit einem militärischen Arm auszustatten, am Widerspruch zwischen Frankreich und Großbritannien.

Erst das französisch-britische Abkommen von Saint Malo machte den Weg frei für den Aufbau einer gemeinsamen Streitmacht, die 60 000 Soldaten umfassen soll, die innerhalb von sechzig Tagen einsatzfähig sind und deren Einsatz ein Jahr lang aufrechterhalten werden kann. Dies ist das Ziel, das sich die europäischen Staats- und Regierungschefs Ende 1999 auf ihrem Gipfel in Helsinki steckten. Vier Jahre später, am Ende der Frist, ist es zwar nur teilweise erreicht. So fehlt es nach wie vor an Transportern zu Wasser und in der Luft und an strategischer Intelligenz, doch liegen bereits neue Vorschläge vor, die auf das Jahr 2010 abstellen.

Im November haben die europäischen Verteidigungsminister einen weiteren Schritt gemacht, indem sie den Aufbau einer europäischen Rüstungsagentur beschlossen haben. Politische Befugnisse hat die Agentur nicht und vorerst auch keine eigenen Mittel, doch soll sie vor allem dazu dienen, Rüstungskäufe untereinander abzustimmen und deshalb billiger zu machen. Außerdem erhofft man sich Rückwirkungen auf die europäische Rüstungsindustrie, die an Effizienz und Wettbewerbskraft gewinnen soll.

Und seit dem Brüsseler Gipfel verfügt die EU schließlich auch über eine eigene Sicherheitsdoktrin (Jungle World, 50/03). Europa entledigt sich darin endgültig des Feigenblättchens, das seine Aufrüstungsbemühungen bisher legitimierte. In dem Papier geht es nicht mehr nur um die Gewährleistung der so genannten Petersberger Aufgaben, um als friedensstiftend oder friedenserhaltend gepriesene militärische Einsätze. Nun geht es schlicht und einfach darum, dass die Europäer bei zukünftigen Konflikten mitmischen wollen. Doch vorerst nur dann, wenn die USA nichts dagegen haben.