Offensive in Dessau

Seit Anfang des Jahres häufen sich Neonaziübergriffe in Dessau. Sie scheinen geplant und organisiert zu sein. von thomas sandberg und andreas speit

Blitzschnell ging alles«, erzählt ein Betroffener. Am 1. Februar, gegen drei Uhr morgens, wartete er zusammen mit acht Freunden aus der alternativen Szene in der Vorhalle des Bahnhofs in Dessau. Die Mädchen und Jungen zwischen 13 und 17 Jahren kamen von einem Konzert und wollten nach Hause. Plötzlich stürmten zehn bis 15 vermummte Neonazis grölend auf sie zu und griffen sie brutal an. »Zuerst sprühten sie uns mit Reizgas ein«, berichtet der Jugendliche weiter, »dann schlugen sie mit Eisenstangen, Baseball- und Hockeyschlägern wahllos zu.« Einen seiner Freunde stießen die Neonazis die Treppe zur Bahnhofsunterführung hinunter.

Und auf ein Kommando zogen sich die Täter wieder zurück. In der Bahnhofshalle hielten sich einige Reisende auf, die sich aber nicht rührten. Auch der im Gebäude ansässige Bundesgrenzschutz (BGS) reagierte trotz der Kameraüberwachung des Bahnhofes nicht. Die verletzten Jugendlichen flohen und riefen die Polizei. Zwei der Jugendlichen, die Platzwunden, Prellungen und Hämatome erlitten, mussten ambulant behandelt werden. Zwei weitere Opfer des Naziangriffs wurden so schwer verwundet, dass sie mehrere Tage stationär betreut werden mussten. »Wir hatten dennoch riesiges Glück, nicht noch schwerer verletzt worden zu sein«, meint einer der Betroffenen.

Seit Anfang des Jahres griffen rechtsextrem orientierte Jugendliche und junge Erwachsene mitten in Dessau 14 Mal Kinder, Jugendliche, Migranten und Obdachlose an. Die Angreifer gingen »systematisch und organisiert« vor, betont Zissi Sauermann von der Mobilen Beratung für Opfer rechtsextremer Gewalt. Der Bereich um den denkmalgeschützen Hauptbahnhof aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat sich für nichtrechte Jugendliche und sozial Ausgegrenzte zu einer Gegend entwickelt, in der man fortwährend Angst haben muss.

Nur wenige Minuten vor der oben geschilderten Attacke griff offenbar dieselbe Gruppe Neonazis mehrere Jugendliche an, die vor dem Kinokomplex in Sichtweite des Hauptbahnhofs auf Bekannte warteten. »Auf einmal standen sie vor uns«, berichtet ein Opfer aus Gräfenhainichen. Ein langsam vorbeifahrender Polizeiwagen habe nicht angehalten, als die vermummten Rechten einem Jugendlichen mit einem Baseballschläger in den Unterleib stießen und die anderen herumschubsten. »Die haben uns einfach nicht geholfen«, berichtet der Jugendliche fassungslos. Erst als die Bekannten mit dem Auto kamen, gelang es den Jugendlichen, den Angreifern zu entkommen, die ihnen noch hinterherbrüllten: »Zecken raus!«

Über einen möglichen Zusammenhang der neonazistischen Übergriffe möchte der Pressesprecher der Polizeidirektion Dessau ebenso wenig sprechen wie über das Verhalten der Polizei. »Eine Ermittlungsgruppe ist eingerichtet«, wiegelt er ab, »die Ermittlungen laufen«. Genauso ungern will sich der Polizeisprecher zu den eingegangenen Strafanzeigen von Opfern rechter Gewalt äußern. So wurden am 23. Januar im Fußgängertunnel am Hauptbahnhof zwei Jugendliche mit Skateboards von vier Neonazis angegriffen. Diese nahmen ihnen die Skateboards ab und schlugen damit auf sie ein und raubten sie aus. Auch am 27. Januar wurden Jugendliche bedroht, diesmal vor dem Rathaus.

Über 200 Menschen folgten wegen der Ereignisse am 4. Februar dem Aufruf des Bündnisses gegen Rechts und der Antifa Dessau unter dem Motto: »Das Maß ist voll! Neonaziterror zurückschlagen!« Auf der Kundgebung sagte ein Vertreter des Bündnisses: »Mit staatlichen Repressionen ist dem Problem nicht beizukommen.« Denn bereits am 29. Januar habe die Polizei den Bereich um den Bahnhof wegen der Häufung der rechten Angriffe zum »verrufenen Ort« erklärt, was ihr weit reichende Sondermaßnahmen erlaubt. »Die schwersten Übergriffe geschahen aber danach.«

Am Tag der Demonstration spürten die Ermittler elf Tatverdächtige aus der Naziszene der Region auf. Einer von ihnen, Denis Decker, sitzt inzwischen in Untersuchungshaft. Der 25jährige Anführer der »Bruderschaft Bitterfeld« arbeitet eng mit den Freien Nationalisten Dessau/Anhalt zusammen. Ende des Jahres 2002 trat er als Vorsitzender des NPD-Kreisverbands Bitterfeld auf. Doch wie viele Neonazis in den Regionen Halle, Dessau und Bitterfeld verließ er die Partei und wandte sich den Freien Kameradschaften zu. Vermutlich folgte Decker der Empfehlung des lokalen Anführers der Freien Nationalisten, Steffen Hupka aus Timmenrode, der anlässlich des Verbotsverfahrens gegen die NPD erklärte, dass die Partei sich zu sehr dem »herrschenden System« anbiedere.

Eine Parteistruktur benötigen die Neonazis auch nicht mehr unbedingt. In den vergangenen Jahren gelang es den Freien Nationalisten in der Region unabhängig von der NPD Kameradschaftsstrukturen aufzubauen, etwa in Halle, Köthen oder Dessau. Größere Aktionen führten die Kameradschaften während des Irakkriegs durch. Unter der Parole »Kein Blut für Israöl« versuchten sie, sich bei Aktionen der Friedensbewegung einzureihen.

Regelmäßig erschienen etwa an die 80 Freie Nationalisten mit Palästinensertüchern und Friedensshirts bei den Antikriegsaktionen in Halle/Saale. Die Dessauer Kameradschaft um den 26jährigen Mario Albrecht grölte: »Massenmord in Palästina, Holocaust der Rabbiner«. Vor allem seit dem vergangenen Jahr beobachtet die Antifa Dessau, dass die etwa 20 Personen umfassende Kameradschaft nicht nur zu Aufmärschen fährt. »Sie treffen sich regelmäßig in der Stadt und haben enge Beziehungen zu ihren Kameraden in den umliegenden Städten.«

Ende des Jahres 2003 verkündete der Verfassungschutz Sachsen-Anhalts, dass »die Anzahl politisch motivierter Straftaten im Bereich Rechtsextremismus deutlich abnahm«. Man musste aber einräumen: »Von dem gewaltbereiten rechtsextremistischen Personenkreis geht nach wie vor eine erhebliche Gefahr aus.« Vor allem aber warnte der Verfassungsschutz vor »gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Rechts- und Linksextremisten«, die sich »bedrohlich« aufschaukeln würden. »Beide extremistische Szenen bezichtigten sich einer Reihe von Gewalttaten«, verkündet das Landesamt. Zu der Situation in Dessau hingegen kann der Pressesprecher des VS nichts sagen. »Die Gruppe fällt nicht landesweit auf.«