Schuss nach hinten

Die Eskalation in Haiti von hans-ulrich dillmann

Die Situation ist ausweglos. Die bewaffneten Rebellen in Gonaïves präsentieren sich mit entsicherten Schnellfeuergewehren und Uzis. Vom militärischen Standpunkt aus ist ihnen mit der schnellen Eroberung mehrerer Städte und Ortschaften im Zentrum des Landes ein Erfolg gelungen. Während die demokratische Opposition von Convergence Démocratique und der so genannten Gruppe der 184 hofft, dass Staatspräsident Jean-Bertrand Aristide von Selbsterkenntnis erleuchtet werde und endlich zurücktrete, setzen die Rebellen auf das Zischen von Kugeln.

Dies sei die einzige Sprache, die der bei ihnen inzwischen ungeliebte Amtsinhaber verstehe, behaupten sie. Jean-Bertrand Aristide hat dagegen nicht zum ersten Mal erklärt, dass er erst am 7. Februar 2006 beabsichtige, seinen Amtssitz zu räumen. Er hat sein Gesicht zu verlieren, denn schon einmal ist er davongelaufen. Damals war er gerade neun Monate im Amt und wurde 1991 durch einen Militärputsch unter Leitung von Raúl Cedras gestürzt. Nur mit US-Militärhilfe konnte er 1994 zurückkehren.

Politische Beobachter wundern sich, wie gelassen die haitianische Polizei dem Treiben in der »rechtsfreien« Rebellenhochburg zusieht. Aus der dominikanischen Republik hat der frühere Polizeiverwaltungschef Guy Philippe mit einer Gruppe von Schwerbewaffneten den Weg in das Departement Artibonite gefunden. Sollte die internationale Gemeinschaft nicht bald intervenieren und den derzeitigen Inhaber des höchsten Staatsamtes absetzen, werde Haiti »liberianische Verhältnisse erleben«, hatte Philippe in der Jungle World (39/03) schon vor Monaten angedroht.

Eine illustre Gesellschaft aus ehemaligen militanten Anhängern der »Erdrutsch-Familie«, wie die Regierungspartei genannt wird, Anhängern des Ex-Diktators Jean Claude »Baby Doc« Duvalier und geschulten Militärputschisten hat sich inzwischen zusammengefunden, um der Agonie, die seit mindestens vier Jahren im Land herrscht, gewaltsam ein Ende zu bereiten. Viele Haitianer erinnern sich nun an die Jahre nach dem Rücktritt Duvaliers. Nach dessen Flucht hat das Land eine Orgie von Gewalt erlebt. Tatsächliche und vermeintliche Kollaborateure seines Regimes bekamen brennende Reifen um den Hals gelegt. Währenddessen gaben sich im Regierungspalast Militärs die Türklinke des Tresorraums in die Hand, um die von »Baby Doc« zurückgelassenen Dollars für den Eigenbedarf sicherzustellen.

Dem wollte »Titid«, der kleine Aristide, wie er liebevoll von seinen Anhängern genannt wurde, ein Ende machen. Die Armut ist geblieben, aber noch immer fallen in den Slums und armen ländlichen Gebieten die Menschen auf die Rhetorik Aristides herein. Für eine Flasche Rum oder ein bisschen Geld stellen sich seine Anhänger, die »Schimären« genannt werden, wie am Sonntag wieder den oppositionellen Demonstranten entgegen und bedecken sie mit einem Steinhagel. Früher gingen die Mitglieder der zivilen Opposition Konfrontationen aus dem Weg, inzwischen müssen Männer wie der Sprecher der Gruppe der 184, André Apaid, alle rhetorischen Register ziehen, um die Demonstranten davon abzuhalten, in die Lavalas-Hochburgen zu gehen.

Die alte Strategie des Teilens und Herrschens, die der ehemaligen Armenpriester Aristide und Anhänger der Befreiungstheologie einsetzt, um sich im Amt zu halten, geht immer seltener auf. Mit der einstigen »Kannibalenarmee« hat Aristide sein persönliches Desaster erlebt. Die Waffen, die er lieferte, um die Opposition klein zu halten, richten sich plötzlich auf ihn.