Tage des Terrors

Seit dem 5. Februar entwickelt sich in Haiti ein bewaffneter Aufstand gegen den Staatspräsidenten. Die Protagonisten der Revolte sind der bürgerlichen Opposition suspekt. Eine Reportage

Geschichte wiederholt sich. In Haiti scheint sie sich jetzt zur völlig absurden Farce zu entwickeln. In der vergangenen Woche zogen Tausende von Anhängern des derzeitigen Staatspräsidenten Jean-Bertrand Aristide durch die Straßen der Hauptstadt Port-au-Prince: Sie feierten mit der landestypischen Rara-Musik das Ende der Duvalier-Diktatur.

Am 7. Februar 1986 hatte Jean Claude Duvalier, genannt »Baby Doc«, das Weite gesucht. Seit 1957 hatte der Duvalier-Clan – zuerst »Papa Doc« François mit seinen Tonton Macoutes genannten Banden, dann sein Sohn »Baby Doc« – die Menschen im »Land der Berge« terrorisiert. Gewaltsame Zusammenstöße in der Hafenstadt Gonaïves beendeten 1986 die Herrschaft der Duvaliers.

Jahrzehnte nach der Terrorherrschaft wirkt das dumpfe Gedröhne der Aristide-Gefolgsleute mit ihren Blasinstrumenten, als wolle die tanzende Menge die bösen Geister von Gonaïves vertreiben. Denn seit dem 5. Februar hat Staatspräsident Aristide in der Hafenstadt nicht mehr das Sagen. Die »Stadt der Unabhängigkeit« wird sie genannt, denn vor 200 Jahren, am 1. Januar 1804, wurde in der Hauptstadt des Departements Artibonite die Unabhängigkeit von der französischen Kolonialmacht erklärt.

Die Revolution – welche Revolution?

»Die Revolution hat begonnen«, skandierten bis an die Zähne bewaffnete Männer auf dem Hauptplatz der 200 000 Einwohner zählenden Stadt. Dort feierte noch vor knapp fünf Wochen eine halbe Stunde lang Aristide mit Staatsgästen die »Freiheit von der Sklavenherrschaft« mit einem Staatsakt. Die 160 Kilometer von Port-au-Prince entfernte Provinzhauptstadt ist unter der Kontrolle der Front de Résistance Révolutionnaire de l’Artibonite (FRRA).

»Gonaïves ist befreit«, verkündete Winter Entienne, der Sprecher der Widerstandsfront. Ihre Mitglieder hatten den Zeitpunkt geschickt gewählt und im Handstreich die viertgrößte Stadt des Landes unter ihre Kontrolle gebracht.

Entiennes Mitstreiter Butteur Métayer ernannte sich gleich selbst zum Polizeichef des gesamten Departements. Die Polizeistation ist nur noch eine rußgeschwärzte Ruine. Das Gefängnis wurde zerstört, zwei junge Männer sitzen auf einem der Dächer und zerschlagen mit Vorschlaghämmern den Beton, um das Moniereisen verschrotten zu können. Die rund 100 Gefangenen haben sich dem Rebellenheer angeschlossen.

Der Bürgermeister, die Polizeibeamten und ein Großteil der Stadtbediensteten sind geflohen. Die etwa 300 Rebellen zerstörten Häuser von Aristide-Anhängern und steckten sie in Brand.

Ein Teil der Soldaten in Fantasieuniformen, die auf dem Hauptplatz der Satdt patrouillieren, hat schwere Waffen, über die noch nicht einmal die Polizei verfügt. Nach Angaben des Roten Kreuzes kamen bei den Feuergefechten zwischen Polizeieinheiten und den Aufständischen mindestens zwölf Menschen ums Leben. Unter allgemeinem Gejohle wurden einige Leichname durch die Straßen geschleift, während eine aufgebrachte Menschenmenge mit Stöcken und Macheten auf die Körper einschlug.

Für sensible Menschen ist die Stadt derzeit kein Ort.

Der Versuch von Spezialeinheiten der haitianischen Polizei, die Rebellenhochburg zurückzuerobern, scheiterte. 14 Polizisten seien dabei erschossen worden, behauptete Entienne. Informationsminister Mario Dupuy erklärte in Port-au-Prince dagegen, Truppen der Nationalpolizei hätten Gonaïves ohne eigene Verluste wieder unter ihre Kontrolle gebracht. Jeder, der die mit Barrikaden abgesperrte Stadt betritt, kann sich vom Gegenteil überzeugen.

Dass die Widerstandsfront nun offen den Aufstand probt, ist ein neuer Schritt beim Versuch, Staatspräsident Aristide zum Rücktritt zu zwingen. Faktisch beherrscht die Rebellenarmee bereits seit Monaten die Regionalhauptstadt.

»Kannibalen«-Brüder

Vor ein paar Monaten noch trug die Widerstandsfront einen anderen Namen. Martialisch nannte sie sich »Armée Cannibale« (»Kannibalenarmee«). Seit im September vergangenen Jahres ihr Anführer Amiot Métayer erschossen aufgefunden wurde, haben sich die »Kannibalen« endgültig gegen Aristide gestellt und sich durch die Namensänderung einen etwas »zivilisierter wirkenden Anstrich« gegeben, wie ein Mitglied des diplomatischen Corps in Port-au-Prince sagt. Der jetzige Chef der Widerstandsfront und selbst ernannte Polizeichef, Métayers Bruder Butteur, beschuldigte Arisitide, den Mord an seinem Bruder angeordnet zu haben, weil dieser von der Beteiligung von Regierungsmitgliedern an Mordanschlägen gegen Oppositionspolitiker gewusst habe.

Einst gehörten Amiot Métayer und seine »Kannibalen« zur Fanmi Lavalas, wie die Regierungspartei genannt wird. Als Teil der Volksorganisationen sorgten sie in Gonaïves nicht nur für Massenmobilisationen, sondern auch dafür, dass Aristides Kritiker lieber schwiegen oder die Stadt verließen. Mal wurden Warnschüsse auf die Häuser von Oppositionellen abgegeben, dann wurden sie abgebrannt, und wenn sie noch immer nicht begriffen hatten, kamen Mordkommandos, um die Lavalas-Gegner endgültig zum Schweigen zu bringen.

Die US-amerikanische Drogenbehörde DEA beschuldigte den Ex-Trotzkisten Métayer – Spitzname: »der Kubaner« – der Beteiligung am internationalen Drogenhandel und forderte wiederholt seine Verhaftung. Menschenrechtsorganisationen verlangten von Staatschef Aristide, dem »Bandenchef« das Handwerk zu legen, dem sie mehrere Morde an Mitgliedern von Oppositionsgruppierungen vorwarfen.

Zwar wurde Amiot Métayer im Juli 2002 verhaftet. Wenige Wochen später aber befreiten seine »Kannibalen« ihn und knapp 160 Mitgefangene, indem sie die Gefängnismauer mit einem Bulldozer niederwalzten. Große Anstalten, den Geflohenen wieder festzunehmen, unternahm die Polizei nicht. In »seinem Stadtviertel« Raboteau flanierte er umringt von schwer bewaffneten Bodyguards, sein dreistöckiges Wohnhaus gehört zu den besseren Gebäuden in dem Armenviertel, das direkt an den Strand angrenzt. Mal forderte er den sofortigen Rücktritt Aristides, dann wieder ließ er regierungskritische Journalisten durch die Straßen treiben.

Ein »Präsident des Volkes«

Jetzt ist Amiots Bruder Butteur der starke Mann in der haitianischen Hafenstadt. Der neue Herrscher hält Hof. Unter dem Vordach der ehemaligen Polizeistation von Gonaïves hat er sich mit seinem bewaffneten Hofstaat versammelt. In der Ruine steht durchdringender Brandgeruch.

Métayer richtet nicht selbst das Wort an die Pressevertreter, die ihm in der brütenden Mittagshitze die Mikrofone und die Kameralinsen entgegenstrecken: Métayer lässt sprechen. Ein hoch gewachsener, dunkelhäutiger junger Mann erzählt in einem Englisch mit unverkennbarem US-Akzent, warum er sich entschlossen hat, mit der Waffe in der Hand dem »Regime Aristides« endlich eine Ende zu bereiten.

»Er hat nichts für uns getan. Métayer ist der Präsident des Volkes«, verkündet der junge Mann mit den kurzen Rastalocken, der ärmellosen Tarnjacke und dem Sturmgewehr. Butteur Métayer goutiert es und lächelt dazu. Er nimmt seine schwarze Sonnenbrille ab und lüftet für einen kurzen Moment seinen breitrandigen Hut.

»Befreite Zone«

Die »befreite Zone«, die die Widerstandsfront kontrolliert, beginnt knapp fünf Kilometer vor der Stadt. Vor einer Brücke ist aus alten Fahrzeugresten, Baumstämmen, Sprungrahmen und Felsbrocken eine Barrikade errichtet worden, die gegen eine »Gebühr« von 50 Gourdes, etwas mehr als ein Euro, von Pressevertretern passiert werden kann. Der Weg ins Stadtzentrum ist eine einzige Slalomfahrt um die Barrikaden herum.

Der 50 Jahre alte Aristide hat die Herrschaft über die »Stadt der Unabhängigkeit« verloren. 14 Städte in der Zentralregion wollen die Mitglieder der Widerstandsfront bisher unter ihre Kontrolle gebracht haben.

In der gut 70 Kilometer südlich gelegenen Hafenstadt Saint-Marc hat allerdings Aristide wieder das Sagen. Nach heftigen Feuergefechten eroberten Spezialeinheiten der Polizei die Ortschaft zurück. Die »Vereinigung der konsequenten Militanten von Saint-Marc«, musste sich wieder in ihren Stadtteil zurückziehen, misstrauisch beäugt von den ebenfalls schwer bewaffneten Lavalas-Anhängern. Sie beherrschen das Nachbarviertel.

In der ausgebrannten Polizeiruine schieben wieder die beigefarben gekleideten Polizisten ihren Dienst. In einer von Brandspuren gezeichneten Fensterhöhle steht ein Telefon. Gelangweilt schauen die Beamten den Passanten nach. Alltag nach dem Aufstand, Marktfrauen auch hier, fliegende Händler ziehen durch die Straßen.

Den bürgerlichen Oppositionsgruppen kommt der bewaffnete Aufstand im Departement Artibonite höchst ungelegen. Durch das gewaltsame Vorgehen der Polizei und der militanten, Schimären genannten Aristide-Gefolgsleute hatte sich der Lavalas-Chef immer weiter gesellschaftlich isoliert.

Aus Washington ist zwar noch immer Kritik am Führungsstil des haitianischen Staatschefs zu hören. Aber Präsident George W. Bush hat durch seinen Außenminister Colin Powell in der vergangenen Woche bereits erklären lassen, die USA würden nicht intervenieren, schließlich sei Aristide der gewählte Präsident.

Auch die Europäische Union hat kein Interesse daran, sich in dem Karibikland eine blutige Nase zu holen.

Opposition geht auf Distanz

Seit Wochen finden Demonstrationen statt, zu denen Tausende strömen, um in Sprechchören zu fordern »Es ist genug Blut geflossen, weg mit Aristide«. Von dem bewaffneten Aufstand in Gonaïves haben sich die Sprecher des Oppositionsbündnisses, »Demokratische Übereinkunft«, und der »Gruppe der 184«, dem Unternehmerverbände ebenso angehören wie Feministinnen, deshalb auch einmütig distanziert.

»Mit der Front haben wir nichts zu tun. Wir lehnen Gewalt ab«, sagte Gérard Pierre-Charles, einer der Sprecher der Convergence. Der einstige Weggefährte des ehemaligen Armenpriesters Aristide rief zum gewaltlosen Widerstand gegen den Staatschef auf. Die demokratische Opposition werde so lange täglich demonstrieren, bis Jean-Bertrand Aristide endlich zurücktrete, sagt Pierre-Charles.

Marktfrauen bieten an der Hauptverkehrsstraße, die Port-au-Prince mit der in den Bergen gelegenen Kleinstadt Petionville verbindet, in großen Flechtkörben Tomaten, Apfelsinen, Bohnen und Reis an. In den buntbemalten, Tap-tap genannten öffentlichen Verkehrsmitteln drängen sich die Menschen. Auf dem Zentralplatz von Petionville strömen derweil Tausende zusammen, um für den Rücktritt des ehemaligen Salesianerpriesters Aristide zu demonstrieren.

Seit Stunden geht das Gerücht um, dass seine Frau mit den Kindern das Land bereits verlassen habe. Das ist der Abgesang auf den ungeliebten Staatschef, hoffen viele. Aber dieses Gerücht ist schon zu häufig aufgetaucht, als dass es bei der aus allen Erdteilen zusammengeströmten Presseschar noch für Aufregung sorgen würde.

Auch in Haiti ist die alte Volksweisheit bekannt, wonach Totgesagte länger leben.