Putins Souffleure

»Russische Seele« und autoritärer Staat von wladimir n. popow

Die Analyse fällt wenig schmeichelhaft aus. In seinem Artikel »Putin and the Clans« skizziert Professor Alexander Lukin die gesellschaftlichen Veränderungen unter Wladimir Putin, dem Geheimdienst-Präsidenten. »Von der sowjetischen politischen Kultur erbten die post-sowjetischen Clans die Idee des politischen Wettbewerbs als Prozess der Etablierung absoluter Macht und begannen den Kampf um die Kontrolle aller verfügbaren Ressourcen«, schreibt Lukin. »Doch unter Jelzin hatte der Kreml, der der einflussreichste aller Clans geworden war, keine Ansprüche auf die absolute Macht und zog es vor, die Rolle des Schiedsrichters zwischen rivalisierenden Clans zu spielen und von Zeit zu Zeit ihre Unterstützung zu suchen.« Heute aber sei es das vorrangige Ziel des Kreml, »das Clansystem an die Kandare zu nehmen« sowie »die Macht der zentralisierten Bürokratie wieder herzustellen«. Und weiter: »Um dies zu erreichen, begann das Regime den andauernden Kampf mit den Clans und das schrittweise Aufzwingen direkter Kontrolle durch den Kreml. Das Programm des Präsidenten beinhaltet: Wiederherstellung der Kontrolle in Tschetschenien (der halsstarrigste der territorialen Clans) und in den Regionen; den Firmenimperien von Vladimir Gussinsky und Boris Beresowski (die unabhängigsten ökonomischen Clans) einen Schlag zu versetzen, ebenso wie dem Imperium von Michail Chodorkowsky (der ›außer Kontrolle‹ geriet); und die Ausrottung aller unabhängigen politischen Parteien (politische Clans).« Der Zweck des ganzen: einen mächtigen zentralisierten Staatsapparat zu schaffen.

Kurz: Nachdem der russische Pseudosozialismus Warenproduktion und Lohnarbeit gesellschaftlich durchgesetzt hatte und dann offiziell den Löffel abgab, scheint sich die nunmehr etablierte kapitalistische Produktionsweise mit dem »asiatischen Despotismus« zu vermählen.

Und es fehlt nicht an russischen Dichtern und Denkern, die die ideologische Begleitmusik zu dieser verhängnisvollen gesellschaftlichen Entwicklung liefern – mit einem Griff in die Mottenkiste der politischen Romantik. Vermehrt tauchen in ihren Beiträgen wieder die »russische Seele« und das »russische Wesen« auf, nachdem sie gut 100 Jahre in den Mülleimern der Geschichte vor sich hin rotteten. So wurde kürzlich in der NZZ I.P. Smirnow, Soziologe an der Moskauer Staatsuniversität, zitiert, der »in einem Grundsatzbeitrag die ›Eigenarten russischen Denkens‹ auflistet«. Darunter die »Priorität geistiger vor materiellen Werten bei der Deutung des Menschen, der Geschichte, der Wirtschaft« und die »Ablehnung der hedonistischen Auffassung des Menschen als Subjekt der Geschichte«.

Einen Schritt weiter geht demnach M.M. Mtschedlowa, die einen Beitrag für das Handbuch zur »Russländischen Zivilisation« verfasste. Die »russische Seele« erscheint hier als »Mentalität« und stellt »unabhängig vom Eigenleben des Individuums eine Realität kollektiver Ordnung« dar. Ihre Besonderheiten sind unter anderem: »Vorrang moralischer Komponenten«, »bestimmender Einfluss des religiösen Faktors« sowie eine besondere Anhänglichkeit an »eine aktive Rolle des Staates«. Niemand braucht sich folglich zu wundern, dass unter den Bewohnern Russlands die Forderung nach einem »starken Machtgefüge« sich breit macht.

Putin mit seinem autoritären Drive erscheint in dieser Sichtweise als Exekutor der Forderungen der »russischen Seele« – einer quasi-natürlichen, keineswegs gesellschaftlich bedingten und deshalb unveränderlichen Essenz. Die Natur verschafft sich ihr Recht. Und eine schönere Legitimation für den autoritären Staat ist kaum vorstellbar.