Unmut in Unmikistan

Fünf Jahre nach dem Beginn der Militärintervention gegen Jugoslawien ist keines der Nato-Kriegsziele erreicht worden. Von Markus Bickel

Die Rollenverteilung war von Anfang an klar. »80 Prozent unserer Vorstellungen werden einfach durchgepeitscht«, erklärte der EU-Verhandlungsführer Wolfgang Petritsch vor dem Beginn der Kosovo-Konferenz im französischen Jagdschloss Rambouillet. Gemeinsam mit dem US-Diplomaten Christopher Hill und Russlands Vizeaußenminister Boris Majorski fungierte Österreichs heutiger Botschafter bei den Vereinten Nationen in Genf als Vermittler zwischen jugoslawischen und kosovo-albanischen Delegierten, die hier, am Stadtrand von Paris, nach fast einem Jahr militärischer Auseinandersetzungen in der südserbischen Provinz zum vorerst letzten Mal zu Gesprächen zusammenkommen sollten.

Wahrscheinlich wusste Petritsch im Winter 1999 selbst noch nicht genau, wie Recht er nur kurze Zeit später mit seinen Worten behalten würde: »Am Schluss wird es sicher hart auf hart kommen, und das Endergebnis wird wohl ein Diktat sein«, sagte er Anfang Februar 1999 der Belgrader Spiegel-Korrespondentin Renate Flottau. »Die Serben werden fauchen. Aber eines garantiere ich: Vor Ende April wird der Kosovo-Konflikt entweder formal gelöst sein, oder die Nato bombardiert.«

Diktat des Westens

Nach dem Scheitern der Verhandlungen am 23. Februar dauerte es sogar nur noch vier Wochen, bis die ersten Kampfflieger der Nato am Himmel über Belgrad, Novi Sad und Nis auftauchten. Zwar luden die Mitglieder der Kontaktgruppe – USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Russland und China – die beiden Konfliktparteien Mitte März erneut zu Gesprächen nach Paris ein, um auf diplomatischem Weg eine Klärung der Statusfrage der damals noch zu zehn Prozent von Kosovo-Serben besiedelten Provinz zu erzwingen. Doch lediglich die vom Chef der Kosovo-Befreiungsarmee UCK, Hashim Thaci, geführte Delegation aus Pristina stimmte dem Vertragsentwurf zu. Und das, obwohl nicht die von der UCK geforderte Unabhängigkeit der Provinz von Belgrad, sondern nur eine »substanzielle Autonomie« des Kosovo innerhalb Jugoslawiens vorgesehen war.

Die Belgrader Gesandten hingegen lehnten den Entwurf ab – nicht zuletzt wegen des im April 1999 bekannt gewordenen Annex B, der den Nato-Truppen Bewegungsfreiheit auf dem ganzen Territorium Jugoslawiens eingeräumt hätte. Eine Forderung, die selbst nach dem Ende des 78tägigen Bombardements nie wieder erhoben wurde – was zeigt, wie wenig die westliche Seite wirklich an einer Lösung des Konflikts interessiert war.

»Wir legen die Latte bewusst so hoch, dass die Serben sie nicht überspringen können«, zitierte die taz seinerzeit einen hochrangigen Vertreter des US-Außenministeriums. Niederschlag fand das von Petritsch im Februar vor fünf Jahren prophezeite »Diktat« schließlich in der Resolution 1244 des Uno-Sicherheitsrats, der am 10. Juni 1999 weite Teile des Rambouillet-Entwurfs übernahm. Neben der Einrichtung einer von den Vereinten Nationen geführten internationalen Übergangsverwaltung für das Kosovo (Unmik) tauchte hier auch die bis heute gültige Formel einer »substanziellen Autonomie«der Provinz innerhalb Jugoslawiens wieder auf.

Nachdem Jugoslawiens Präsident Slobodan Milosevic bereits im Oktober 1998 der Stationierung einer unbewaffneten Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) im Kosovo zugestimmt und damit die internationale Dimension des Konflikts anerkannt hatte, stellte die Entsendung von mehr als 50 000 zum Großteil aus Nato-Staaten stammenden Soldaten der Kosovo-Schutztruppe (Kfor) und einer ganzen Armada von Uno-Beamten so gesehen keinen Präzedenzfall mehr dar. Zwar musste Milosevic im Waffenstillstandsabkommen mit dem Nordatlantikpakt dem Abzug serbischer Polizeieinheiten und jugoslawischer Truppenverbände zustimmen, doch bis heute gehört das Kosovo völkerrechtlich zum Staatsverband Serbien-Montenegro, dem Rechtsnachfolger Jugoslawiens.

Eine Rückkehr der damals abgezogenen Soldaten in das Protektorat ist zumindest theoretisch nicht ausgeschlossen und gehört zur gängigen Forderung nationalchauvinistischer Poliker in Belgrad, vor allem der Sozialistischen Partei Milosevics und der Radikalen Partei Vojislav Seseljs. Dass es ausgerechnet Anhänger jener beiden Männer sind, die zur Zeit des Waffenstillstandes die Regierung bildeten und heute vor dem Uno-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien wegen ihrer wenig rühmlichen Rolle während des Kosovo-Krieges angeklagt sind, spricht für die Doppelmoral des rot-braunen Bündnisses.

Große Teile des Establishments in Belgrad hingegen haben sich knapp fünf Jahre nach der in Resolution 1244 vereinbarten Installierung der Unmik-Übergangsverwaltung längst mit dem Verlust des Kosovo abgefunden. »Der Punkt ist nicht, dass Belgrad darüber nachdenken sollte, eine wie auch immer geartete Kontrolle über das Kosovo zurückzuerlangen«, erklärte etwa der Vorsitzende der neoliberalen Partei G47Plus, Miroljub Labus, im vergangenen Herbst der Jungle World. »Diese Zeiten sind vorbei.« Den realpolitisch orientierten Kräften in Serbien geht es nur noch darum, den politischen Preis für die Aufgabe der Region möglichst in die Höhe zu treiben.

Macht und Terror im Kosovo

So ist es aus Belgrader Sicht sicherlich als Erfolg zu werten, dass eine Abspaltung des Kosovo bis heute verhindert werden konnte. Sehr zum Ärger der kosovo-albanischen Führungskräfte. Neben dem ehemaligen UCK-Chef Thaci, der heute der Demokratischen Partei des Kosovo (PDK) vorsitzt, sind das in erster Linie Präsident Ibrahim Rugova von der Demokratischen Liga des Kosovo (LDK) und Ramush Haradinaj, ein weiterer Ex-UCK-Führungskader, der nach dem Krieg zum Vorsitzenden der Allianz für die Zukunft des Kosovo (AAK) avancierte. Zwar konnten sie vor der Entscheidung über den Inhalt der Sicherheitsratsresolution 1244 durchsetzen, dass ihre Kämpfer nicht vollständig entwaffnet, sondern zum Teil in das knapp 6 000 Mann starke Kosovo-Schutzkorps (KPC) übernommen wurden. Das ursprüngliche Ziel einer vollständigen Sezession von Jugoslawien und der Aufstellung einer eigenständigen Armee brachte die Nato-Intervention ihnen jedoch nicht.

Auf informellem Wege gelang den ehemaligen UCKlern die Sicherung der wichtigsten Posten in der Provinz mit zwei Millionen Einwohnern allerdings sehr schnell. Denn als die serbischen Truppen im Juni 1999 von dort abzogen und die ersten weißen Unmik-Jeeps sowie Kfor-Panzer nur zögerlich eintrafen, kam es zunächst zu einem Machtvakuum, das die Uniformierten mit dem roten Adler auf den Oberarmen zu nutzen wussten. Auf lokaler Ebene gründeten sie eigene Polizeikräfte, setzten Bürgermeister ein und errichteten Straßenkontrollen. Unmik und Kfor konnten dem Treiben anfangs nur zusehen.

Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen war die Uno erst kurz vor dem Ende des Krieges mit dieser Mission betraut worden. Hinzu kommen das Durcheinander konkurrierender Regierungs- und Nichtregierungsorgansiationen, ungenaue Kompetenzabgrenzung, Rivalitäten und Friktionen zwischen den einzelnen Behörden. Allein die Unmik-Struktur umfasst vier so genannte Pfeiler, die vom Aufbau eines neuen Justizsystems und der internationalen Polizei (Pfeiler 1) über den zivilen Wiederaufbau (Pfeiler 2), Demokratisierung und Wahlen (Pfeiler 3) bis zum wirtschaftlichen Wiederaufbau (Pfeiler 4) reichen. So brauchte die Uno einige Zeit, bis sie handlungsfähig war. Die Kfor-Einheiten, die die Lücke zu füllen versuchten, waren für Polizeiaufgaben nicht ausgebildet.

Noch vier Jahre nach der Machtergreifung von unten konstatierte Veton Surroi, der Herausgeber der kosovo-albanischen Tageszeitung Koha Ditore in einem als Warnung an die Besatzungsmächte im Irak formulierten Gastbeitrag für die Welt: »Im Kosovo entwickelte sich in den Nachkriegsjahren eine regelrechte Unkultur der Korruption und der organisierten Kriminalität mit politischen Verbindungen. Bis heute geben Politiker den Ton an, die andere mit physischer Gewalt einschüchtern. Sie gebieten über eine sozialistische Wirtschaft mit radikalkaptalistischen Zügen. Spöttisch nennen wir Kosovaren unser Land Unmikistan, in Anspielung auf die Abkürzung Unmik für die UN-Mission im Kosovo.«

Erstes Opfer der neuen Herren in den von den Beamten des ancien regime geräumten Bürgermeisterämtern und Polizeistuben waren die verbliebenen kosovo-serbischen Bewohner der Provinz sowie Mitglieder anderer Minderheiten. 234 000 nach Serbien oder Montenegro geflohene Flüchtlinge zählte das jugoslawische Rote Kreuz bis Dezember 1999. Schätzungen von Hilfsorganisationen zufolge sind heute nur noch knapp 100 000 Menschen der am schnellsten wachsenden Bevölkerung Europas keine Kosovo-Albaner, sondern Roma, Ägypter, Türken oder eben Serben.

»Kosovo – gesehen und erzählt«, lautet der Titel eines zweiteiligen Berichts, den die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) Ende 1999 vorlegte. Der erste Teil umfasst die Zeit vom Beginn der zwischen Milosevic und dem US-Sondergesandten Richard Holbrooke im Oktober 1998 vereinbarten OSZE-Mission bis zum Ende des Nato-Bombardements im Sommer 1999. Im zweiten werden die Begründungen, mit der das westliche Angriffsbündnis seine Intervention legitimierte, gründlich blamiert. Allein 150 Morde in der Zeit vom 12. Juni, dem Tag des Kfor-Einmarschs, bis zum 31. Oktober listet der Bericht auf. Die Dokumentation der »auf einem ethnischen Hintergrund beruhenden« Menschenrechtsverletzungen erstreckt sich über 135 Seiten und »weckt Erinnerungen an die schlimmsten Praktiken aus der jüngsten Vergangenheit des Kosovo«.

Durchschlagender als die Kosovo-Albaner jedenfalls hätte das westliche Bündnis die Befreiung von jugoslawischen und serbischen Sicherheitskräften, die bis zum Sommer 1999 mit unbestreitbar harter Hand die Herrschaft Belgrads in der Provinz durchsetzten – mehr als 200 000 Bewohner flohen bereits 1998 in der ersten Phase des Krieges nach Montenegro oder Mazedonien –, nicht organisieren können. Auch wenn die ehemaligen Soldaten der Kosovo-Armee UCK offiziell nicht mehr auftreten dürfen, halten sie außerhalb der Kontrolle von Kfor und Uno den kosovo-albanischen Kriegskonsens aufrecht: Das Kosovo muss unabhängig werden.

Neben- statt Miteinander

»Wir haben nicht erreicht, dass es keine Verbrechen hier gibt«, räumte Tom Koenigs, der erste für den Aufbau ziviler Strukturen verantwortliche Uno-Verwalter und langjährige Kampfgefährte von Außenminister Joschka Fischer, nach sechs Monaten Unmik-Herrschaft zum Jahreswechsel 1999 / 2000 ungewohnt kritisch ein. Nur um die Nato-Intervention gegen Jugoslawien doch noch zu rechtfertigen: »Es ist ja nicht so, dass nichts passiert wäre, wenn die Nato nicht eingegriffen hätte.« Auch Fischer hielt ein halbes Jahr nach dem Ende des ersten Krieges mit rot-grüner Beteiligung an der Legitimation fest. Berlin werde weiter für ein »friedliches, stabiles und multi-ethnisches Kosovo« eintreten.

Lediglich Koenigs’ Vorgesetzter, der Unmik-Leiter Bernard Kouchner, zog schon Ende 1999 die Konsequenzen aus den verheerenden Erfahrungen des ersten halben Jahres internationaler Protektoratsherrschaft: »Versöhnung und der Aufbau einer multi-ethnischen Gesellschaft sind heute nicht möglich, sondern müssen auf ein Morgen warten.« War das Kriegsziel nicht errreicht? »Die Intervention der Nato im Kosovo sollte eine Minderheit – die Albaner – und die Menschenrechte der Unterdrückten und Verletzbaren schützen. Unsere Anstrengungen, dies auch für die heutigen Minderheiten – insbesondere die Serben – zu machen, sind teilweise gescheitert.« Künftig, so Kouchner, werde man sich eher an einem »Nebeneinander der Volksgruppen« orientieren.

Der wegen seiner pazifistischen Haltung bis zum Beginn der Kämpfe zwischen jugoslawischen Truppen und UCK-Kämpfern als »Kosovo-Gandhi« titulierte Präsident Rugova brachte den Minimalkonsens der von persönlichen und politischen Rivalitäten zersplitterten kosovo-albanischen Führung in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vor einem halben Jahr folgendermaßen auf den Punkt: »Wenn nicht bald ein unabhängiges Kosovo anerkannt wird, werden extremistische Kräfte fordern, alle Albaner auf dem Balkan in einem einzigen Staat zu vereinigen. Das wäre ein neues Problem.«

Ein Verweis, der mit der Entstehung der UCK-Nachfolgeorganisation Albanische Nationalarmee (AKSh) vor rund anderthalb Jahren noch so manchen europäischen Außenpolitiker zu erhöhter Aufmerksamkeit für die Entwicklungen in dem Protektorat zwingen könnte. Unmik-Chef Michael Steiner, der im Juni des vergangenen Jahres vom Norweger Harri Holkeri abgelöst wurde, hatte die panalbanischen Separatisten bereits nach dem Anschlag auf eine Brücke im mehrheitlich serbisch besiedelten Norden als »terroristische Organisation« bezeichnet.

Doch vor allem in Washington stieß Steiners Verurteilung auf wenig Begeisterung. Eine allzu harsche Verurteilung der auf den Zusammenschluss aller albanischen Siedlungsgebiete von Griechenland im Süden über Albanien, Mazedonien, das Kosovo und Montenegro drängenden Truppe gilt hier als Hindernis für die Fortführung der bislang gut funktionieren Zusammenarbeit mit dem Kosovo-Schutzkorps KPC, dessen logistische Verbindungen zu der auf 200 Mann geschätzten AKSh seit längerem bekannt sind. Während die EU auf dem zivilen Charakter des UCK-Auffangbeckens beharrt, unterstützt die US-Regierung die Bestrebungen von KPC-Chef Agim Ceku, seine Einheit sukzessive in die Armee eines unabhängigen Kosovo umzuwandeln. Schon heute gleicht die 6 000 Mann starke Einheit vom Aufbau her der US-Nationalgarde.

Die Vorstellungen über die Zukunft des Protektorats gehen aber nicht nur beim Umgang mit den bis zum AKSh-Anschlag auf die Brücke im April des vergangenen Jahres in den USA ausgebildeten KPC-Führungskadern auseinander. Während man sich im Büro Javier Solanas, des Koordinators der EU-Außenpolitik, keinen schlimmeren Kandidaten als ein unabhängiges Kosovo für die möglicherweise schon 2010 anstehende südosteuropäische Erweiterungsrunde vorstellen kann, drängen US-Think Tanks spätestens seit dem Mord an Serbiens Premierminister Zoran Djindjic vor zwölf Monaten auf eine Klärung der Statusfrage.

Steiner hatte mit seiner Formel »Standards vor Status« – erst wenn im Kosovo Demokratie herrsche, könne über den künftigen Status der Provinz entschieden werden – lange Zeit erfolgreich versucht, das Drängen der kosovo-albanischen Eliten nach Unabhängigkeit zurückzuhalten. Kritisiert wurde der ehemalige Leiter der außenpolitischen Abteilung im Berliner Kanzleramt dennoch. So sei es nicht möglich, demokratische und wirtschaftliche Standards zu erreichen ohne eine vorherige Klärung des politischen Status. Dadurch werde erst recht Instabilität geschaffen.

Mit der Einberufung der von der Unmik geführten Kosovo-Konferenz von Wien, wo Delegierte aus Pristina und Belgrad im vergangenen Oktober zum ersten Mal seit Rambouillet wieder gemeinsam an einem Tisch saßen, dürfte sich diese Strategie erledigt haben. Steiner selbst hatte schon kurz vor seinem Abschied als Unmik-Chef angedeutet, dass bereits im Sommer 2004 eine Statusdiskussion im Sicherheitsrat beginnen könne. Diplomatische Kreise in Brüssel und Washington gehen nun davon aus, dass im Frühjahr 2005 über den künftigen Status der Provinz entschieden werden kann.

Protektorat ohne Grenzen

Wie der Übergang von der mit umfangreichen Sonderbefugnissen ausgestatteten Unmik-Herrschaft zu einer auch nur rudimentär parlamentarisch verfassten Demokratie geschafft werden soll, ist allerdings weiterhin unklar. Denn um die Umsetzung der von Steiner eingeforderten demokratischen und menschenrechtlichen Standards geht es auch in den in Wien vereinbarten Folgegesprächen zwischen Beamten aus Belgrad und Pristina bislang nur am Rande. Ebenso wie das Hauptproblem des Kosovo, die ungeklärte Statusfrage, sollen zunächst nur praktische Fragen wie die Regelung von Stromimporten oder die Einführung einheitlicher Nummernschilder in allen Teilen des Protektorats besprochen werden.

Zwar wurden im November 2001 erstmals Parlamentswahlen abgehalten, sodass es seit März 2002 einen vom Parlament gewählten Regierungschef und einen Präsidenten gibt. Die von der OSZE organisierten Wahlen verliefen ohne größere Zwischenfälle, boykottiert wurden sie jedoch von der serbischen Minderheit. Letzte Instanz bleibt außerdem der von Uno-Generalsekretär Kofi Annan ernannte Chef der Unmik, dem laut Sicherheitsratsresolution 1244 das Recht zusteht, eigene Dekrete zu erlassen sowie Parlamentsentscheidungen aufzuheben. So untersagte Steiner dem Parlamentspräsidenten Nexhat Daci im Juni 2003 die Reise zum Westbalkan-Gipfel der EU in Thessaloniki, weil er gemeinsam mit der großen Mehrheit der Abgeordneten für die Unabhängigkeit der Provinz gestimmt hatte – ein Entscheidung, die nur die Vereinten Nationen treffen dürfen.

Auch der Jahresbericht von Amnesty International zeigt, wie weit die Provinz von der zu Beginn der Nato-Intervention versprochenen multiethnischen, demokratischen Zukunft entfernt ist. Wie die Kosovo-Albaner nach der Aufhebung ihres noch von Tito eingeräumten Autonomiestatus durch Milosevic 1989 sehen sich heute die serbischen Bewohner des Protektorats gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt. Aber auch den anderen nicht albanischen Einwohnern würden ihre »grundlegende Menschenrechte« verweigert sowie die Wahrnehmung »bürgerlicher, politischer, sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Rechte« vorenthalten, schrieb die Gefangenenhilfsorganisation im Frühjahr 2003 – also noch vor dem Beginn der Anschlagserie auf Bewohner der serbischen Enklaven im vergangenen Sommer. Weiter verschlechtert werde die Situation durch »fortdauernde Straflosigkeit« für die Täter. Eine Rückkehr der geflohenen Minderheiten, so das Fazit, scheine unter den gegebenen Bedingungen »unmöglich«.

Wirkliche Gründe zum Feiern gibt es also nicht, wenn in diesen Tagen in den Hauptstädten der Nato-Staaten an den Kriegsbeginn erinnert wird. Selbst Holkeris Stellvertreter, Jean-Christian Cady, musste das eingestehen, als er Ende Januar auf einer Konferenz zum Thema »Genozid« in Stockholm die Leistungen der internationalen Gemeinschaft und der Uno bei der Verhinderung von Vertreibungen hervorhob. »Im Sommer und Herbst 1999, als der Aufbau der vollen Peacekeeping-Präsenz noch nicht abgeschlossen war, kam es zu unzähligen interethnischen Übergriffen, und die Täter wurden zu Opfern.«