»Der Druck war groß«

Die finnische Pathologin Helena Ranta über das angebliche Massaker von Racak

Nicht nur für Joschka Fischer stellte der Tod von mehr als 40 Kosovo-Albanern im 25 Kilometer südlich der Provinzhaupt Pristina gelegenen Dorf Racak den »Wendepunkt« dar, wie er später der Zeit gestand. Auch US-Präsident Bill Clinton sah nach dem Fund der Leichen am 16. Januar 1999 das Ende der Verhandlungen mit Jugoslawiens Präsident Slobodan Milosevic gekommen: »Das Massaker ist eine klare Verletzung der Verpflichtungen, die serbische Stellen gegenüber der Nato eingegangen sind.« Kurz darauf fasste das westliche Militärbündnis den Beschluss, eine Militärintervention vorzubereiten. Die 6. US-Flotte verlegte den Flugzeugträger »Enterprise« nach Brindisi, zugleich wurden die Flugzeuge des Nato-Kommandos Süd in der Adria zusammengezogen.

Doch auch ein halbes Jahrzehnt nach den für die Legitimierung des Nato-Krieges gegen Jugoslawien so wichtigen Vorkommnissen in Racak ist der Tathergang weiterhin ungeklärt. Zum fünften Jahrestag des Kriegsbeginns sprach die Jungle World erneut mit Helena Ranta, Pathologin und damalige Leiterin der EU-Racak-Untersuchungsmission, die schon früh auf zahlreiche Widersprüche hinwies und von ihren damaligen Vorwürfen nichts zurücknehmen will.

Fünf Jahre nach dem angeblichen Massaker von Racak sind die Vorkommnisse vom Januar 1999 inzwischen auch vor dem Uno-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag verhandelt worden. Müssen Sie Ihre damals geäußerte Ansicht revidieren, dass es sich bei den Getöteten nicht um Opfer eines von serbischen Soldaten verübten Massakers an Zivilisten gehandelt habe?

Nein. Ich würde den Begriff »Massaker« weiterhin nicht verwenden, weil er bislang ungeklärte rechtliche Implikationen enthält, die ich als Leiterin des forensischen Teams der EU nicht bewerten kann. Aus diesem Grund würde ich die abschließende Beurteilung des Falls auch gerne dem Haager Kriegsverbrechertribunal überlassen. Schließlich gibt es mehr Beweise als die, die unser Team in der Lage war zusammenzutragen. Außerdem dürfen Sie nicht vergessen, dass wir erst eine Woche nach dem Fund der Leichen nach Racak kamen. Was in dieser Zeit mit den Körpern passiert ist, lässt sich im Nachhinein kaum noch nachvollziehen. Wertvolle Informationen an der Fundstelle können verloren gegangen sein.

Haben Sie den Eindruck, dass das Haager Tribunal alle zur Verfügung stehenden Beweise in Betracht gezogen hat? Die Anklageschrift basiert schließlich weitgehend auf dem vom Leiter der OSZE-Verifizierungsmission, William Walker, überlieferten Tathergang.

Wenn Botschafter Walker sagt, dass es sich in Racak um ein Massaker gehandelt habe, hat diese Aussage keinerlei rechtliche Wirkung. Ich habe schon damals erklärt, dass die OSZE-Beobachter sämtliche Schritte, die man bei der Sicherung eines Tatorts normalerweise erwartet, vergessen haben: die Isolierung des Geländes etwa, den Ausschluss unautorisierter Personen sowie das Einsammeln aller Beweisstücke. In Racak ist nichts davon geschehen – oder aber auf unsachgemäße Weise.

In der Anklageschrift gegen Slobodan Milosevic ist von 45 Toten die Rede, die in Racak und am Dorfrand entdeckt wurden. Warum hat Ihr Team nur 40 Leichen obduziert?

Weil so viele Leichen in die Abteilung für forensische Medizin an der Universität Pristina gebracht wurden. Man kann davon ausgehen, dass die anderen gar nicht aus Racak kamen. Zumindest wurden sie nicht auf dem Friedhof außerhalb des Dorfes begraben. Aber es gibt noch ein weiteres ungelöstes Rätsel. Auf diesem Friedhof befinden sich 41 Gräber mit den Namen der Opfer, doch das letzte Grab ist leer. Dort sollte eigentlich die alte Frau begraben liegen, die Botschafter Walker in seinem Bericht aufführt. Ihr Leichnam wurde aber nie gefunden.

Insider in Pristina sagen, dass es neben den offiziellen OSZE-Fotos vom Tatort Bilder von zwei weiteren Fotografen gibt, die einige Stunden vor der Ankunft der OSZE-Beobachter geschossen wurden. Warum greift das Kriegsverbrechertribunal bei seiner Beurteilung des Falls auf diese Fotos nicht zurück?

Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. Eines der beiden – von UCK-Kämpfern aufgenommenen – Sets an Fotos ist ja schon vor langer Zeit der Öffentlichkeit präsentiert worden, doch ich finde, auch das zweite Paket sollte publik gemacht werden. Schließlich würde dadurch das Puzzle der Tatsachen um ein weiteres Stück ergänzt und wir kämen der Wahrheit, was wirklich in Racak passiert ist, wieder etwas näher.

Unterstützen die Bilder den schon kurz nach dem 16. Januar 1999 geäußerten Verdacht, dass die Leichen von der UCK präpariert wurden?

Was die 23 außerhalb des Dorfs gefundenen Männer anbelangt: nein. Diese sind sowohl von der Zahl als auch von der Lage identisch mit dem, was das OSZE-Team später am 16. Januar fotografiert hat. In Racak selbst zeigen die Bilder jedoch, dass mindestens einer der Körper bewegt wurde, dieser Leichnam ist auf den OSZE-Bildern nicht zu sehen.

Hatten Sie bei Ihrem Auftritt als Zeugin vor dem Uno-Kriegsverbrechertribunal im März des vergangenen Jahres das Gefühl, dass sich die Chefanklägerin Carla del Ponte nur für einen Teil ihrer Aussagen interessierte?

Da ich als Zeugin des Gerichts geladen war, konnten mich sowohl die Vertreter der Anklagebehörde wie der Angeklagte selbst ins Kreuzverhör nehmen. Erst danach präsentierten die Richter ihre Fragen. Deshalb glaube ich, dass wir inzwischen ein ziemlich klares Bild vom Tathergang am 15. Januar und in der Nacht danach haben und der Wahrheit recht nahe gekommen sind. Damit will ich aber nicht sagen, dass jemals wirklich herauskommen wird, was damals exakt passiert ist.

Der frühere UCK-Chef Hashim Thaci gab schon Anfang 2000 in einem Interview mit der BBC zu, dass in der Nacht vom 15. auf den 16. Januar in der Umgebung von Racak schwere Kämpfe stattfanden – mit zahlreichen serbischen Opfern. Warum ist das vor dem Tribunal kein Thema?

Leider werden wir die genaue Zahl der in dieser Nacht gefallenen Serben wohl nie erfahren. Auch wenn ich ihre Gräber nie besucht habe, weiß ich, dass die getöteten UCK-Kämpfer in der Nähe von Racak begraben wurden. Schon damals habe ich Informationen erhalten, die beweisen, dass eine ganze Reihe von serbischen Soldaten erschossen wurde. Sie müssten schon beim Tribunal selbst nachfragen, warum es sich für deren Zahl nicht interessiert.

Der deutsche Außenminister Joschka Fischer bezeichnete die Ereignisse von Racak später als »Wendepunkt« für seine Entscheidung, von Verhandlungen mit Milosevic abzurücken und stattdessen militärisch in Jugoslawien zu intervenieren. Auch für andere Regierungen gab das vermeintliche Massaker den Ausschlag für ihre Zustimmung zur Nato-Intervention, die nur eine Woche nach der Präsentation Ihrer vorläufigen Ergebnisse in Pristina begann. Würden Sie unter solchen Umständen erneut eine derartige Mission leiten?

Ich habe mein ganzes Leben lang als Staatsbedienstete gearbeitet und sehe es weiterhin als meine Pflicht an, einen Teil zur Enthüllung der Wahrheit beizutragen. Das hat sich nach Racak nicht geändert, und deshalb lautet die Antwort auch: Ja. Selbst wenn es Momente gab, in denen ich alles hinschmeißen wollte, vor allem verursacht durch die Medienberichterstattung und den Druck, der auf mein Team ausgeübt wurde.

Im Sommer 1999 sagten Sie in einem Interview, dass die Zeit nach dem Fund der Leichen von Racak politisch »sehr delikat« war und Sie erst eines späteren Tages »ganz offen darüber sprechen« könnten, was damals ablief. Sehen Sie sich heute in der Lage, offener über den Druck zu sprechen, den die deutsche Regierung als Inhaberin der EU-Ratspräsidentschaft damals auf sie ausgeübt hat?

Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals direktem Druck des Auswärtigen Amtes ausgesetzt gewesen zu sein, auch wenn ich meine Instruktionen von Botschafter Pauls erhalten habe – per Email, in Faxen, Telefonanrufen und bei einem persönlichen Treffen in Bonn direkt nach dem Ende der Rambouillet-Konferenz. Aber es war natürlich klar, dass eine ganze Reihe von Regierungen Interesse an einer Version der Ereignisse von Racak hatte, die allein die serbische Seite verantwortlich machte. Diese konnte ich ihnen aber nicht liefern.

Aber unmittelbar vor der viel zitierten Pressekonferenz in Pristina am 17. März muss doch Druck auf Sie ausgeübt worden sein?

Botschafter Pauls bat mich, eine schriftliche Stellungnahme vorzubereiten. Danach musste ich diese persönlichen Äußerungen William Walker zeigen, der offensichtlich alles andere als begeistert war, als er sie las. Ich stimmte der Teilnahme an der Pressekonferenz dennoch zu, bei der ich gemeinsam mit dem deutschen Botschafter in Belgrad und einem finnischen Diplomaten auf dem Podium saß. Ich hoffte, die beiden Herren würden mich unterstützen, aber das war leider nicht der Fall. Ich hatte eher das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein.

interview: markus bickel