Markieren und weh tun

Von Gummigeschossen über Hightech-Markierungsgewehre bis zu Elektroschockpistolen. Die technische Aufrüstung der Schweizer Polizei schreitet voran. von alexander fröhlich

Sie tragen den Namen »nicht tödliche Aufstandsbekämpfungswaffen« und zum ersten Mal wurden sie im März 2003 anlässlich einer Demonstration gegen die WTO in Genf eingesetzt. Nur ein »Zwischenfall« am Ende der Demo förderte zu Tage, dass die Genfer Stadtpolizei über ein neues Markierungssystem verfügt. Es handele sich nach Aussagen der Polizei um ein »Paintball-Gewehr«, das eine Farbkapsel aus Plastik und bröckeligem Metall verschießt. Von diesem neuen Spielzeug verspricht man sich, »Unruhestifter« von »guten« Demonstranten unterscheiden zu können. Und anscheinend auch schwer zu verletzen.

Zum ersten Opfer der neuen Waffe wurde am Tag der Demonstration gegen die WTO die Zentralsekretärin der Schweizer Mediengewerkschaft. Denise Chervet geriet auf dem Rückweg zum Bahnhof Cornavin in einen brutalen Polizeiangriff auf eine Gruppe jugendlicher Demonstranten und wurde von zwei Schüssen am Rücken und an der rechten Schläfe getroffen. Die Ärzte, die Denise Chervet im Krankenhaus ambulant behandelten, glaubten zunächst wie sie selbst, sie sei von einem Gummigeschoß verletzt worden. Vollkommen verdutzt waren sie daher, als sie Plastiksplitter, Farbreste und Metallstückchen aus ihrer Wunde bargen. Auf Nachfrage bei der Polizei, welche Waffe gegen Chervet eingesetzt wurde, erhielt man drei Tage lang keine Antwort. Dann versuchte die Genfer Stadtpolizei das Geschehene zu vertuschen. Man habe »keinerlei Kampfmittel eingesetzt, weder Tränengas, Mehrzweckstöcke noch Gummigeschosse«, hieß es. Als schließlich ans Licht kam, dass Chervet ihre Verletzung einem neuartigen Markierungsgewehr des Typs FN 303 zu verdanken hatte, musste der Genfer Polizeikommandant Christian Coquoz nicht zuletzt aufgrund des energischen Protests linker Abgeordneter des Genfer Stadtparlamentes zurücktreten.

Hätte es sich bei dem Opfer nicht um eine führende Gewerkschaftsvertreterin und ehemalige Großrätin der Sozialdemokratischen Partei gehandelt, wäre es sicherlich gelungen, den Fall unter den Teppich zu kehren. Stattdessen eröffnete Ende Februar die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen einen Hauptmann der Genfer Stadtpolizei, der für den Einsatz des Markierungsgewehrs verantwortlich war. Bemühungen der Anwältin des Opfers, auch eine Anklage des Beamten zu erreichen, der die Paintwaffe abfeuerte, scheiterten hingegen bislang, wie Frau Chervet der Jungle World mitteilte. Unklar bleibt, ob es überhaupt zu einem Gerichtsverfahren kommt.

Das Paintgewehr markiert den vorläufigen Höhepunkt eines drastischen Aufrüstungsprozesses, den die Schweizer Polizeibehörden seit der Zürcher Jugendrevolte von 1980 durchliefen. Zum polizeilichen Arsenal gehören heute Tränengas, Gummischrot und Schockgranaten – »Einsatzmittel«, von denen reger Gebrauch gemacht wird. Die Schweizer Polizei verfolge eine »sehr technische« Strategie bei Großdemonstrationen, sagt Heiner Busch vom Institut für Bürgerrechte und öffentliche Sicherheit. Die Einsatzschwelle für Gummischrot sei sehr niedrig. Seit den achtziger Jahren sind nach Angaben des Zürcher Anti-Repressionsprojekts Pig Brother elf Augenverluste durch Gummischrot dokumentiert, die Zahl derjenigen, die andere körperliche Langzeitschäden davontrugen, dürfte noch um einiges höher sein. Erst im Dezember 2003 erlitt ein Teilnehmer einer Protestdemonstration gegen eine öffentliche Militärfeier im Berner Eisstadion eine schwere Augenverletzung. Ein Berner Stadtpolizist feuerte damals aus wenigen Metern Entfernung Gummischrot auf das Opfer, dessen Sehfähigkeit sich infolgedessen auf dem linken Auge um 80 Prozent verringerte. Auch während der Proteste gegen das Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar trugen etliche Demonstranten heftige Verletzungen durch Gummischrot davon.

Laut Dienstvorschrift dürfen die Gewehre nur aus einer Distanz von 20 Metern und nicht auf Kopfhöhe abgefeuert werden. Diese Auflagen werden von den Beamten der kantonalen und der städtischen Polizei systematisch verletzt, ohne dass es je zu Strafverfahren gekommen wäre. Denn obwohl in den letzten zwanzig Jahren zahlreiche Anzeigen gegen Polizeibeamte wegen Unterschreitung der Mindestdistanz sowie Körperverletzung eingereicht wurden, kam es bisher noch nie zu einem Prozess, sondern allenfalls zu dem einen oder anderen Disziplinarverfahren. Allein in Zürich sind laut Pig Brother in den letzten drei Jahren drei Anzeigen im Zusammenhang mit Augenverlusten eingereicht worden – bis auf den heutigen Tag ohne Resultat. Wenn die Schweizer Presse über Opfer von Gummischrot berichtet, so werden deren Verletzungen oft in tendenziöser Weise als Folge der »Gewalt der Chaoten« dargestellt, und es wird das Bild einer hilflosen und überforderten Polizei gezeichnet, die in »Notwehr« handele.

Dabei ist noch nicht einmal klar, ob es sich bei der als »Gummischrot« bezeichneten Munition überhaupt um Gummischrot handelt. Die Schweizer Polizeibehörden geben bis heute keine Auskunft über die stoffliche Zusammensetzung ihrer »Gummigeschosse«. Forderungen nach einem Verbot sind jenseits der radikalen Linken selten zu hören und können auf keine Mehrheit unter den Kantons- oder den Bundespolitikern hoffen. So lehnte der Schweizer Nationalrat erst kürzlich einen von linken und grünen Abgeordneten des Schweizer Bundesparlaments aufgegriffenen Gesetzesvorschlag des Jugendparlamentes zum Verbot von Gummischrot und Tränengas bei polizeilichen Großeinsätzen ab. Die Gegner des Antrags monierten, die kantonalen Polizeieinheiten benötigten »Distanzwaffen« und der Bund solle sich gefälligst nicht in die Belange der Kantone einmischen.

Dass die Aufrüstung der Schweizer Polizei bei weitem noch nicht als abgeschlossen gelten kann, dokumentiert ein kürzlich bekannt gewordenes Vorhaben des Zürcher Stadtrates. Demnach sollen noch im Laufe dieses Jahres Beamte der Zürcher Stadtpolizei mit Elektroschockpistolen vom Typ Taser (Jungle World, 34/2002) ausgerüstet werden. Vorerst allerdings nur die Beamten der Sondereinheit »Skorpion«.