Radio Machete

Der Radiosender RTML lieferte die Legitimation für den Genozid und organisierte die Massaker im Stil einer Spielshow. von christiane reichart-burikukiye

Ferdinand Nahimana präsentierte sich dem Internationalen Völkermordtribunal im tansanischen Arusha als unschuldiger Gelehrter. Der ruandische Historiker und Journalist, der 1994 für den Radiosender Radio Television Libre des Milles Collines (RTML) gearbeitet hatte, bestritt jede Beteiligung am Genozid. Doch die Beweislast war erdrückend.

»Ohne Gewehr, Machete oder eine andere Waffe haben Sie den Tod Tausender unschuldiger Zivilisten verursacht«, begründete Richter Navanethem Pillay den Schuldspruch. Wegen Verbrechen an der Menschheit, Verschwörung, öffentlichen Aufrufs zum Massenmord und Mittäterschaft am Genozid wurde Nahimana im Dezember 2003 zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt.

Ferdinand Nahimana war Professor für Geschichte an der Universität von Kigali gewesen, seine Schriften wurden von angesehenen akademischen Verlagen in Afrika und Europa publiziert. Anfang der neunziger Jahre wurde er Leiter der ruandischen Nachrichtenagentur. Zu dieser Zeit herrschte nach dem Einmarsch der Ruandischen Patriotischen Front (RPF) eine politisch äußerst gespannte Atmosphäre. In den staatlich kontrollierten Medien verschärfte sich die Hetze gegen die Tutsi. Sie wurden als Inyenzi, Kakerlaken, und als Bedrohung für ganz Ruanda bezeichnet.

Ferdinand Nahimana war als Chef der Nachrichtenagentur maßgeblich an der ethnisierenden Polarisierung beteiligt. Zuerst tat er dies über Radio Ruanda, den staatlichen Radiosender. Als er nach Protesten der Opposition entlassen wurde, gründete er im Juli 1993 RTLM. Hilfreich zur Seite stand ihm das Staatsoberhaupt Ruandas, der Präsident Juvénal Habyarimana. Dieser hatte kurz zuvor im tansanischen Daressalam ein Abkommen unterschrieben, das ihn verpflichtete, jegliche Form von Hetze in staatlichen Medien zu unterbinden. Er benötigte dringend einen privaten Sender.

Bis dahin stand das Radio in Ruanda unter strenger staatlicher Kontrolle. Ökonomische Erfolgsmeldungen, moralische Belehrungen und Auskünfte über den Tagesablauf der regierenden Exzellenzen machten es angesichts der Wirklichkeit von Armut und Misserfolgen unglaubwürdig. Hinzu kam eine steife, formelle Sprache.

Radio Milles Collines wurde der erste zugelassene Privatsender Ruandas. Ausgestattet mit Mitarbeitern und dem Equipment des staatlichen Senders Radio Ruanda sowie mit Geldern extremistischer Hutu-Aktivisten, gewann er äußerst schnell eine erstaunliche Popularität. Die Programme verknüpften beliebte Musik und lockere Moderation nach westlichem Vorbild mit Hetzreden gegen Tutsi und oppositionelle Hutu.

Als am 6. April 1994 das Flugzeug mit dem ruandischen Präsidenten an Bord über Kigali abgeschossen wurde, gab Radio RTLM über den Äther den Startschuss zum »Genozid der 100 Tage«. Wohlwollend und triumphierend begleitete und kommentierte der Sender die Massaker. Namenslisten, Autokennzeichen und Adressen von Gesuchten wurden verlesen. Doch Radio RTLM war nicht nur ein technisches Instrument zur Koordination des Völkermordes. Vor allem lieferte es die Ideologie und die Legitimation für das Töten.

Eine beträchtliche Zahl von Beobachtern bescheinigte der ruandischen Gesellschaft die Etablierung einer neuen politischen Kultur jenseits ethnischer Denkschemata. Selbst Habyarimana propagierte offiziell eine Politik der nationalen Einheit. Es war eine propagandistische Vorbereitung nötig, um die Bevölkerung auf den geplanten Völkermord einzustimmen. Diese Aufgabe war RTLM zugedacht.

Der neue Programmstil des Senders erwies sich als sehr wirkungsvoll. Manche nannten ihn »Radio Machete«, aber jeder in Ruanda, so erzählten Zeugen vor Gericht, hörte ihn, Tutsi ebenso wie Hutu, Täter wie Opfer, Gegner wie Unterstützer des Regimes. Der Sender imitierte den Stil westlicher Talk-Radios, Hörer hatten die Möglichkeit, anzurufen, sich Musiktitel zu wünschen und in die Hetze gegen Tutsi einzustimmen. Sie blieben keine passiven Rezipienten mehr, das Radio ließ sie – zumindest scheinbar – teilhaben an seiner diskursiven Macht, ein Effekt, der es in einer Gesellschaft mit großen sozialen Unterschieden sehr beliebt machte. Das Radio zelebrierte eine Gemeinsamkeit zwischen den Hörern, und die Hörer ihrerseits nahmen die Möglichkeit wahr, sich über das Radio in den öffentlichen Diskurs einzuschalten und ihn mitzugestalten.

Die Moderatoren waren bekannt für ihren geistreichen Witz. Der ruandische Journalist Sixbert Musangamfura, ein Tutsi, berichtet: »Da war der berühmte Kantano Habimana. … Er fand immer Worte, um die Leute zum Lachen zu bringen, auch die, die ihn nicht mochten. Selbst während des Krieges kam man nicht umhin, ihm zuzuhören. Über mich sagte er zum Beispiel: ›Ich habe gerade erfahren, dass die Leute, die zu ihm gegangen sind, ihn nicht angetroffen haben. Wo könnte er sein? Sucht weiter das Viertel nach ihm ab.‹ Das sagte er auf eine komische Art, man hatte Lust darüber zu lachen, als wäre es ein Spiel. Ich wollte ihm weiter zuhören. Es war faszinierend.«

Eine Moderatorin ermutigte ihre Hörer, im Sender anzurufen und Verstecke von Tutsi zu verraten, die dann über den Äther bekannt gegeben wurden. So wurden die Massaker zu einer öffentlichen, medialen Spielshow, an der Hörer und Sender gemeinsam teilnahmen. Musangamfura erinnert sich: »Sie sagte: ›Ihr Jungen aus dem und dem Viertel, ihr seid wirklich sehr mutig. Ich habe die Arbeit gesehen, die ihr getan habt, ihr habt der ganzen Jugend als Vorbild gedient. Diese Leute mussten getötet werden, und ihr habt sie getötet. Der Vater durfte nicht durch eine Kugel in den Kopf getötet werden, man musste ihn in kleine Stücke schneiden.‹«

An dem Wechselspiel zwischen Tätern und dem Sender, zwischen Kommunikation und Handeln konnte jeder teilhaben, ganz im Gegensatz zu der zuvor von Habyarimana propagierten »nationalen Einheit«, der die Realität großer sozialer Unterschiede und Widersprüche entgegenstand.

Zugleich ließ der Sender das Geschichtsbild einer ethnisch getrennten Gesellschaft wieder auferstehen. Darin waren die Tutsi die eingewanderten Unterdrücker aus dem Norden, die Hutu die rechtmäßigen Besitzer des Landes, dies sich gegen eine erneute Unterwerfung zu verteidigen hatten. »Alle Hutu müssen jetzt verstehen: Man muss verhindern, wieder in das Unrechtssystem zu geraten, mit Zwangsarbeiten und Schikane, in die Zeit der Knechtschaft, als du einen Teil der Ernte dem Mwami (König) abgeben musstest, obwohl du selbst nichts hattest. Auf dass die Hutu verstehen und gegen die Inyenzi (Kakerlaken) kämpfen, gegen jene, die wollen, dass unser Land wieder in die Sklavenzeit zurückfällt.«

Diese ideologische Konstruktion ermöglichte es den Tätern, ihr Handeln in eine »revolutionäre« Tradition zu stellen, die ihnen nicht nur eine ethnische Identität wieder verlieh, sondern sie durch ihre Teilnahme an den Massakern zu Gestaltern der Geschichte selbst werden ließ. Zum Töten bedienten sich die Hutu-Extremisten primitiver Waffen, bei der systematischen Vorbereitung und Durchführung des Genozids aber bewiesen die Täter, dass sie nicht nur die Mechanismen der staatlichen Bürokratie und der internationalen Machtpolitik, sondern auch die modernsten zur Verfügung stehenden Kommunikationsmittel geschickt zu nutzen wussten.