Zehn Jahre Schweigen

Zwischen April und Juni 1994 wurden in Ruanda 800 000 Menschen ermordet. Bis heute wird der Genozid als ein typisch afrikanischer Konflikt gewertet. von alex veit
Von

Schweigen ist vielleicht die richtige und die falsche Geste zugleich, um der Opfer des Genozids in Ruanda vor zehn Jahren zu gedenken. Für den Mittwoch dieser Woche um zwölf Uhr der jeweiligen Ortszeit ruft der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, zu einer weltweiten Schweigeminute auf. Dies ist der erste Versuch der »Weltgemeinschaft« zu zeigen, dass das größte Verbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg nicht nur die Menschen in einem kleinen Land in der Mitte Afrikas angeht.

Annan hat die Gedenkminute auch mit einem persönlichen Bekenntnis zu den »Unterlassungssünden« von 1994 verknüpft, die den Genozid mit ermöglicht haben. Tatsächlich gibt es nicht die Worte, um der 800 000 Opfer angemessen zu gedenken. Es ist allerdings nicht schwer vorherzusehen, dass sich außerhalb Ruandas kaum jemand an Annans Schweigeminute beteiligen wird. Doch Schweigen zum Genozid ist ohnehin die vorherrschende Betätigung der weltweiten Öffentlichkeit vor, während und nach den Ereignissen in Ruanda von April bis Juni 1994 gewesen. Statt noch eine Minute zu schweigen, sollte endlich das Reden über eine fehlgeschlagene Moderne einsetzen, die solche Verbrechen ermöglicht.

Der Massenmord, an dem sich Hunderttausende einfache Bürger Ruandas als Täter beteiligten, ließ damals wegen seiner Grausamkeit und Geschwindigkeit den Atem stocken. Doch außerhalb Afrikas wurde das Morden in die gewohnte Wahrnehmung einer unablässigen Abfolge von archaischen »Stammeskriegen« auf dem Kontinent eingeordnet.

Der »Völkermord der hundert Tage« war jedoch, obwohl die Mordwerkzeuge meist einfache Macheten waren, eine äußerst moderne Angelegenheit, gekennzeichnet von einem professionellen Umgang der Täter mit einheimischen und fremden Medien, vorbereitet von einem staatlichen Apparat, eingebettet in internationale Machtpolitik und begleitet von einer sich wissenschaftlich gebenden Neuschreibung der Geschichte, die den Tätern Legitimation verlieh.

Als das Flugzeug des Hutu-Politikers und Präsidenten Juvénal Habyarimana am 6. April 1994 von einer Rakete getroffen über der Hauptstadt Kigali abstürzte und der Genozid begann, standen bereits überall im Land die Interahamwe-Milizen bereit. Die rechtsextremen Gruppen hatten in dem bereits vier Jahre dauernden Bürgerkrieg mit dem Slogan »Hutu Power!« bislang ungekannte Popularität erreicht. Ausgestattet mit Namenslisten der Opfer begannen sie, diejenigen Ruander zu töten, die sie wegen ihrer Tutsi-Herkunft verdächtigten, insgeheim die Rebellen der Ruandischen Patriotischen Front (RPF) des heutigen Präsidenten Paul Kagame zu unterstützen. Ebenfalls auf den Listen standen die Namen »moderater« Hutu, die für eine Gesellschaft ohne ethnisch definierte Gruppen eintraten. »Die Hutu sollten aufhören, Erbarmen mit den Tutsi zu haben«, lautete das achte der »zehn Hutu-Gebote«, die die extremistische Zeitung Kangura 1990 veröffentlichte.

Diejenigen Hutu, die sich nicht am Blutrausch der Interahamwe-Milizen und der staatlichen Armee beteiligen wollten, liefen Gefahr, selbst zu Opfern zu werden. Obwohl sich viele verweigerten, wurden die ruandischen Hutu so in den Augen der Génocidaires zu einer Gemeinschaft der Täter. Das Kalkül ging teilweise auf: Aus Furcht vor der Rache der RPF, die Anfang Juli 1994 den größten Teil des Landes eroberte und den Genozid beendete, flohen geschätzte zwei Millionen Hutu ins Nachbarland Zaire, die heutige Demokratische Republik Kongo.

Furcht vor den Extremisten war für viele Hutu vielleicht der wichtigste Antrieb, sich dem Morden anzuschließen. Viele Hutu hatten aber auch Angst vor der Errichtung einer Feudalherrschaft der von Tutsi dominierten RPF, in der die Hutu zu Leibeigenen und Besitzlosen gemacht werden würden. Dieses Szenario verbreiteten ruandische Medien zwischen 1990 und 1994. Sie erfanden eine vorkoloniale Vergangenheit, in der alle Hutu von allen Tutsi unterdrückt worden seien, und garnierten diese Lehre mit dem Mythos der Tutsi als ausländischen Eroberern. Damit griffen sie ein Bild von der Vergangenheit auf, dass deutsche Wissenschaftler zu Beginn der Kolonialzeit entwickelt hatten.

Die Kolonialherren aus dem Kaiserreich waren von dem straff organisierten Königreich fasziniert, das sie im heutigen Süden des Landes vorfanden. Noch erstaunlicher fanden sie, dass sich »die ureingesessene Negerbevölkerung überall deutlich von den herrschenden Tutsi« anhand körperlicher Merkmale unterscheiden ließ, wie Gustaf Graf von Götzen, der spätere Gouverneur von Deutsch-Ostafrika, 1897 annahm. Die Deutschen, die zur selben Zeit an einem Reinheitsmythos der eigenen Nation bastelten, suchten nach der Herkunft der Tutsi, des möglicherweise mit ihnen verwandten »Herrenvolks«.

Ethnologen und Historiker erklärten, die Tutsi seien als Viehzüchter im 15. Jahrhundert aus dem Norden eingewandert und beherrschten seitdem die Hutu-Ackerbauern. Dass es auch besitzlose Tutsi gab, die niemanden beherrschten, dass eine Jahrhunderte lange Praxis von Mischehen und eine gemeinsame Sprache und Kultur die Trennung zwischen Tutsi und Hutu fragwürdig machten, wurde hingegen ignoriert.

Aufgrund dieses Geschichtsmythos wurden die Tutsi-Aristokraten jahrzehntelang im Bildungssystem und bei der Vergabe von Ämtern bevorzugt. In den dreißiger Jahren führten die belgischen Nachfolger der deutschen Kolonialherren schließlich Pässe ein, in denen die ethnische Herkunft festgeschrieben wurde. Fortan vererbten Väter ihre »ethnische« Herkunft an ihre Kinder. Vor zehn Jahren entschied die Eintragung im Pass an den Straßensperren der Génocidaires über Leben und Tod.

1959, am Vorabend der Unabhängigkeit, kamen im Zuge von Unruhen 20 000 Tutsi um. Nach dieser sogenannten »sozialen Revolution« wurde die Regierung von Hutu-Politikern übernommen. Der Slogan »Hutu Power!« von 1994 war angelehnt an den Slogan »Hutu Nation!« von 1959, der die Tutsi als Ausländer von der ruandischen Nation ausschloss. Im Zuge der »Revolution« flohen viele Tutsi nach Uganda, und da es bei jeder politischen Krise zu neuen Pogromen kam, stieg die Zahl der Flüchtlinge in Uganda immer weiter. Diese Flüchtlinge organisierten sich in der RPF, die 1990 in Ruanda einmarschierte, um ihre Rückkehr zu erkämpfen.

Der um seine Macht fürchtende Präsident Juvénal Habyarimana nahm die Hutu-Extremisten in die Regierung auf, um seine Basis zu stärken. Die im Land lebenden Tutsi wurden in diesem Krieg zwischen der RPF und der Regierungsarmee zum inneren Feind erklärt. »Wir, das Volk, sind verpflichtet, selbst Verantwortung zu übernehmen und diesen Schmutz auszurotten. Egal was ihr tut, lasst sie nicht entkommen«, erklärte der heute in Kanada lebende Hutu-Power-Ideologe Léon Mugesera 1992 in einer Rede.

Die planmäßige Vorbereitung des Genozids – die Erstellung von Todeslisten, die Organisierung von Milizen und die Vernichtungspropaganda in den Medien – war seit Anfang der neunziger Jahre allen bekannt, die nicht bewusst zur anderen Seite schauten. Dennoch zwang die Uno die im Rahmen eines fragilen »Friedensabkommens« zwischen der Regierung und der RPF seit 1993 in Ruanda stationierten Blauhelme zur Untätigkeit und reduzierte ihre Truppenstärke.

Die Hintergründe der damaligen Entscheidungen wurden nie angemessen debattiert. Zehn Jahre später dominiert eine Sichtweise, die es als schlichte »Unterlassungssünde« qualifiziert, bewusst hunderttausende Menschen schutzlos ihren Mördern auszuliefern, und die den Genozid nicht als Verbrechen an der Menschheit, sondern als eine jenseits der Geschichte des 20. Jahrhunderts einzuordnende afrikanische Angelegenheit wertet.