Ist doch alles supergut

Wolfgang Pohrt revidiert alte Thesen: Es gibt in Deutschland keinen Rassismus und keinen Antisemitismus, und Nazis sind blöde. von kolja lindner

Die Überraschung war groß, als Wolfgang Pohrt, in den achtziger und frühen neunziger Jahren gestandener Kritiker der bundesrepublikanischen Linken, vor gut einem halben Jahr auf einer Podiumsdiskussion in Berlin verkündete, dass das wiedervereinigte Deutschland sich mittlerweile als Farce eines Nationalstaats entpuppt habe. »Gestehen muss ich folglich, dass ich derzeit nicht in der Lage bin, irgendetwas hervorstechend Fremdenfeindliches oder Antisemitisches zu erkennen, das aus der Tiefe der deutschen Seele kommen und sich dort aus ergiebigen Quellen speisen würde«, erklärte Pohrt in seinem Referat, das den Auftakt eines nun unter dem Titel »FAQ« erschienenen Buches bildet.

Die Texte des Bandes sind im Stil von Gesprächen mit Fragen und Antworten gehalten; daher der Titel des Bandes, FAQ, die Abkürzung für Frequently Asked Questions. Einige der bereits in konkret veröffentlichten fiktiven Interviews verkündeten seine Einschätzung, Deutschland sei bedeutungslos und der Nationalstaat sei ohnehin historisch überholt. Da ist es nur konsequent, wenn Pohrt seinen Ärger über frühere Texte bekundet, die »geholfen haben, dieses komische Antideutschtum mit Argumenten zu versorgen, das sich heute als ideologische Schutzmacht der USA aufspielt«.

Wie aber ist Pohrt »Vordenker der Antideutschen« geworden, wie es oft heißt? Pohrt antwortet: Neben einer natürlichen »Affinität zur Programmatik«, die einige Texte von früher besäßen, seien es schlichtweg Fehler gewesen: »Ich jedenfalls habe damals 1989ff. in den Kategorien von 1933 interpretiert – ich hatte keine anderen. Damals war es ein Irrtum, heute ist daraus Ideologie geworden.« In der Ideologie jedoch stellt sich Pohrts »Theorie des Gebrauchswerts« zufolge »das Subjekt für sein Bewusstsein eine Relation zur Realität her, die es aufgrund von deren wirklicher Beschaffenheit nicht geben kann«, und so ist der ehemals Antideutsche aus Süddeutschland nun gezwungen, das Offensichtliche zu nivellieren: Walser und Möllemann – läppisch! Probleme von Nichtdeutschen und Westdeutschen in Mecklenburg-Vorpommern – gleichfalls! Rostock-Lichtenhagen – nur ein Zeichen staatlicher Handlungsschwäche!

Dabei will Pohrt ausgerechnet mit Zahlen des Innenministeriums zeigen, dass die Fremdenfeindlichkeit hierzulande abnehme und die Regierenden sie nur noch zum Zwecke von Abgrenzung und Konstruktion des eigenen moralischen Nimbus herbeiredeten. Schließlich würden Rassisten und Antisemiten für den »Übergang in eine neue Zeit« gebraucht, in der man Arme, Alte und Arbeitslose beklaue. Dies sind für Pohrt die »wirklichen Probleme«, aber die deutsche Linke kenne keine Klassen mehr, sondern nur noch Rassismus und Antisemitismus.

Wer nach den argumentativen Grundlagen dieser Behauptung fragt, wird enttäuscht. In »FAQ« wird Pohrts alte Methode, Begründungen durch vermeintlich anschauliche Beispiele zu ersetzen, deutlich überstrapaziert. Zeugte in seinem Buch »Brothers in Crime« der gemeinsame Saunabesuch von Helmut Kohl und Boris Jelzin von einer heraufziehenden Bandenherrschaft, soll nun »die Tatsache, dass die Nationalkicker auf ihren Overalls nicht den Bundesadler, sondern das Firmenemblem von Daimler-Chrysler tragen«, ein Indiz für den historischen Niedergang der Staatlichkeit sein. Im letzten Text des Bändchens findet sich ein Ausspruch, der diese Methode als Ganzes charakterisiert: Für manche Gesellschaftsdiagnosen »braucht man kein Bücherwurm sein, weil Alltagsbeobachtungen genügen«.

Während die »Provokation der Gutwilligen« (Hermann L. Gremliza) angesichts des zweiten Golfkrieges in der berühmten – auf der Berliner Veranstaltung widerrufenen – Aussage kulminierte, Israel möge einen irakischen Chemiewaffenangriff »gegebenenfalls hoffentlich mit Kernwaffen zu verhindern wissen«, scheinen die historischen Voraussetzungen, unter denen Pohrts Texten Gebrauchswert zukommt, vergangen. Da Pohrt heute diejenigen als Gutmenschen bezeichnet, die weiterhin die Ereignisse von Sebnitz, Bernsdorf oder Potzlow skandalisieren, revidiert er die gelungenen Zuspitzungen, bestreitet die Existenz rassistischer Gewalt gegen Immigranten mit dem Verweis auf von türkischen Jugendlichen dominierte Spielplätze und bekundet, wegen des Geräuschpegels seiner ausländischen Nachbarn die Wohnung gewechselt zu haben. Zwar mag die von Pohrt zur Erklärung angeführte vermeintliche, auf ethnische Zugehörigkeit referierende Bandenbildung im Spätkapitalismus, die auch das Gegröle deutscher Touristen auf Mallorca begründen soll, ihn vor dem Vorwurf des Rassismus verschonen. Die essenzialisierenden Zuschreibungen und Konsequenzen – »Menschen brauchen soziale Kontrolle, und für die Ausländer in Deutschland gibt es davon derzeit zu wenig« – werfen die Frage auf, ob es sich hier wirklich noch um Zuspitzung oder vielmehr projektive Eigenleistung handelt. Gleichzeitig zeugen sie von der Vernunftlosigkeit dieser Provokationen, deren Effekt weniger Aufklärung als Anmaßung ist: Den sich in ihrem Wohnprojekt einrichtenden Wiener Altlinken zu erzählen, dass dies ihre Abkehr von der Politik materialisiere, ist amüsant; amerikanische Studenten zu belehren, es gäbe hierzulande keinen Rassismus, ist dreist und impertinent.

Nicht minder ist dies auch ein Vergleich, der direkt aus dem neuen Buch des Theoretikers Giorgio Agamben stammen könnte. Ähnlich wie der italienische Philosoph, für den Auschwitz nur ein Paradigma des Lagers an und für sich ist, argumentiert Pohrt, wenn er schreibt: »Der amerikanische Stützpunkt Guantanamo ist nicht Bergen-Belsen, aber dort werden Menschen so rechtlos gefangen gehalten, wie dies einst KZ-Häftlinge gewesen sind. Was heute unter einem Kampf gegen den Antisemitismus verstanden wird, dient dem Zweck, diesen unglaublichen Skandal zu vertuschen.« Es ist die ganze Palette der gesellschaftstheoretischen Fragwürdigkeiten der Kritischen Theorie – Ende von Individualität, Subjektivität und Wertgesetz, dafür Racket und Gang allerorten –, mit der hier der Antisemitismus als völlig unspezifische Ideosynkrasie präsentiert wird. Und da die Objekte antisemitischen Vernichtungswillens vollkommen austauschbar sein sollen, ist es nur konsequent, dass Pohrt den islamistischen Terror zu einer herbeihalluzinierten Bedrohung erklärt. Die sich durch Pohrts Texte ebenso wie durch die Kritische Theorie ziehende Spannung zwischen dem Allgemeinen der bürgerlichen Gesellschaft und den spezifisch deutschen Zuständen schlägt hier in vermittlungslose Einseitigkeit um. Die Stärke, die die analytischen Betrachtungen seiner der Landsleute etwa in »Der Weg zur inneren Einheit« auszeichnete, scheint unwiderruflich passé.

Ihre Leerstelle wird durch eine eigentümliche Mischung aus Instrumentalismus und Postmoderne gefüllt. So wird völlig jenseits aller Ideologietheorie Rassismus als »Rechtfertigungssystem« weißer Überlegenheit beschworen, herausgelöst »aus jedem eindeutigen Zusammenhang mit einer von ihm bezeichneten Sache«, und so zum politischen Kampfbegriff verhärtet. Zum völlig dekontextualisierten Zeichen sollen in der derzeitigen Gesellschaft auch jegliche Fakten geworden sein. So begann – Pohrt braucht nur ein illustratives Beispiel – der vom Bundeskanzler im Jahr 2000 ausgerufene »Aufstand der Anständigen« mit einem Bagatellschaden: der eingeschmissenen Fensterscheibe einer Synagoge, die durch das »Bedeutungsmonopol« von Medien und Machtapparat eine angeblich ungeahnte Wirkung entfaltete.

Die zahlreichen Illustrationen, die Pohrt anführt, haben keinen oder bestenfalls einen äußerst fragwürdigen theoretischen Rahmen: eine auf integrative Funktionen reduzierte und repressive Aspekte völlig vernachlässigende Diagnose vom Staatsniedergang, die, zusammengenommen mit ihrer zugespitzten und möglichst provokativen Präsentation, dem Buch über weite Strecken den Charakter eines populärwissenschaftlichen Traktats verleiht. So wähnt man sich in einem Seminar für Kommunikationswissenschaft, wenn Pohrt die mediale Ver- und Bearbeitung der Wirklichkeit zur Realität adelt: »Das Fernsehen ist heute alles, ein Staat und Wirtschaft umfassender Apparat. Zugleich liefert es das Weltbild.« Auch durch die Diagnose der völligen Verblödung von Neonazis erreicht er wissenschaftliches Niveau – das der gegenwärtigen Rechtsextremismusforschung.

Es überrascht kaum, dass der Klappentext über den Autor verkündet, er betreibe neuerdings eine auf Unternehmens- und Marktforschung spezialisierte »Ich-AG, die auf ihren ersten Kunden wartet«. Der letzte Abnehmer von Erzeugnissen aus Pohrts vormaligem Unternehmen war die Gruppe, die ihn vergangenes Jahr zur Diskussion nach Berlin lud.

Wolfgang Pohrt: FAQ. Edition Tiamat, Berlin 2004, 176 S., 14 Euro