Scream’n’Shout

Der Rock ist unverständlich. Aber wir bilden uns ein, ihn zu verstehen. Und zwar über die Lyrics. von jörg sundermeier

Rock ist toll, weil wir ihn verstehen. Wir verstehen ihn immer. Rock sagt viel, doch man versteht nichts Genaues. Weil Rock das jedoch mit einem solchen Aufwand tut und mit solcher Verve, mutmaßt man, es müsse etwas Besonderes dahinter stecken. Vielleicht sogar ein großes Geheimnis.

»Take me to the magic of the moment / on a glory night / where the children of tomorrow / dream away – in the wind of change.« Diesen Satz sangen die Scorpions, niedersächsische Sozialdemokraten, in ihrem Song »Wind Of Change«, es hatte irgendwas mit Moskau und Gorbatschow zu tun, und wir alle haben es verstanden. Moskau, Perestroika, Aufbruch, Jugend, Träumen, Wind. Kennwa, sindwa. Auch der so beliebte Marius Müller-Westernhagen bleibt meistens unverständlich: »Ich bin der schwärzeste Neger, / ich bin der jüdischste Jud’ / ich bin der deutscheste Deutsche / ich hab’ das roteste Blut. // Schweigen ist feige Reden ist Gold.« Es geht in diesem Song, nun ja, wahrscheinlich um, hmm, äh – egal, der Song war ein Hit. Zu Recht. Würden die Fans der Scorpions oder von Westernhagen diese Texte ohne Musik hören, würden sie wahrscheinlich auch lachen. Oder sagen: Das ist doch keine Kunst.

Doch auch jene Rockmusik, die man für intelligent, für unschmierig und unverdruckst zu halten gelernt hat, macht es den Hörerinnen und Hörern nicht leicht. Nehmen wir The Fall. Mark E. Smith, der Sänger, lallt oft völlig Sinnloses. Wenn man denn überhaupt die Worte verstehen kann. Smith singt nicht, es ist eher eine Form rhythmischen Sprechens, deren er sich bedient. Er nuschelt. Nölt. Oder aber er verzerrt seine Stimme, indem er ein Megaphon benutzt. Zudem, das ist eine besondere Eigenheit Smiths, zischt er gern. Die Wortfolge »Janet, Johnny and James / crack your minds / behind your eyelid« bedeutet ja erst mal nichts Großartiges, sie ist eher Pubertätslyrik. Doch wenn Smith dann jedes »s« in ein »s-s-s-schsss-schschsch« verwandelt, mag man gern glauben, dass mehr dahinter steckt. Wenn man mag. Man hat es bei The Fall mit Textzeilen wie »And you with your green and grey and blue hearts« zu tun und hat keine Chance, sie zu begreifen. Dennoch sitzen erwachsene Leute vor ihren Stereoanlagen und glauben an diese Sätze. Sie sagen ihnen offensichtlich etwas. Sie glauben, Mark E. Smith verstehen zu können. Schlimmer noch: Sie fühlen sich verstanden.

Smith arbeitet in seinen Songs mit Lautfolgen. Er sagt: »tata-tatata-tatatata«, das also, was Kinder sagen, wenn sie ein Lied nachsingen, dessen Text sie nicht verstanden haben. Nur: Smith nölt dieses »tata-tatata-tatatata«, er nölt es langsam, er zieht die A-Laute durch die Nase, das letzte »-ta« spricht er dann kurz. Ta. Punkt. Er spricht es wie ein trotziges Kind. Er rotzt es hin. Er klingt beleidigt. Gelangweilt. Darin ist Weltablehnung, kann man glauben. Diese Weltablehnung kann man teilen. Man kann sich mit ihr identifizieren. Man identifiziert sich allerdings mit seiner Projektion. Ein bisschen verhält es sich wie mit dem schönen dummen Satz von Liebenden: »Du bist genauso wie ich.« Man fühlt sich verstanden, geborgen, gut aufgehoben, weil man von nichts anderem als seinen eigenen Projektionen redet.

Little Richard nahm 1955 »Tutti Frutti« auf. Sein »A-wop-bop-a-loo-lop a-lop bam boo!« war für die Kids der Aufstand gegen die Eisenhower-Ära. Es war ansteckend, befreiend, es erschien wild. In den sechziger Jahren verstand man überall auf der Welt den Hit »Louie Louie« auf einmal so sehr, dass sich sogar das FBI mit dem Song beschäftigte. Als der schwarze Soulsänger Richard Berry den Song in den fünfziger Jahren als B-Seite einer Single veröffentlichte, ahnte niemand, dass das der Song sein würde, der bis heute der am meisten gecoverte ist. 1963 coverten die Kingsmen, eine mittelmäßige Band, das Stück und verwendeten dabei einen Gitarrenriff, der eine unglaubliche Wirkung entfalten sollte, Hardrock und Punk gründen darauf. Der ein bisschen schweinische Text Berrys wirkte bei den Kingsmen plötzlich so geil und frei, dass die meisten amerikanischen Radiostationen sich weigerten, das Stück zu spielen.

In der ursprünglichen Version von »Tutti Frutti«, die noch obszöner war als die schließlich veröffentlichte, ging es, so der Autor Darius James, um Homosexualität. Little Richard trat seinerzeit in Schwulenclubs auf. Das ist etwas, worüber Little Richard, seit er sich der christlichen Lehre zugewandt hat, ungern spricht. Dementsprechend knapp fällt sein Kommentar zu James’ These aus: »Wir waren jung und voll mit Teuflischkeit.«

Dabei hat gerade Little Richard sein signifikantes, so aufrührerisches »Heulen«, wie er es selbst nennt, von Gospelsängerinnen übernommen. Diese heulen beim Halleluja-Singen auf, um das Göttliche in die Kirche zu holen. Einige christliche Gruppen wiederum, die Pfingstgemeinde etwa, pflegten sich mittels Glossolalie, des so genannten Zungenredens, in Ekstase zu versetzen. Die so erzeugte Massensuggestion ähnelte dabei frappierend den frühen Rockkonzerten: Frauen schrien sich die Seele aus dem Leib, die Christen verfielen in Zuckungen und der Heiland erschien ihnen im Schaum vorm Mund.

Ist das das Geheimnis? Rock ist christlich, schwul und vom Teufel? Oder geht es nur um Sex? John Lee Hooker, der mit seiner Gitarre und seinem den Takt tretenden Fuß den Rock’n’Roll im Grunde erfand, sang in »Boom Boom«: »Boom boom boom boom / I’m gonna shoot you right down, / right offa your feet / Take you home with me, / put you in my house / Boom boom boom boom / A-haw haw haw haw / Hmmm hmmm hmmm hmmm / Hmmm hmmm hmmm hmmm // I love to see you strut, / up and down the floor / When you talking to me, / that baby talk / I like it like that / Whoa, yeah! / Talk that talk, walk that walk // When she walk that walk, / and talk that talk, / and whisper in my ear, / tell me that you love me / I love that talk / When you talk like that, / you knocks me out, / right off of my feet / Hoo hoo hoo / Talk that talk, and walk that walk / Oh, yeah!« Alles klar.

Weil im Rock nichts explizit gesagt werden muss, weil die Gitarre, das Schlagzeug (oder der Fuß), weil die Stimme eine Atmosphäre verbreiten, die Assoziationen zulässt, ja geradezu einfordert, glaubt man zu verstehen. Es ist nichts als Romantik. Was dann dazu gesungen wird, ist letztendlich egal. Vor allem auf die Art des Singens, Sprechens, Heulens oder Nölens kommt es an. Bleibt einiges vom Text im Dunkeln – umso besser, dann kann man sich was einbilden.

Ob Jazz, Rock oder House – es geht letztlich immer um die Frage: »Can you feel it?« Die allerdings darf von den Texten keinesfalls beantwortet werden. Dann ist in den Texten alles erlaubt, manchmal sind die Texte sogar gut.

Dada wollte mit unverständlichen Texten die Welt aufrütteln. Rocklyrik ist das Gegenteil von Dada, gerade da, wo sie unverständlich ist, denn sie versöhnt mit der Welt. Selbst dann, wenn sie sich als widerständige Poesie begreift. Weil sie Identifikation schafft. Weil wir einverstanden sind.