Streiken verboten

Warum es in Deutschland keine Generalstreiks gibt. von andrej reisin

Der Blick auf die Nachbarn macht neidisch. Zum vierten Mal seit dem Amtsantritt Silvio Berlusconis als Ministerpräsident wurde in Italien Ende März zum Generalstreik gerufen und das öffentliche Leben stand für acht Stunden still. Protestiert wurde gegen die Rentenreformen, die eine Anhebung des Rentenalters auf 60 Jahre vorsehen bzw. 35 Jahre Beitragszahlung zur Voraussetzung für den Renteneintritt erklären.

Italien, Frankreich und im vorigen Jahr sogar die eher beschauliche Republik Österreich – Generalstreiks gibt es in Europa immer wieder, sei es, um gegen Sozialabbau zu protestieren, sei es, um anderen politischen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Allein in der mittlerweile 55jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist es dazu nie gekommen.

Erkundigt man sich in seinem Bekanntenkreis nach den vermuteten Ursachen, bekommt man die üblichen Verdächtigen präsentiert. Die bundesdeutschen Gewerkschaften seien eben von Anfang an ein so fester Bestandteil des herrschenden Wirtschafts- und Sozialsystems gewesen, dass sie auf solche Gedanken gar nicht kämen. Schlagwörter wie »Sozialpartnerschaft«, »Klassenkompromiss« und »Bündnis für Arbeit« fallen und überhaupt: »Schon mal was vom deutschen Michel gehört?«

Das mag alles nicht ganz falsch sein, doch der Grund ist ein anderer. Zu einem Generalstreik in der Bundesrepublik wird es auf absehbare Zeit vor allem deswegen nicht kommen, weil so genannte politische Streiks seit 1952 schlechterdings verboten sind.

Damals streikte die IG Druck und Papier gegen das Betriebsverfassungsgesetz, da es keine paritätische Mitbestimmung der ArbeitnehmerInnen vorsah. Auch verpflichtete es die Betriebsräte zum so genannten Betriebsfrieden und zur »vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der Geschäftsführung«. Regelungen, die es in dieser Form praktisch nur in Deutschland gibt und die bis heute gelten.

Die Unternehmer klagten gegen den von Konrad Adenauer als »Angriff auf die Pressefreiheit« diffamierten Streik und bekamen bis zur höchsten Instanz des Bundesarbeitsgerichtes Recht. Der politische Streik sei von der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit des Grundgesetzes (Art. 9, Abs. 3, Satz 3 GG), aus welcher sich das Streikrecht ableitet, nicht gedeckt und somit rechtswidrig. Das hatte fatale Folgen für die Gewerkschaft, die für die Produktionsausfälle haftbar gemacht und zu enormen Entschädigungszahlungen herangezogen wurde.

Streiks für politische Ziele gefährdeten die Organe des Staates, urteilten die Gerichte damals. Eine Rechtsauffassung, die der ehemalige Vorsitzende der IG Medien, Detlef Hensche, kürzlich in einem Interview mit der Sozialistischen Wochenzeitung als »vordemokratisch« bezeichnete. Der frühere IG Metall-Vorsitzende Otto Brenner sagte sogar, dass die dem Betriebsverfassungsgesetz »innewohnende Ideologie« einer Zeit entspreche, »die wir 1945 ein für allemal überwunden glaubten«.

Innerhalb der EU steht Deutschland jedenfalls mit seinem restriktiven Streikrecht bislang ziemlich allein da. Nur Margaret Thatchers »Employment Act« von 1982, der explizit die Gewerkschaften schwächen sollte, sieht ähnliche Einschränkungen vor. In den meisten anderen EU-Ländern hingegen ist der politische Streik nach Angaben der »Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen« erlaubt oder zumindest geduldet. Spannend könnte es in diesem Zusammenhang werden, inwieweit die Bundesregierung versuchen wird, bei den Verhandlungen über ein europäisches Arbeitsrecht die deutsche Rechtslage durchzusetzen.

An der hat sich bis heute nichts geändert. Da es keine gesetzlichen Regelungen in Form eines Bundesgesetzes zum Streikrecht gibt, handelt es sich um ein so genanntes Richterrecht. Die jeweils gültige Rechtslage wird anhand von Urteilen aus Präzedenzfällen abgeleitet. Zwar mahnte das Bundesverfassungsgericht wiederholt eine abschließende Regelung vom Gesetzgeber an. Allein das Interesse daran hielt sich in Grenzen.

Das trifft auch auf die Gewerkschaften zu, denen es vor allem darum geht, die bestehenden Möglichkeiten des Arbeitskampfes nicht zu gefährden. Verständlicherweise fürchtet man, dass ein neues Bundesgesetz zum Streikrecht nachteiliger sein könnte als die bestehenden Regelungen. Wie Jupp Legrand von der IG Metall erklärt, gebe es »trotz einiger Diskussionen, die beispielsweise auch auf dem letzten Gewerkschaftstag wieder geführt wurden, derzeit keinerlei Bestrebungen der Gewerkschaften, etwas an der geltenden Rechtslage zu ändern«.

Auf besagtem Gewerkschaftstag im vergangenen Jahr gab es allerdings auch andere Stimmen. Klaus Ernst aus Schweinfurt beispielsweise verkündete stolz: »Wir haben 4 500 Kolleginnen und Kollegen während der Arbeitszeit auf der Straße gehabt.« Anstatt zu arbeiten, demonstrierten die Schweinfurter Metaller im vorigen April lieber gegen die Agenda 2010. Wo die Belegschaften kämpferisch und die Gewerkschaften stark sind, lassen sich also offenbar auch Arbeitsniederlegungen durchsetzen, die durchaus politischen Charakter haben.

Ähnlich sieht das Michael Sommer, Betriebsrat bei einem Hamburger Unterhaltungskonzern. Er befürchtet, dass sich die Gewerkschaften »auf Dauer selbst die Grundlagen entziehen, wenn sie gegen den Sozialabbau nicht auch zu arbeitskampfpolitischen Maßnahmen bereit sind«. Stattdessen setze man weiterhin auf Sozialpartnerschaft, selbst dann noch, wenn die Arbeitgeber bestehende Tarifverträge einfach aufkündigten. So geschehen beispielsweise beim Wegfall des Weihnachts- und Urlaubsgeldes im Öffentlichen Dienst. Mittlerweile hat die Tarifgemeinschaft deutscher Länder bereits beschlossen, zum nächstmöglichen Zeitpunkt auch die Arbeitszeittarifverträge zu kündigen.

Zudem erlauben viele der neu ausgehandelten Verträge zahlreiche Ausnahmen. So können vom Flächentarif abweichende Haustarifverträge geschlossen oder die Beschäftigten zur Mehrarbeit herangezogen werden, wenn die wirtschaftliche Lage dies erfordert. Sommer verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass Betriebsvereinbarungen sich für die Beschäftigten meist nachteilig auswirkten: »Im Gegensatz zur Gewerkschaft ist der Betriebsrat als Verhandlungspartner schließlich erpressbar und kann auch keine Kampfmaßnahmen einleiten.«

Das Beispiel Schweinfurt zeigt, dass politisch motivierte Arbeitsniederlegungen in der Bundesrepublik sehr wohl möglich sind, wenn man die bestehenden Spielräume geschickt nutzt. Geklagt hat dort offenbar niemand. Wie sagte Detlef Hensche? »Rechte schafft man, indem man sie sich nimmt.« Ob mit Generalstreiks politische Entwicklungen tatsächlich beeinflusst werden können, ist eine ganz andere Frage. Berlusconi jedenfalls haben die Streiks bislang wenig beeindruckt.