Nobody’s Nightmare

Mit »Fear Factor« wagt RTL das Recycling des Quotenknüllers »Ich bin ein Star! Holt mich hier raus!« mit lauter Nobodys. von martin schwarz

Argentinien musste viel durchmachen in den letzten Jahrzehnten. Eine blutige Militärdiktatur ließ Tausende Menschen verschwinden, korrupte Präsidenten und Regierungschefs wirtschafteten das Land zugrunde, Banken kollabieren, die Bevölkerung siecht dahin. Und jetzt hat dieses geschundene Land auch noch Sonja Zietlow an der Backe, die am vergangenen Donnerstag erstmals direkt vom Dach eines abbruchreifen Bürohauses in Argentinien die erste Folge von »Fear Factor« moderierte. Sonja Zietlow? Die Sonja Zietlow? Ja, genau die Sonja Zietlow, die bis auf wenige Ausnahmen bei RTL auf televisionäre Flops abonniert ist: Im März 2002 etwa moderierte sie die großartige Show »Deutschlands klügste Lehrer«, im September 2002 die epochale Show »Deutschlands klügste Bürgermeister«, einen kurzweiligen Monat später die legendäre Show »Deutschlands klügste Geistliche und Priester« und abgeschlossen wurde der packende Fernsehreigen im September 2003 mit »Deutschlands klügste Kinder«. Der wirkliche Durchbruch der in ihrer telegenen Vielseitigkeit beinahe spinnenhaft anmutenden Sonja Zietlow gelang aber mit »Ich bin ein Star! Holt mich hier raus«. Wer erinnert sich nicht gerne an das nette Dschungelcamp, in dem großteils abgewirtschaftete Stars für einige Wochen zwischengelagert wurden und Deutschland wirklich wichtige Diskussionen bescherten: Warum reißt Daniel Küblböck die Schnauze auf, wenn über seinen Kopf Australiens klügste Kakerlaken rieseln? Sind Mariella Ahrens’ Brüste genetisch oder mittels Silikon in Form gebracht? Was macht Mariella Ahrens eigentlich sonst noch? Hat sich Costa Cordalis ein Gitarren-Implantat an den Bauch operieren lassen?

Beim australischen Dschungelcamp waren es also vor allem die Befindlichkeiten der anwesenden »Stars«, die in den öffentlichen Diskurs einsickerten. Caroline Beil von riesigen Straußen zerfetzt zu sehen, war in gewisser Weise attraktiv, Daniel Küblböck im Teich von Schlangen verfolgt zu sehen, verschaffte dem eigenen unspektakulären Leben so etwas wie einen Mehrwert. Doch RTL zog aus dem Erfolg der Star-Deponie am anderen Ende der Welt die falschen Schlüsse. Die Spin Doctors des Kölner Senders dachten wohl, dass schon ein paar mittelmäßig spektakuläre Stunts, in die man humanoiden Durchschnitt von nebenan hetzt, eine Show hergäben.

Die erste Folge von »Fear Factor« aber musste zwangsläufig enttäuschen: Wen interessiert es schon, wenn die langweilige Bankangestellte aus irgendeinem Kaff mit dem Fahrrad vom Dach eines abbruchreifen Bürogebäudes springen und sich in einem Netz festkrallen muss? Interessiert mich ihr Schicksal? Darauf kann es nur eine Antwort geben: nein. Ob sie abstürzt oder nicht, erhöht den durchschnittlichen Adrenalinspiegel eines Zusehers wohl im gleichen Maße wie die von Hellmuth Karasek ausgewählte Krawatte. Noch dazu hatte die Dramaturgie der gesamten Show etwas von der Raffinesse einer hängengebliebenen Schallplatte: Sechs Menschen – so viel Kandidaten traten ursprünglich an – hintereinander mit dem Fahrrad über den Abgrund springen zu sehen, ist einfach nicht sexy. Das einzig Bemerkenswerte an dem völlig verblödeten Fahrrad-samt-Fahrer-vom-Dach-schmeißen-Stunt war die Tatsache, dass alle drei weiblichen Kandidaten die Aufgabe bewältigen, während zwei der drei jungen Herren kläglich scheiterten. Vielleicht ebenso eine Erwähnung wert ist die gestische Verjüngungskur, die Sonja Zietlow während der Show zelebrierte: jeder der Kandidaten wurde nach dem Stunt abgeklatscht, als gelte es, dem dahindämmernden Fernsehpublikum einzubläuen, dass Sonja Zietlow höchstens 19 Jahre alt ist und es vermutlich immer bleiben wird. Selbst das Styling der RTL-Veteranin wirkte irgendwie unglaubwürdig: Bei einem der mit entbehrlichem Gewäsch begleiteten Stunts hatte Sonja Zietlow ein formschönes Geschirrtuch um den Kopf geschnallt, das ihr eine frappante Ähnlichkeit mit einem Mitglied der Boygroup »Overground« verlieh. Mit jeder Faser ihres Körpers und ihres Geschirrtuches schien uns Sonja vermitteln zu wollen, dass es zwischen ihr und den durchschnittlich 25 Lenze alten KandidatInnen niemals zu einem Generationenkonflikt kommen kann.

Nachdem also alle sechs KandidatInnen vom Dach geradelt waren, ließ der zweite Stunt die Zuseher unweigerlich an »Ich bin ein Star! Holt mich hier raus« denken. Die vier übrig gebliebenen Nobodys, drei Frauen und ein Mann, wurden nacheinander an einen Stuhl gegurtet, ihnen wurde ein Glasquader auf den Kopf gesetzt, Schlangen, Maden, Krebse und Kakerlaken wurden hineingeschüttet und der Stuhl begann sich zu drehen. Bildtechnisch hatte das Ganze etwas von Waschmaschinenfernsehen, dramaturgisch ging auch das schief: Vier Menschen hintereinander sechs quälend langsame Runden lang gemeinsam mit lobbylosen Tierchen auf einem sich bewegenden Stuhl sitzen zu sehen, hat was vom Ostersegen des Papstes, den er stundenlang in allen möglichen Sprachen der Welt ausspricht: Man weiß irgendwie, was jetzt kommen wird. Amüsanterweise bewältigten alle noch anwesenden Kandidaten diese Prüfung, vielleicht, weil es in manchen Lebenssituationen ohnehin schon egal ist, ob der eigene Kopf mit irgendwelchen Kriechtieren in einem Glassturz klemmt oder man sich mit der penetrant abklatschenden Zietlow beschäftigen muss. Beides ist jenseitig.

Alle, die nach diesem Dumpfbackenkarussell noch nicht den Fernsehapparat abgeschaltet hatten und sich spannenderen Beschäftigungen wie einem Mikado-Spiel oder dem Zehennägelschneiden widmeten, wurden dann des finalen, des ultimativen, des letztgültigen Stunts ansichtig: Sonja Zietlow stand mit ihren vier FinalistInnen am Rande eines argentinischen Swimmingpools und versuchte, durch die drastische Beschreibung des nun zu Erwartenden die vier Fernsehdesperados in kollektive Panik zu reden. Die aber blieben ganz ruhig, starrten auf die sich leicht kräuselnde Wasseroberfläche und lauschten leicht gelangweilt der Zietlow. Alle vier also wurden an einem Bungeeseil kopfüber über den Pool gekrant, an den Händen hatten sie ein Gewicht hängen. Mit dem tauchten sie in fünf Meter Tiefe und mussten dort einem Fisch gleich ausharren, so lange sie konnten.

Schon alleine der Gedanke, im Privatfernsehen ein Spiel zu starten, bei dem es auf Ausdauer ankommt, sozusagen also die kontemplativen Ressourcen der Zuseher anzuknabbern, sollte bei RTL schwerstens bestraft werden. Glaubt denn wirklich irgendjemand in Köln, dass es das werte Publikum interessiert, minutenlang einem Menschen zuzusehen, der am Boden eines Pools abhängt? Wasserleichenfernsehen eignet sich eben nicht für Temposender wie RTL. Jedenfalls versagte nur eine Kandidatin. Sie ist Krankenschwester in der Gefäßchirurgie eines Spitals und hielt sich nicht viel länger als zwei Sekunden unter Wasser, bevor sie das Gewicht losließ und mit dem Bungeeseil aus dem Pool geschleudert wurde. Sie war es aber eigentlich, die diese Show rettete, weil ein Stunt mit zwei Sekunden Dauer so etwas wie Dynamik verströmte.

Gewonnen hat eine Kollegin. Unsagbar lange 101 Sekunden krallte sie sich am Poolgrund an das Gewicht fest, beschaulich blubberten Luftblasen aus ihrer Nase. Selbst Sonja Zietlow verschlug es die Sprache. Und als wären keine Kameras da und als wäre es nicht ihre Aufgabe, der öden Show mit ein paar fetzigen Ansagen eine dramaturgische Beschleunigung zu verleihen, blieb sie wie angewurzelt am Poolrand stehen. 25.000 Euro durfte die Gewinnerin mit nach Hause nehmen, 25.000 Euro für die Zumutung, im Laufe von 45 Minuten etwa 230 Mal die eigenen Handflächen in jene von Sonja Zietlow patschen zu lassen, 25.000 Euro für eine Fahrradtour ins Nichts, für eine Fahrt mit dem Drehstuhl und für 101 Sekunden in der Stille eines argentinischen Pools. Ein schöner Abschluss eigentlich, denn bei dieser Show sind nicht nur die KandidatInnen abgesoffen.