Die Arbeit der Kritik

Eine Annäherung an die Thesen Moishe Postones von manfred dahlmann

Marx stellte einmal lapidar fest, Waren könnten sich nicht selbst zu Markte tragen. Alle Welt schwärmt von den vielen angeblich fundamentalen Veränderungen, die die Gesellschaft in den vergangenen 200 bis 300 Jahren durchgemacht habe, oder verteufelt sie, was dasselbe ist; kaum jemand nimmt jedoch die Auswirkungen einer Involution ernst, die dazu geführt hat, fast nicht mehr zwischen Waren als physisch vorfindlichen, wenn auch mit »metaphysischen Mucken« versehenen Dingen und einem ihnen autonom gegenübertretenden, wenn auch längst warenförmig verdinglichten Bewusstsein unterscheiden zu können.

Das »postmodern« konstituierte Subjekt hat mittlerweile jede Schamschwelle überschritten, die der (Besitz-)Bürger des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts noch zwischen sich und die Ware gesetzt hatte. Dass dieses Subjekt sich dementsprechend als wandelnde Litfasssäule kleidet, mag noch als Petitesse durchgehen, gerade in diesen Details jedoch erscheint das falsche Ganze besonders deutlich. Aber mit welcher Umstandslosigkeit sich jedes, also nicht nur das wegen seiner Besitzlosigkeit an Produktionsmitteln dazu gezwungene Individuum mittlerweile aus freien Stücken bereit findet, ausgebeutet werden zu dürfen, zeigt, dass der Ware nirgends mehr der sich selbst bewusste Bürger, wie vermittelt auch immer, als ihr »Träger« gegenübersteht, der frei über ihren Nutzen entscheidet, sondern der Mensch sich in all seinen Entäußerungen als Ware geriert und dabei glaubt, sich so ein größeres Stück aus dem Glück und Erfüllung verheißenden Kuchen abschneiden zu können als seine maschinellen und humanoiden Mitproduzenten.

Wegen dieser Zurichtung des Individuums zu einer Ware unter den vielen anderen, gleichgeschalteten, die sich ihre Identität selbst setzen statt in Auseinandersetzung mit ihrer gesellschaftlichen Gegenwart und Herkunft, findet auch Geschichte nicht mehr statt. Dennoch ist nicht zu verhindern, dass Einzelne sich der vormaligen Existenz des Bürgers erinnern, etwa wenn ihnen zufällig ein Buch von Theodor W. Adorno in die Hände fällt.

Macht dieser Vereinzelte sich nun daran, diese Erinnerung auch anderen mitzuteilen, handelt er sich ein gewaltiges Problem ein. Denn er trifft nicht wie der Pädagoge aus den zurückliegenden Jahrhunderten auf verstockte und manchmal aufsässige Individuen, deren Willen er irgendwann schon irgendwie noch brechen und deren Charakter er mit einiger Aussicht auf Erfolg schon noch auf den gewünschten Standard bringen wird. Vielmehr tritt ihm die geballte, gesellschaftlich positiv sanktionierte Unvernunft eines Bewusstseins gegenüber, das alles, was ihm nicht in Form auswendig zu lernender Lehrsätze dargeboten und ihm nicht im Gestus unvergleichbarer Originalität vorgesetzt wird, als überflüssigen Ballast ausscheidet.

Moishe Postone löst dieses Vermittlungsproblem, das, philosophisch ausgedrückt, darin besteht, denen, die binär und analytisch denken, beizubringen, gesellschaftliche Konstitution als Entfaltung synthetisch aufeinander bezogener Kategorien zu begreifen, indem er seine Grundgedanken, um deren Darstellung es in seiner Interpretation von Marx geht, in immer wieder erneuerten Kreisbewegungen wiederholt, um so den Leser unterschwellig dazu zu bringen, die eingefahrenen Bahnen seiner analytischen Rezeptionsgewohnheiten zu verlassen.

Wo es zum Beispiel um die Zurkenntnisnahme des Kapitalismus als eines selbstreproduktiven Systems geht, geht es Postone nicht primär um die singuläre Wahrheit dieses Urteils als solche, sondern darum, gleichzeitig zu zeigen, dass diesem Urteil im Geflecht gesellschaftlicher Vermittlung ein spezifischer Status zukommt, der es fundamental von anderen Urteilen unterscheidet. Etwa von dem, eine Dienstleistung als ihren Preis wert zu erachten. Dazu wendet Postone den »Trick« an, über das dem Erscheinenden zugrunde Liegende auch öfter und intensiver zu reden als über das Erscheinende, ohne letzterem damit weniger Bedeutsamkeit zuzusprechen, sowie das Konstituierende in jedem seiner neuen Aspekte immer wieder erneut explizit zu machen, um es von den Vielfältigkeiten, die es konstituiert, abzusetzen.

Jedem auf eingängige und »spannende« Lektüre geeichten Leser erscheint diese Form der Darstellung sehr bald als Zumutung. Wenn er sich der Mühe weiterer Lektüre dennoch unterzieht, wird er mit Erkenntnisgewinn belohnt. Doch auch Leser, die mit den Kernaussagen eines »westlichen Marxismus«, bzw. der Kritischen Theorie, zunächst kein Verständnisproblem haben, sondern sie für platte, kaum noch der Erwähnung wert zu haltende Selbstverständlichkeiten erachten, sollten sich durch die zumindest für das deutsche Rezeptionsverhalten ungewöhnliche Komposition des Textes hindurchbeißen, um endlich einmal die Bedeutung dessen zu erfassen, was das Bedeutsame zum Bedeutenden erst macht.

Es geht um nichts Geringeres als die Möglichkeit einer zumindest gedanklichen Restitution des Bürgers auch unter den aktuellen Bedingungen. Dies nicht aus Nostalgie oder um der Realität zu entfliehen, sondern aus existenziellen Gründen. Denn nur von hier aus kann das Verhältnis des Subjekts zu seiner Aufhebung in eine den Kapitalismus transzendierende, vernunftgemäße Gesellschaft bestimmt werden.

Die im Postnazismus, vor allem dank der Rezeption von Foucault, sich durchsetzende Vorstellung vom Ganzen als bloßer, nominalistischer Konstruktion lässt dem Subjekt dagegen von vornherein keinen Raum, sich als konstitutives Moment seiner individuellen Existenz auch nur vorstellen zu können. Im Gegenteil, das vermittlungslos gedachte Sein etwa der »Macht« vollzieht ideologisch nur nach, was Ökonomie und Politik seit je praktizieren: das Überflüssigmachen des Subjekts, seine Rückbildung auf die reine, abstrakte Voraussetzung der Produktion um der Produktion willen.

Nur in der Erinnerung jedoch an die Genese in der Aufklärung kann in uns heute lebenden Subjekten der Gedanke an die Möglichkeit einer Emanzipation von Herrschaft und Ausbeutung aufrecht erhalten werden. Postone versucht auf seine Weise, diesen Ort zugänglich zu erhalten; es bleibt ungewiss, ob ihm dies bei einer nennenswerten Anzahl von Lesern wirklich gelingt. Es mag andere, erfolgversprechendere Strategien geben. Genannt seien hier die sokratische Methode, die Argumentation ad hominem, Polemik und Denunziation. Was jedoch unhintergehbar bleibt, ist, dass nur von hier, das heißt dem ursprünglich bürgerlichen Subjekt aus, alles Weitere diskutiert werden kann.

Wenn also akzeptiert ist, dass auch die postnazistische Gesellschaft sich in Wahrheit nicht vermittlungslos konstituiert, sondern durch eine Reihe von Zentralkategorien hindurch, von denen ausgehend die verschiedenen Ebenen von Realität zu entfalten sind, wäre zum Beispiel darüber zu reden, warum Postone inhaltlich nicht die Ebene der Selbstreflexion erreicht, die Marx und in dessen Nachfolge Adorno schon einmal eingenommen hatten. Man kann dann also darüber reden, warum Postone missachtet, dass die negative Dialektik schon einmal sehr viel weiter vorangekommen war, als es seine Analyse der Marxschen Zentralkategorien Zeit, Arbeit und Herrschaft erfasst.

Wenn Postone, um einen besonders harten Fall zu nennen, der Logik seines Grundgedankens gemäß, gezwungen ist, die Differenz von Sache und Begriff zu leugnen, weil er nur so dem erkenntnistheoretischen Problem entkommen zu können glaubt, die Geltung seiner Aussagen gesondert ausweisen zu müssen, dann fällt er nicht nur weit hinter Adorno zurück, sondern verstößt auch noch gegen die erkenntnistheoretische Allerweltsweisheit, dass Theorie, und sei sie noch so stimmig konstruiert, jedenfalls dann falsch ist, wenn sie gegen Evidenzen verstößt wie die, dass Sache und Begriff nur im Tod in eins fallen können.

Als ebenso problematisch erweist sich von hier aus gesehen das Unternehmen Postones, den Pessimismus der Kritischen Theorie überwinden zu wollen. Schon sich diese Aufgabe zu stellen, verrät ein unzureichend reflektiertes Verhältnis von Theorie und Kritik. Denn was Postone in diesem Zusammenhang als Ausdruck von »Pessimismus« versteht, das meint die Erkenntnis, dass der (Spät-)Kapitalismus seine Negation in ein konstitutives Moment seiner Existenz transformiert hat, bezieht den Betrachter in die Darstellung mit ein. Dieser Betrachter, in letzter Instanz Postone selbst, behält bei ihm jedoch den Status desjenigen, der Theorie für von ihm gesetzte Zwecke, hier für die Vermeidung von »Pessimismus«, einsetzen könne. Dieses humane Zentralsubjekt aber gibt es ja, wie allseits festgestellt, nicht mehr. Das Kapital ist, wie wir wissen, ein sich selbst reproduzierendes gesellschaftliches Verhältnis, das, wie Luhmann gar meint, auch auf den Menschen überhaupt verzichten kann.

Es gibt weitere Kritikpunkte. Den etwa, dass Postone Konkurrenz nicht als Zentralkategorie der kapitalistischen Gesellschaft begreift, sondern deren Wirkungsweise durch die von ihm eingeführte Kategorie einer richtungsgebundenen Dynamik ersetzt, was nur in der Form einer geschichtsphilosophischen Konstruktion geschehen kann. Über dies und anderes wäre kontrovers zu diskutieren, allerdings immer unter dem Vorbehalt, sich dazu auf den Gegenstand in der gleichen Intensität einlassen zu müssen, wie Postone dies vorgegeben hat.