Er kannte alle Pizzabäcker der Region

Selbstmord in Abschiebehaft. Der Fall Nouredine El Amrani aus Marokko. Von Heike Herzog und Eva Wälde

Nouredine El Amrani erhängte sich am 2. Mai 1998 in Abschiebehaft in der Justizvollzugsanstalt Kronach mit seinem Hosengürtel. Der Anstaltskoch entdeckte ihn, als er am Morgen den Kaffee austeilte. El Amrani war erst 26 Jahre alt.

Er kam aus Tanger. Seine Fluchtgründe und sein Fluchtweg sind weitgehend unbekannt. Nach seinen Angaben floh er mit einem Fischerboot nach Spanien. Von dort kam er über Frankreich nach Deutschland, wo er im April 1993 die Grenze überquerte. Es ist nicht bekannt, ob er vorher versuchte, in Frankreich Fuß zu fassen, oder es eher mied, weil er sich in Deutschland eine bessere Perspektive versprach.

Dass er nicht nach Marokko zurück wollte, hat Nouredine El Amrani seiner Beraterin immer wieder beteuert: »Ja, es war seine Hoffnung, in Deutschland bleiben zu können, wobei seine Zukunftsperspektive ganz Europa umfasste: Ich möchte in Europa bleiben, ich möchte auf keinen Fall nach Marokko zurück. Wenn es in Deutschland nicht geklappt hätte, dann hätte er woandershin gemusst. Und er wäre auch überall sonst hingegangen, wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte. Aber zurück konnte und wollte er nicht.«

Die Beraterin glaubt auch nicht, dass er Heimweh oder Sehnsucht nach seiner Familie oder nach Marokko hatte. Marokko habe ihm nicht die Perspektive geboten, ein Leben nach seinen Vorstellungen zu leben.

Die Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung Ausländischer Flüchtlinge, das mittlerweile Bundesamt für Migration und Flüchtlinge heißt, erfolgte vier Tage nach seiner Einreise. Er gab an, aufgrund seiner Teilnahme an einer Demonstration von der Polizei verfolgt worden zu sein. Daraufhin sei er nach Ceutà (1) geflohen.

Auf den Ablehnungsbescheid des Bundesamtes reagierte El Amrani nach Aussage der Betreuerin wie viele Flüchtlinge: »Es war zunächst mal ein Schock. ›Ich bin abgelehnt.‹ Aber dann wächst wieder die Hoffnung, so auch bei ihm. Die Flüchtlinge hoffen auf eine Anerkennung vor Gericht und dann wird gewartet. Und dieses Warten hat ihn ganz kribbelig gemacht. Aber dadurch, dass er ständig seine Arbeit im Kopf hatte, hat er die asylrechtliche Bedrohung verdrängt. Dieses ständige Arbeitenwollen und Arbeitsuchen ist ein sehr guter Verdrängungsmechanismus.«

Die Arbeitssuche und das Beantragen der Arbeitserlaubnis waren die zentralen Punkte während seines Aufenthalts in Lichtenfels. Immer wieder suchte er eine Arbeitsstelle und beantragte dafür eine Arbeitserlaubnis. Die Betreuerin glaubt, dass es gut und gerne zehn Anträge waren, die sie mit ihm gestellt hat.

Allerdings bekam er nur selten die Erlaubnis vom Arbeitsamt. »Er war Pizzabäcker und hat wirklich jede Pizzeria in nah und fern aufgesucht. Er hat überall nach Arbeit gefragt und ist ständig mit einem neuen Job gekommen. Er musste dann immer wieder von neuem eine Arbeitserlaubnis beantragen. Wenn er keine Erlaubnis bekam, hat er den nächsten Pizzabäcker gefunden, bei dem er hätte arbeiten können. Er hat Jobs aufgetan, das war faszinierend. Er hat wohl alle Pizzabäcker in der Region gekannt«, erinnert sie sich.

Doch Nouredine El Amrani verdiente dabei nicht immer Geld. Manche Arbeitgeber ließen ihn ohne Bezahlung ein paar Tage zur Probe arbeiten und schickten ihn dann wieder weg. Sein Lohn sollte ihm dazu dienen, von den 40 Euro Taschengeld eines Flüchtlings unabhänig zu sein und »einen normalen Lebensstil zu pflegen – wie die anderen Jugendlichen oder jungen Männer, zu denen er Kontakt hatte«.

Er hatte auch eine Freundin, mit der er gerne zusammen gewohnt hätte und die er nur unter Verstoß gegen die Residenzpflicht besuchen konnte. Die meisten Gespräche zwischen El Amrani und der Betreuerin handelten davon, dass er nicht arbeiten durfte, »und dass er irgendwie versucht hat, normal zu leben. Er wollte sich ein normales Leben aufbauen.«

Als entschieden war, dass er in Deutschland keine »legale« Möglichkeit mehr hatte, setzte die Betreuerin sich noch einmal mit ihm über seine Zukunft auseinander. »Er musste sich überlegen, ob er wegen der Ausreisepapiere zur Botschaft fährt. Da war er dann wieder sehr beunruhigt und nervös und hat auch gleich wieder gesagt, dass er nicht nach Marokko zurück wolle.«

Der Kontakt zu ihr brach daraufhin ab. Nouredine El Amrani verschwand eines Tages. Zuvor schrieb er an die Wände des Flüchtlingslagers: »Scheiß Ausländeramt« und daneben den Namen eines Sachbearbeiters. Die Betreuerin erfuhr erst wieder etwas von ihm, als er an der deutsch-französischen Grenze festgenommen und in die Justizvollzugsanstalt Kronach gebracht wurde.

Der Gefängnispfarrer hat noch ein genaues Bild des marokkanischen Flüchtlings vor sich: »Still, scheu und schüchtern (…), fast introvertiert.« Er habe dem Gefangenen eine Zeitung in arabischer Sprache mitgebracht. Damit arabisch sprechende Gefangene aktuelle Zeitungen lesen können, fährt der Pfarrer von Kronach ab und an nach Nürnberg. »Alarmierende Kennzeichen in seinem Verhalten« habe er nicht erkennen können.

Doch eine Veränderung schien wohl mit El Amrani vorgegangen zu sein. Die Beraterin kannte ihn als sehr netten, aber auch hitzigen und aufbrausenden Menschen, als sehr offen, aber auch fordernd und Raum einnehmend. Sie schätzt die Gründe für den Suizid folgendermaßen ein: »Er war sehr emotional, mit Höhen und Tiefen. Es könnte sein, dass er im Gefängnis depressive Züge entwickelte, dass er einfach von einem emotionalen Hoch in ein sehr großes Tief gefallen ist, als er merkte, dass sein ganzes Lebensziel gescheitert ist. Das ist bei vielen Abschiebehäftlingen so. Und dann die Untätigkeit, das Ausgeliefertsein und die Angst vor dem, was daheim passieren kann. All das kann ohne weiteres zu einer Kurzschlussreaktion geführt haben. Besuch hatte er sicher auch keinen – und die tausend Beschränkungen im Gefängnis. Ich weiß aus meiner Arbeit, dass manche in der Abschiebehaft richtig durchdrehen. Das war bei ihm sicher nicht der Fall, denn das hätte ich von der Justizvollzugsanstalt erfahren.«

Auf unsere Frage, ob es jemand vom Gefängnispersonal bemerken würde, wenn ein Gefangener immer stiller und in sich gekehrt würde, und ob das Freunden oder Bekannten mitgeteilt würde, antwortet sie: »Nein, der hat sich dann angepasst. So ein Gefängnis ist ja eine riesige Institution, und solange ein Flüchtling in der Anstalt funktioniert und immer stiller wird, ist alles in Ordnung – der fügt sich ein. Höchstens, wenn einer gar nichts mehr macht, lethargisch wird, dann wird er schon wieder auffällig, dann wird auch reagiert. Aber wenn einer so langsam absackt – nein.«

Anmerkung

(1) Ceutà ist eine spanische Exklave, die an der östlichen Einfahrt zur Straße von Gibraltar liegt. Dort aus versuchen Flüchtlinge aus ganz Afrika eine Passage nach Spanien zu erhalten.

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Heike Herzog/Eva Wälde: Sie suchten das Leben. Suizide als Folge deutscher Abschiebepolitik. Reihe Antifaschistischer Texte/Unrast Verlag, Hamburg/Münster 2004. 205 S., 15 Euro. Die Publikation wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanziell unterstützt. Für dieses Dossier wurden einige der Texte redaktionell gekürzt.