Sie suchten das Leben

Zur Situation von Flüchtlingen in Deutschland. Von Birgit Rommelspacher

Die Anerkennungsquote für AsylbewerberInnen liegt in Deutschland derzeit unter fünf Prozent. In den siebziger Jahren lag sie hingegen bei 90 Prozent. Dieser Unterschied lässt sich sicherlich nicht damit erklären, dass die Flüchtlinge heute weniger unter Not, Unfreiheit und Verfolgung zu leiden hätten, vielmehr scheint mit ihnen sehr unterschiedlich umgegangen zu werden, je nachdem welche Bedeutung sie für Politik und Gesellschaft haben.

Zu Zeiten des Kalten Krieges waren es vor allem Flüchtlinge aus den Staaten des Ostblocks, die in Deutschland Aufnahme suchten. Sie wurden nahezu alle als politische Flüchtlinge anerkannt. Ihre Flucht war gewissermaßen eine Bestätigung der Kritik an der repressiven Politik der sozialistischen Staaten.

Heute hingegen sind Flüchtlinge, wie die Analysen der Mediendiskurse zeigen, in erster Linie zum Symbol für Not und Elend in der Welt und für das Wohlstandsgefälle zwischen Norden und Süden sowie Westen und Osten geworden. Hinter jedem Flüchtling, so wird vielfach suggeriert, stehen Tausende andere, die noch kommen wollen.

Dementsprechend hat nun auch die Politik eine andere Funktion. Sie versteht sich viel eher in der Rolle, die eigenen Landsleute vor der »Invasion der Armen« zu schützen. Und je mehr die Angst vor den anderen geschürt wird, desto mehr kann sie sich als Retterin in der Not empfehlen.

Mit einer solchen Politik der Abschottung sind jedoch nicht nur die Grenzen nach außen, sondern immer auch die Grenzziehungen innerhalb der Gesellschaft gemeint. Diese Grenzen werden vor allem dadurch gezogen, dass die Andersheit der anderen betont und ihre Nicht-Zugehörigkeit immer wieder unterstrichen wird. Das geschieht dadurch, dass Flüchtlinge in speziellen Sammellagern untergebracht werden, in denen sie fernab von den jeweiligen Ortschaften und abgeschirmt durch Zäune und Stacheldraht vom gesellschaftlichen Leben weitgehend ausgeschlossen werden. Die Flüchtlinge werden zudem, wie durch das Gutscheinsystem beim Einkauf, aus der gängigen Alltagspraxis herausgedrängt und durch die Abschiebehaft wie Kriminelle behandelt.

Man könnte diese Maßnahmen auch als eine unbewusste Inszenierung rassistischer Phantasien interpretieren, d.h. dass den Menschen durch diese Regelungen ein Leben aufgezwungen wird, das sich mit den eigenen Vorstellungen von ihnen deckt. Dafür spricht auch, dass etwa die Absenkung des Existenzminimums unter den Sozialhilfesatz und die erbärmlichen Lebensbedingungen in den Lagern u.a. damit begründet werden, dass der Lebensstandard der Flüchtlinge nicht zu sehr von dem in ihren Herkunftsländern abweichen solle.

Flüchtlinge werden zudem durch die Residenzpflicht daran gehindert, Orte aufzusuchen, wo sie Rechtsberatung und Unterstützung bekommen können.

Eine Flüchtlingspolitik, die den Menschen beispielsweise das Grundrecht auf Bewegungsfreiheit systematisch verweigert, stellt die Grundlagen der Demokratie in Frage. Sie konstruiert eine Zweiklassengesellschaft, in der es zur Normalität wird, bestimmten Menschen per Dekret Grundrechte einfach zu entziehen. Wobei der Begriff der »Residenzpflicht« wahrhaftig eine euphemistische Umschreibung für Zwangsmaßnahmen ist, denn Flüchtlinge haben nicht eine fürstliche Pflicht zu residieren, sondern sie werden gegen ihren Willen gezwungen, sich ausschließlich an einem bestimmten Ort aufzuhalten.

So werden also die Grundlagen des liberalen Rechtsstaates ausgehöhlt. Mit dem Asylrecht wurde quasi ein Gesetz geschaffen, das möglichst nicht in Anspruch genommen werden soll – seine Verfahrensregeln und Anwendungspraxis sind auf Abschreckung und Ablehnung ausgerichtet.

Schließlich fragt sich, welchen Stellenwert Prinzipien wie soziale Gerechtigkeit und Gleichheit in dieser Gesellschaft haben, wenn amtlicherseits unterschiedliche Minimalstandards für den materiellen Unterhalt wie auch für die medizinische Versorgung für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen wie in einem Kastensystem festgelegt werden. D.h. es fragt sich, welche politische Kultur hier etabliert wird oder in Deutschland wieder aufgegriffen wird, indem durch eine Fülle unterschiedlicher Maßnahmen andere als Menschen zweiter Klasse behandelt werden.

Es ist ein großer Verdienst der Autorinnen des Buches »Sie suchten das Leben«, dass sie den Schicksalen von Menschen nachgegangen sind, die in dieser Gesellschaft unsichtbar gemacht werden. Selbst ihr Tod wird möglichst vertuscht und verschwiegen. Der Versuch, die Prozesse zu rekonstruieren, die dazu führten, dass diese Menschen ihr Leben aufgegeben haben, macht eindringlich deutlich, wie sehr staatliche Regelungen, die Normalität bürokratischer Abläufe, Entscheidungswillkür und Alltagsrassismus so zusammenwirken können, dass die einzige Möglichkeit zum selbst bestimmten Handeln, die diesen Flüchtlingen noch geblieben ist, die ist, in den Tod zu gehen.

Aber diese Rekonstruktionen zeigen auch, dass es viele sozial und politisch engagierte Menschen wie UnterstützerInnen, RechtsanwältInnen und SozialarbeiterInnen in dieser Gesellschaft gibt, die nicht tatenlos zusehen. Dass auch in der Unterstützungsarbeit rassistische Tendenzen zum Ausdruck kommen können, darauf weisen die Autorinnen in ihrer Einleitung hin.

Es wäre sicherlich interessant und wichtig, auch dieser Frage weiter nachzugehen, um im Sinne einer solidarischen Kritik das Hauptanliegen aller zu fördern, gegen Unmenschlichkeit und Unrecht in dieser Gesellschaft anzugehen.