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50 neue Verfahren drohen: endlich Gleichstand bei den Ermittlungen gegen Polizisten und Demonstranten wegen des G 8-Gipfels in Genua 2001. von federica matteoni

Irgendwas kann mit der italienischen Justiz nicht stimmen. Das jedenfalls hat der italienische Vizepremier Gianfranco Fini festgestellt, am Beispiel der Ermittlungen zu den G 8-Protesten in Genua im Jahre 2001. Wie kann es sein, fragte sich der Chef der post-faschistischen Alleanza Nazionale vergangene Woche, dass insgesamt mehr Polizeibeamte als Demonstranten unter Anklage stehen? Und in der Tat: Nach fast dreijährigen Ermittlungen müssen 76 Polizisten wegen der Gewaltexzesse von Genua vor Gericht erscheinen, aber bislang nur 26 Demonstranten.

Die ermittelnden Staatsanwälte Anna Canepa und Andrea Canciani haben nun jedoch dafür gesorgt, dass zwischen angeklagten Polizisten und Demonstranten ein Verhältnis von Eins zu Eins erreicht wird. Neben dem seit dem 2. März laufenden Gerichtsverfahren gegen 26 angebliche Plünderer, Randalierer und Mitglieder krimineller Vereinigungen soll in den nächsten Wochen ein zweiter G 8-Prozess eröffnet werden. Diesmal seien insgesamt 50 Personen dran, kündigte die Staatsanwaltschaft von Genua an. Die Betroffenen sollen in den nächsten Tagen einen »Bescheid über den Abschluss der Ermittlungen« erhalten. Falls sie keine neuen Beweise vorbringen, wird die Staatsanwaltschaft Antrag auf Verfahrenseröffnung beim Gericht stellen. Unter den Betroffenen sind Mitglieder des italienischen sozialen Zentrums Askatasuna aus Turin, der österreichischen Künstlergruppe VolxTheaterKarawane und des angeblichen »schwarzen Blocks« aus Deutschland. Die meisten von ihnen waren bereits nach den Auseinandersetzungen festgenommen worden, als sie die Stadt verließen; andere wurden später angeblich auf Video- und Filmaufnahmen identifiziert.

Details über die Anschuldigungen sind bislang nur den fünf Italienern bekannt. Ihnen wird vorgeworfen, während des G 8-Gipfels ein Schulgebäude zerstört und geplündert zu haben. Einige Räume der am Stadtrand von Genua gelegenen Schule von Quarto waren von der Stadtverwaltung zur Unterbringung von Protestteilnehmern zur Verfügung gestellt worden. Konkret geht es um die Besetzung einiger Teile der Anlage – eines Kindergartens und der Büroräume – am 19. Juli. In dieser Nacht regnete es in Strömen, und viele Leute fanden keinen Platz mehr in den anderen Räumen.

Die Schule spielt im Rahmen der Ermittlungen eine wichtige Rolle. Diese Anlage ist nach Ansicht der Staatsanwälte das Hauptquartier des so genannten Black Block gewesen, dessen Mitglieder als die Hauptverantwortlichen für die zahlreichen Sachbeschädigungen in der Stadt während des Gipfels gelten. Auch den Leuten der VolxTheaterKarawane wird vorgeworfen, an den Aktionen des schwarzen Blocks beteiligt gewesen zu sein. 16 Mitglieder der Künstlergruppe wurden bereits am Tag nach dem Gipfel außerhalb von Genua verhaftet und dabei, wie viele andere Gefangene auch, physisch und psychisch misshandelt. Nach drei Wochen U-Haft wurden sie nach Österreich abgeschoben und mit einem Einreiseverbot belegt. Die Staatsanwälte sind davon überzeugt, dass in Quarto die gewalttätigsten Demonstranten abgestiegen waren, die Genua am 20. und 21. Juli mit Barrikaden und direkten Aktionen gegen Banken und andere Ziele »verwüsteten«. Zur Inkriminierung der Besetzer der Anlage diente vor allem ein Video, das zeigt, wie aus einem weißen Transporter »Objekte« in die Schule gebracht werden: ganz eindeutig Waffen – meinen Canepa und Canciani – oder, wie es nebulös in der Justizsprache heißt: »waffenähnliche Gegenstände«.

Auch in dem neuen Verfahren werden die Anschuldigungen »Verwüstung« und »Plünderung« lauten, was – anders als der weniger schwer wiegende Vorwurf der »Sachbeschädigung« – ein geplantes Vorgehen unterstellt; dafür drohen Haftstrafen von acht bis 15 Jahren. Diese Tendenz, Angeklagte bereits für einen vermeintlichen Plan verantwortlich zu machen, ist in der italienischen Justiz seit etwa drei Jahrzehnten zu beobachten. Schon bei mehreren der bereits angeklagten Personen wurde versucht, ihre Verantwortung anhand des berüchtigten juristischen Konstrukts der »moralischen Mittäterschaft« festzustellen. Heute lautet der Vorwurf »psychische Beteiligung«, was genau dasselbe bedeutet: Du kennst den und den, also gehörst du dazu. Konkret im Fall von Genua: Du wurdest in der Nähe von dem und dem gefilmt oder fotografiert, also gehörst du zur »kriminellen Vereinigung«. Später allerdings wurde für die 26 bereits Angeklagten die Anschuldigung der Bildung einer kriminellen Vereinigung wegen »formeller Unstimmigkeiten« fallen gelassen.

Dieselbe Strategie, lose Zusammenhänge zu organisierten kriminellen Vereinigungen zu erheben, verfolgen Canciani und Canepa übrigens auch bei den Ermittlungen bezüglich der Briefbomben, die zur Jahreswende bei Vertretern der EU eingingen (Jungle World, 5/04), denn auch für dieses Verfahren sind die beiden Staatsanwälte zuständig sind. Ein erstes Ergebnis dieser Strategie war die Aufnahme von anarchistischen Gruppen in die internationale Terrorismus-Blacklist Anfang März. Noch unklar ist, ob eine ähnliche Konstruktion gegen vier Mailänder Antifaschisten aufgefahren wird, die im März bzw. April festgenommen wurden, nachdem sie drei Monate zuvor in einem Zug auf der Fahrt zu einer Demonstration gegen Faschisten vorgegangen waren. Zwei der Antifas sind noch immer in Haft.

Bei den Ermittlungen gegen Polizei und Carabinieri braucht es hingegen keinerlei Konstrukte, denn die Vorwürfe sind ausgesprochen konkret. Alle Ermittlungen wurden gleichzeitig abgeschlossen: Wegen des blutigen Einsatzes in der Diaz-Schule werden 29 Polizisten – unter ihnen hochrangige Beamte – am kommenden 26. Juni vor Gericht erscheinen müssen. Die Anklagepunkte reichen von schwerer Körperverletzung bis zu falscher Anschuldigung und Vortäuschung einer Straftat. Wegen der schweren Misshandlungen in der Polizeikaserne von Bolzaneto wurde bislang kein Antrag auf Prozesseröffnung gestellt. Mindestens 40 Beamten der Polizei und der Carabinieri werden Menschenrechtsverletzungen und Fälschung von Beweismitteln vorgeworfen. Einige der Opfer wollen an dem Prozess teilnehmen und eventuell als Zivilkläger auftreten.

Die Beamten können ihren Verfahren jedoch optimistischer entgegenblicken als die Demonstranten. In den vergangenen Wochen, während sich die ganze Welt mit dem Thema Folter beschäftigte, entwarf die rechtspopulistische Lega Nord einen Gesetzentwurf, der die Position der Beamten in den G 8-Prozessen erleichtern könnte. Vorgeschlagen wird eine Veränderung der rechtlichen Bezeichnung von Folter. Erst dann, wenn Gefangene wiederholt geschlagen und misshandelt werden, so die Lega Nord, könne man von »Folter« sprechen. Einmalige Misshandlungen seien nicht zu verurteilen, wenn sie »nicht zu brutal« durchgeführt würden. Sollte dieser Vorschlag zum Gesetz werden, schreibt die Bürgerrechtsorganisation »Verità e giustizia per Genova« in einem Appell, würde das nicht nur die G 8-Prozesse betreffen, sondern Italien auch außerhalb eines »zivilisierten juristischen Rahmens« stellen.