Verfassung der Eliten

Der Text der zukünftigen EU-Verfassung ist seit einem Jahr bekannt, doch über seine Inhalte wird keine öffentliche Debatte geführt. Auch nicht vor der Europawahl. von tom kucharz, madrid

Wir kehren nach Europa zurück«, lautet das Motto der sozialdemokratischen Regierungspartei für die Europawahl am kommenden 13. Juni. Als im Dezember die Verhandlungen über die Verabschiedung der EU-Verfassung an den Positionen der spanischen und polnischen Regierungen scheiterte, glaubte man das Thema für einige Zeit vom Tisch. Der spanische Ministerpräsident José Maria Aznar sorgte damals für allgemeines Stirnrunzeln, als er sich mit der Forderung, die in Nizza vereinbarte Stimmenverteilung im Europarat aufrechtzuerhalten, einer Vertragsunterzeichnung in den Weg stellte. Der Machtwechsel in Spanien nach den Bombenanschlägen im März brachte jedoch eine rasche Wende: »Vier Tage, die Europa veränderten«, kommentierten die meisten europäischen Zeitungen nach dem 11. März. Das Vertragswerk soll nun voraussichtlich auf dem EU-Gipfel am 17. Juni unterzeichnet werden. Danach haben die 25 Mitgliedsstaaten zwei Jahre Zeit, um den Text entweder in ihren Parlamenten oder per Volksabstimmung zu ratifizieren. Doch obwohl der Verfassungstext schon seit einem Jahr öffentlich ist, herrscht bezüglich seiner Inhalte allgemeine Unwissenheit; breite gesellschaftliche Debatten zum Thema finden in keinem der EU-Länder statt.

Wozu braucht die EU eine Verfassung, wenn heute bereits die Mehrheit aller nationalen Gesetze aus Brüssel kommt? Ein rein wirtschaftlich ausgerichtetes Projekt wie die EU mit mehr als 450 Millionen Einwohnern kann auf Dauer nicht ohne ein politisches, administratives und vor allem militärisches Rückrat existieren bzw. weltpolitisch dominieren. In diesem Sinne ist die Verfassung ein »natürlicher« Schritt der europäischen Eliten in ihrem Eifer um eine eigene Hegemonialmacht.

Als der französische Konventsvorsitzende, Valéry Giscard d’Estaing, auf dem EU-Gipfel in Thessaloniki im Juni 2003 den Verfassungsentwurf vorlegte, war dieser vor allem vom Irakkrieg und dem gleichzeitig veröffentlichten Strategiepapier des Hohen Vertreters für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Javier Solana, geprägt. Das Papier (Jungle World, 50/03) befürwortet ausländische Einsätze, und beseitigt jeden Zweifel daran, dass die EU zur Supermacht werden will. Man konnte es als Ergänzung zum Verfassungstext interpretieren, der lautet: »Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern« (Art. I-40/3). In welcher Verfassung der Welt steht eine solche Aufrüstungsverpflichtung? Die im Jahr 2007 einsatzbereite Schnelle Eingreiftruppe der EU mit etwa 80 000 Soldaten soll zu »Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen« eingesetzt werden (Art. III-210). Da die EU-Wirtschaft von Erdölimporten und anderen natürlichen Rohstoffen abhängig ist, käme es nicht überraschend, dass diese »Einsätze« zum selbstverständlichen Mittel der europäischen Außenpolitik werden, um den Zugang zu den Weltmärkten und den Naturreichtümern abzusichern.

Auch das kapitalistische Wirtschaftsmodell wird erstmals juristisch festgeschrieben: die Definition aller Politikbereiche im Teil III des Verfassungstextes, der sich mit »Politik und Funktion« der EU befasst, wird dem Grundsatz einer »offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb« (Art. III-69) untergeordnet. Man könnte von einem EU-Strukturanpassungsprogramm sprechen, wie es den »Entwicklungsländern« vom Internationalen Währungsfonds und von der Weltbank auferlegt wurde. Schließlich will die Union bis 2010 die »dynamischste und wettbewerbsfähigste Region der Welt werden«, wie es der Gipfel von Lissabon im Jahr 2000 proklamierte.

Während die Grundrechte und Freiheiten ambivalent, unvollständig bzw. ohne juristische Garantien aufgezählt werden und der Sozialpolitik nur acht der 342 Seiten eingeräumt werden, sind die Maßnahmen zur Gewährleistung der Produktions-, Distributions- und Konsummechanismen der herrschenden Wirtschaftspolitik genau definiert. So bleibt die Rolle der Europäischen Zentralbank weiterhin unangetastet, und die Absätze zur Geld- und Wirtschaftspolitik lesen sich, als hätte sie Wim Duisenberg persönlich diktiert: Null-Defizit und Preisstabilität. Steuer- und Arbeitsmarktpolitik bleiben weiter nationale Angelegenheiten. Lohndumping steht also, vor allem in den östlichen Ländern, weiterhin auf der Tagesordnung. Selbst Trostpflaster wie die Tobinsteuer sind mit der Verfassung unmöglich geworden, da der freie Kapitalverkehr garantiert werden muss (Art. I-41). 

Die Genfer Flüchtlingskonvention taucht zwar auf (Art. II-18), das Schicksal der mehr als 22 Millionen Migranten, die in der EU leben, bleibt jedoch weiterhin den nationalen Ausländergesetzen überlassen. So haben Migranten kein Recht auf Bewegungs- und Residenzfreiheit und auch kein Wahlrecht. Die Unterzeichnung der Europäischen Menschenrechtskonvention sei lediglich angestrebt, wobei keine konkreten Rechte geltend gemacht werden können. Das ist auch im Falle der restlichen Grundrechte aller EU-Bürger der Fall; sie werden von niemandem garantiert. Hinzukommt das »Subsidiaritätsprinzip«, das besagt, dass die Aufgaben auf den Ebenen gelöst werden müssen, auf denen sie sich stellen. Das verhindert eine Rechtslage, welche die Mitgliedsstaaten zwingt, eine einheitliche Regelung in Bereichen wie Bildung, Gesundheit, Renten, Nahrung, Asyl oder Wohnraum zu gewährleisten. Während die Verfassung in der Außen- und Verteidigungspolitik sehr wohl »Treue und gegenseitige Solidarität ohne Abstriche« vorschreibt, sucht man diese Klausel in Bereichen wie der Umweltpolitik vergebens.

Der Verfassungstext bestätigt nicht nur den antidemokratischen Charakter der EU, weil es keine verfassungsgebende Versammlung gegeben hat. Die Kommission hält weiterhin das Monopol der Gesetzesinitiative – besonders in der Wirtschaftspolitik –, das Europaparlament bleibt bedeutungslos, da alle wichtigen Entscheidungen vom Ministerrat getroffen werden, und die Gremien der EU werden zentralisiert, verkleinert bzw. die demokratische Beteiligung der Bürger wird unmöglich gemacht. Die Abstimmungen mit qualifizierten Mehrheiten werden zur Regel, Einstimmigkeit wird zur Ausnahme, was es dem Gespann Deutschland-Frankreich mit wenig diplomatischer Mühe erleichtert, die Gewalt an sich zu reißen, und es England ermöglicht, soziale Rechte oder Steuergesetze, die nicht im Sinne der City of London sind, abzuwehren.