Die 10 in der Elf

Der Mittelfeldregisseur im Wandel der Zeiten. Eine Buchbesprechung von rené martens

Günter Netzer ist bekanntlich in zweifacher Hinsicht einflussreich: als Repräsentant der Sportrechtefirma Infront sowie – dank seiner Fernsehauftritte – als Galionsfigur einer muffigen Ideologie, die mit dem gesunden Fußballvolksempfinden praktisch identisch ist. Wie Netzer tickt, zeigt beispielhaft, was er Ende 2003 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über Michael Ballack gesagt hat: »Dass er ein Dirigent ist, spreche ich ihm ab. Er besitzt nicht die Mentalität dafür, er hat dafür nicht den Charakter… Er hat die Führungsmentalität nicht verinnerlicht. Er sollte sich bemerkbar machen, wenn es am schwierigsten ist für die Mannschaft. Aber in diesen Situationen nimmt er zu wenig Einfluss auf das Spiel. Diese Qualität hat er nicht, daher kann man ihm gewisse Aufgaben nicht übertragen.«

Obwohl sich der Oberkritiker der Veränderungen, die der Fußball durchlaufen hat, natürlich vollkommen bewusst ist, wirken solche Angriffe stets, als lebe er noch in den sechziger und siebziger Jahren. Damals, ja, da gab es noch »Dirigenten«, und Netzer füllte diese Funktion bei Borussia Mönchengladbach und Real Madrid aus, glänzend sogar, wenngleich man das angesichts seiner aktuellen Holzköpfigkeit gar nicht mehr würdigen mag.

Genervt vom omnipräsenten Gerede der Netzer-Fraktion hat sich kurze Zeit später der Franzose Bixente Lizarazu, Weltmeister von 1998 und bis zum Ende der Spielzeit 2003/04 Mitspieler Ballacks beim FC Bayern, in der Presse geäußert: In Frankreich, sagt der Außenverteidiger, spreche man nie von einem Führungsspieler, sondern immer von »cadres«, von mehreren leitenden Spielern. »Wir denken mehr im Kollektiv, die Deutschen setzen mehr auf den Einzelnen.« Einzelstatistiken zum Zweikampfverhalten oder zur Ballkontakthäufigkeit, von deutschen Fernsehsendern nur allzu gern erhoben, hält Lizarazu zum Beispiel für wenig relevant. Wenn einer »Wege für seine Kollegen« laufe – oder, wie Michael Ballack, häufig in die Spitze stürmt, weil er eine Torgelegenheit wittert, die sich zwangsläufig nicht immer ergibt –, schlage sich das in den Zahlen nicht nieder. »Diese Denkweise prägt das Verhalten auf dem Platz, dabei entscheidet oft das Spiel ohne Ball ein Match.«

Wer ein Buch macht, das dem Führungsspieler der alten Schule schlechthin, dem Mittelfeldregisseur, gewidmet ist, balanciert auf einem schmalen Grat: Es gilt, die fußballerischen Leistungen der, nennen wir sie mal: Generation Netzer zu würdigen – ohne dabei aber in jenen Kulturpessimismus abzudriften, demzufolge unter den legendären Regisseuren attraktiverer Fußball gespielt wurde. Heißt: Dem Befund Rechnung zu tragen, dass der lange Ball, einst charakteristisch für einen großen Lenker und der Inbegriff progressiver Spielweise, heute ungefähr so progressiv ist wie so genannter Progressive Rock. »In den zwei bis drei Sekunden, die ein langer Ball unterwegs ist, legen schnelle Deckungsspieler gut zwanzig Meter zurück. Von zwei bis drei Deckungsspielern angegriffen, bleibt dem angespielten Stürmer nur ein Minimalraum zur Ballannahme«, schreibt Klaus Theweleit in »Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell«. Heute »wäre eine relativ ruhige Konstante wie Günter Netzer ein Störfaktor. Genau wie der von ihm geforderte ›Führungsspieler‹ ein Störfaktor wäre. Einer, der den energetischen Fluss des Balls aufhält, indem er Napoleon spielt.«

Die Autoren Rüdiger Barth und Giuseppe di Grazia sind sich der Bedeutung des benannten Balanceakts bewusst gewesen, das lässt sich schon am Aufbau ihrer Hommage »Die 10. Magier des Fußballs« ablesen. Vorn steht Günter Netzer – er ist der Coverheld. Aber dafür hat Michael Ballack quasi das letzte Wort; ein Interview mit ihm schließt das Buch ab. Und im ersten Kapitel würdigt das Autorenduo Pelé, mit dem die klassische 10 geboren wurde, im nächsten Zidane, den großen Regisseur unserer Zeit. Manchmal kommt einem der Überschwang von Barth und di Grazia – beide sind Redakteure beim stern – etwas weltfremd vor. Am Schluss ihres Vorworts zum Beispiel: »Wenn Sie sich mal wieder fragen sollten (…), warum, in drei Teufels Namen, Sie diesem Spiel so verfallen sind: Die 10 ist die Antwort.«

Mir indes ist noch kein Fußball-Enthusiast über den Weg gelaufen, der das auch nur ansatzweise behauptet hätte. Einerseits. Andererseits liefern klassische Zehner immer noch den Stoff für jene Mythen und Märchen, ohne die der Fußball, und sei er noch so modern aufgeführt, eine recht fade Angelegenheit wäre. Auf Festivals war im vergangenen Jahr gelegentlich der norwegische Film »United« zu sein, dessen Schlüsselfigur Bryan Robson ist, der zwischen 1980 und 1994 die zentrale Figur bei Manchester United war. Der Ex-Kicker tritt zwar in keiner Szene auf – auch kein Schauspieler, der ihn mimt –, aber als Held des Protagonisten, eines Losers, der Gabelstapler fährt und immer noch den längst nícht mehr realistischen Traum lebt, Profi zu werden, ist Robson ständig präsent. Es gehört zu den vielen reizvollen Rätseln rund um die Zehner, dass er in Norwegen offensichtlich als große Nummer gilt, während in England sein Ruhm mittlerweile verblasst ist. Als Trainer war er drei Jahre lang ohne Job, bevor er Ende November den Zweitligisten Bradford übernahm, ohne ihn vor dem Abstieg retten zu können.

Kurz nachdem das Buch von Barth / di Grazia auf den Markt gekommen war, wurde der Mythos um die 10 noch einmal unter dramatischen Umständen aufgeladen. Der übergewichtige Diego Maradona rang in Buenos Aires mit dem Tode, und zeitweise wachten mehrere hundert Menschen vor dem Hospital, als sei er ein Heiliger. Die Financial Times Deutschland referierte in diesem Zusammenhang die Anekdote, der Kicker habe gewissermaßen dem Journalisten Gustavo Sierra das Leben gerettet. Als der 2003 im Irak-Krieg von bewaffneten Einheimischen bedroht wurde, fragten jene, »wo wir herkämen«, erzählt Sierra. »Ich antwortete: Argentinien. Und dann sagten sie die magischen Worte: Argentinien? Maradona! Ihre Stimmung schlug um, und sie ließen uns gehen.« Abgesehen von Ronaldo oder Thierry Henry können wohl nur Namen von Mittelfeldstrategen solche Reaktionen auslösen.

Maradona, schreiben Barth / di Grazia, sei »die tragischste 10« gewesen, aber »vielleicht auch die größte«. Zumal er bereits »im Zeitalter der Hochathletik« – drastischer gesagt: als das effiziente Treten und Grätschen Hochkonjunktur hatte – sich beweisen musste, im Gegensatz zu Pelé, der noch relativ bequem schalten und walten konnte, im Gegensatz auch zu den Fußball-Genies von heute, die dank verschärfter Regeln mittlerweile besser vor Kloppern geschützt sind.

In der Einschätzung Maradonas schimmert zwar Pathos durch, aber die Autoren können auch sehr unernst sein. Diese Fähigkeit kommt vor allem in zwei kleinen Lexika zum Tragen: Halbgroße und zu Recht vergessene Zehner werden hier abgefrühstückt, meist auf elegante, gern aber auch auf fiese Art. Beim Eintrag »Ciriaco Sforza« ist vermerkt: »Schweizer Stinkstiefel. Begabt, aber unerträglich. Wird seit Jahren zwischen Bayern München und Kaiserslautern hin- und hergeschoben, und keiner will ihn haben.«

Folgt man dem, was der Trainer Ralf Rangnick in einem Gastbeitrag schreibt – der Spielmacher von heute, sagt er, ist am ehesten der zentrale defensive Mittelfeldspieler, auch »Staubsauger« genannt –, dann müssten die Autoren ihre nächste Abhandlung eigentlich der Nummer 6 widmen. Dass es dazu wohl nicht kommen wird, liegt auch an der Beliebigkeit der Rückennummernverteilung heutzutage. Zidane etwa trägt nur in der französischen Auswahl die 10; bei Juventus hatte er die 21, bei Real trägt er die 5, und sein Mannschaftskamerad Beckham – gewiss kein Zehner, aber ein gutes Beispiel für die abnehmende Bedeutung von Nummern – läuft mit der 23 auf.

Der letzte Star, der auf Nummern Wert legte, war wahrscheinlich der Brasilianer Rai, der von 1993 bis 1998 bei Paris St. Germain spielte und zeitweilig Kapitän der Selecao war. Er, so erfahren wir bei Barth / di Grazia, ließ sich von den Franzosen vertraglich zusichern, dass er die 10 bekam.

»Die 10. Magier des Fußballs«, Malik, München 2004, 243 S., 16,90 Euro