Freie Fahrt zum Pazifik

Boliviens Bevölkerung stimmt über die Zukunft des Gasexportes ab. Wird das schwächste Glied Lateinamerikas zum failed state? von andrés pérez gonzález, santiago de chile

Wahlurnen verbrennen, Straßen blockieren, Abstimmungslokale lahm legen – das angekündigte Repertoire bolivianischer sozialer Bewegungen ist groß. Schließlich gilt es am kommenden Sonntag, ein landesweites Referendum effektiv zu boykottieren.

An diesem 18. Juli soll die Bevölkerung über die Zukunft des bolivianischen Gasgeschäfts entscheiden. Weil aber von einer Wiederverstaatlichung der in den neunziger Jahren privatisierten Energieindustrie erst gar nicht die Rede ist, hat Boliviens Gewerkschaftsdachverband COB entschieden, die von der Regierung Carlos Mesa organisierte Volksbefragung zu behindern oder unmöglich zu machen. Die Fragen seien »trügerisch« und hätten keinen Bezug zur Verstaatlichung, hieß es aus den Reihen des COB. Wenn überhaupt, solle man sich enthalten oder ungültig wählen. »Verstaatlichung jetzt«, dürfte demnach auf vielen der Stimmzettel zu lesen sein.

Für Präsident Mesa geht es ums Ganze. Er ist im vergangenen Oktober nach dem so genannten Gaskrieg an die Macht gekommen. 80 Menschen starben bei diesen Auseinandersetzungen, nachdem verarmte Kokabauern und Indígenas aus dem Hochland auf die Straße gegangen waren, um gegen die wirtschaftsliberale Politik von Mesas Vorgänger Gonzalo Sánchez de Lozada zu protestieren. Im Vordergrund stand die Ablehnung der Regierungspläne, bolivianisches Erdgas über den bei vielen verhassten Erzfeind Chile nach Mexiko und in die USA zu liefern. Die Protestierenden forderten die Enteignung der Gaskonzessionen, die sich zu 90 Prozent in den Händen internationaler Konzerne befinden.

Darum geht es der radikalen Opposition auch am Sonntag. Doch trotz der Mobilisierungen bekräftigte Staatsoberhaupt Mesa jüngst in einem Interview mit einem chilenischen Fernsehsender, dass er seine Regierungszeit nicht vor dem Jahr 2007 beenden werde. Er wolle als »Präsident in Erinnerung bleiben, der seine Arbeit in den schwierigsten Zeiten des Landes verrichtet hat«.

Der chilenische Analytiker und Buchautor Raul Sohr hält nicht allzu viel von dieser Selbsteinschätzung. »Die Situation in Bolivien ist extrem heikel. Der Präsident ist sehr geschickt im Umgang mit der Krise, aber er hat kein Mandat«, sagte er der Jungle World. Die Amtseinsetzung von Mesa sei eine verfassungsmäßig begründete Lösung gewesen, um das demokratische System zu retten. Als Staatsoberhaupt habe er aber keine Legitimität.

Das Referendum konnte der Präsident mit Hilfe der Partei seines Vorgängers durchsetzen. Auch die Bewegung zum Sozialismus (Mas) des Koka-Bauern Evo Morales unterstützte Mesas Entwurf. Im Gegensatz zu radikaleren Gruppen wie der Gewerkschaft der Hochlandbauern (CSTUB) setzen Morales und seine Bewegung auf Kooperation mit Mesa, der zwar die Steuern für die internationalen Energiekonzerne erhöhen, bereits unterschriebene Verträge jedoch nicht antasten und über Verstaatlichung erst gar nicht sprechen will.

Viele internationale Beobachter betrachten die Entwicklung in dem Andenstaat mit Besorgnis. So befürchtet der argentinische Verteidigungsminister José Pampuro, dass Bolivien zum Libanon des amerikanischen Südkontinents wird. Schließlich werde im Rahmen der Aufstände regelmäßig die Macht selbst der bedeutendsten Regierungsautoritäten in La Paz radikal in Frage gestellt.

Tatsächlich geschehen immer wieder Dinge, die dafür sprechen, dass der Staat als Akteur in vielen Orten Boliviens nicht existiert. So wurde beispielsweise Mitte Juni Benjamín Altamirano, der Bürgermeister des Dorfes Ayo Ayo, Opfer der Lynchjustiz der Bevölkerung. Dieser Mord zeigt den weiterhin großen Einfluss der früher regierenden kommunalen Autoritäten. Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Ayo Ayo eine 30köpfige Einheit von Soldaten von einer aufgebrachten Gruppe Indígenas gelyncht. Es war die blutigste Episode des Föderalkrieges von 1899.

»Der Mord an Altamirano ist eine Bestätigung dafür, dass die größten Probleme Boliviens nicht gelöst sein werden, bevor nicht entweder eine aufständische Etappe oder das Ende des Staates eingeleitet wird«, schrieb der bolivianische Journalist Sergio Molina Monasterios in der konservativen chilenischen Zeitung El Mercurio. Der Publizist kritisiert die Armut der Indígenas und den sozialen Ausschluss großer Teile der Bevölkerung. Durch die Aufstände der Indígenas aus dem Hochland werde deutlich, dass das Land seine ethnisch bedingten Probleme nie im Interesse eines gemeinsamen Staates gelöst habe. »Deshalb handelt es sich um einen failed state auf dem Weg der Auslöschung«, meint Molina.

Die Zerstörung des Staates droht auch von anderer Seite. Wohlhabende Kreise aus dem relativ reichen Santa Cruz de la Sierra setzen auf einen weiteren Volksentscheid. Auf einer Demonstration forderten im Juni rund 100 000 Menschen mehr Autonomie für die tropische Tiefebene, in der die Geschäftsstadt liegt. Mit dem verarmten und von Unruhen gebeutelten Hochland wollen sie nichts mehr zu tun haben.

Mesa bleibt angesichts dieser Zerrissenheit nur der Rückgriff auf patriotische Ressentiments, um die Bevölkerung zusammenzuhalten: die über 100 Jahre alte Forderung an Chile, den Bolivianern ihren Meerzugang zurückzugeben. Der Andenstaat verlor 1879 im Salpeterkrieg seinen Küstenstreifen an das südliche Nachbarland.

»Chile muss verstehen, dass der Prozess der regionalen Integration eine Lösung in dieser Frage erfordert«, sagte Mesa im Juni der Zeitschrift Business Week. Den Chilenen hat Mesa bereits günstiges Gas angeboten, um ihnen im Gegenzug einen Zugang zum Pazifik abzuringen. Über diesen Vorschlag sollen die Bolivianer und Bolivianerinnen nun ebenfalls am kommenden Sonntag ihr Votum abgeben. Für CSTUB-Führer Felipe Quispe hat Mesas Bezug auf das nationalistische Gemüt vor allem einen Grund: »Die Leute sollen ans Meer denken und nicht daran, gegen die Regierung zu demonstrieren«, sagte er der Jungle World. Die CSTUB zählte zu den wichtigsten Kräften des Aufstands vom vergangenen Oktober.

Mesa hingegen gibt sich zuversichtlich, er rechnet mit 70 Prozent Rückhalt in der Bevölkerung. Spätestens wenn er das Referendum gewinne, werde er »höchste Legitimität« besitzen. Darauf setzt man offenbar auch beim internationalen Akteur Nummer eins in Bolivien, der Regierung der USA. Der US-amerikanische Oberbeauftragte für die westliche Hemisphäre, Roger Noriega, hat jüngst erklärt, dass es für die Regierung von Präsident George W. Bush »gesichert sei, dass Staatschef Mesa seinen konstitutionellen Auftrag zu Ende führen wird«.

Das jedoch setzt voraus, dass der bolivianische Präsident mit seinem Referendum das Rennen macht. Ein UN-Entwicklungsprogramm machte die Entwicklung der Energieindustrie als zentralen Faktor für einen Wirtschaftsaufschwung in Bolivien aus. Sollte Mesa scheitern, dürfte es um den Gasexport jedoch zunächst ebenso schlecht stehen wie um die nationale Einheit. Der Präsident selbst ließ nach Angaben der lateinamerikanischen Nachrichtenagentur Púlsar wissen, dass er im Falle einer Niederlage von seinem Amt zurücktreten werde.