Mehrarbeit wird exportiert

Bei den Deutschen abgeguckt: Frankreichs Wirtschaft freut sich über die Debatte um Arbeitszeitverlängerungen. von bernhard schmid, paris

Selten war das deutsch-französische Verhältnis so gut wie heute. Wenn es darum geht, soziale Rechte zurückzuschrauben und mit dem entstehenden Ärger fertig zu werden, kann man schließlich viel voneinander lernen. So entdeckten die Mitglieder des CDU-Wirtschaftsrats jüngst ihr Herz für einen Franzosen: Premierminister Jean-Pierre Raffarin wurde am 1. Juli in Berlin der Ludwig-Erhard-Preis verliehen. Sein Verdienst? Sein Eintreten »für Reformen bei den Renten, bei der Gesundheit und dem Arbeitsrecht«, und das, lobte der Vorsitzende Kurt Lauk in seiner Festansprache, »gegen den massiven Widerstand der Gewerkschaften«.

So sollen Lohnabhängige, um eine volle Rente zu erhalten, künftig 42,5 Beitragsjahre schuften, während derzeit bereits weniger als die Hälfte der Franzosen über 50 einen Job hat. Gesundheitsminister Philippe Douste-Blazy plant, ein Fünftel der Krankschreibungen im Lande als »Blaumacherei« zu entlarven und so 800 Millionen Euro einzusparen. Wer blaumacht, soll künftig bestraft werden, genau wie ein Arzt, der fälschlich krankschreibt. Eine Praxisgebühr, ähnlich wie in Deutschland, ist von der Nationalversammlung bereits in erster Lesung beschlossen worden. Und eine »Kommission zur Vereinfachung des Arbeitsrechts«, die unter Vorsitz des Arbeitsdirektors der Renault-Automobilwerke einen Bericht vorlegte, will das Arbeitsgesetzbuch mit dem Presslufthammer reformieren. Das ist doch eine Medaille wert.

Die Bewunderung ist wechselseitig. »Deutschland handelt und reformiert, Frankreich debattiert«, beklagte sich vor einigen Tagen der Pariser Figaro. Besonders gefällt der konservativen Tageszeitung die so genannte Hartz-Reform. Als »das neue rheinische Modell« feierte das Wochenmagazin Valeurs actuelles die deutschen Reformpläne. Die auf Wirtschaftsthemen und Militärpolitik spezialisierte Zeitschrift ist seit Jahren das Sprachrohr des mächtigen Rüstungsindustriellen Serge Dassault. Einer Umfrage zufolge wählen 65 Prozent ihrer Leser konservativ und weitere 25 Prozent rechtsextrem. Gerade von den Rechten werden die rot-grünen Pläne in Deutschland bejubelt.

Besondere Vorbildwirkung hat Deutschland nach Ansicht des Wochenmagazins vor allem wegen seiner Arbeitszeitpolitik. Der Fall Siemens bringt so manchen in der französischen Wirtschaft zum Schwärmen. Der deutsche Elektronik- und Rüstungsgigant erreichte am 24. Juni, dass die IG Metall ein Abkommen unterzeichnete, das die Arbeitszeit in zwei Siemens-Betrieben mit 4 000 Beschäftigten in Nordrhein-Westfalen von 35 auf 40 Stunden verlängert – ohne Lohnausgleich.

»Aufgrund der realen Verflechtung beider Ökonomien«, meint Valeurs actuelles, »mit Unternehmen der Spitzentechnologie, die auf beiden Seiten des Rheins arbeiten«, könne dieses Signal nicht ohne Auswirkungen auf Frankreich bleiben. Und tatsächlich hat die in Deutschland unter Berufung auf die Konkurrenz der EU-Beitrittsländer losgetretene Entwicklung unmittelbare Auswirkungen auf die Nachbarländer. Neben der BRD sei auch in Frankreich, Belgien und Österreich durch das jüngste Abkommen bei Siemens eine neue Debatte über die Arbeitszeitverlängerung ausgelöst worden, notiert die Wirtschaftszeitung Les Echos.

Auf französischem Boden spielt derzeit die Niederlassung des deutschen Unternehmens Bosch in Vénissieux, einer Vorstadt von Lyon, den Vorreiter in der Diskussion um Arbeitszeitverlängerung. Der weltweit agierende Konzern mit Hauptsitz in Stuttgart produzierte bisher bei Lyon Dieselmotoren, doch diese stehen nicht mit den neuen Umweltverträglichkeitsregeln im Einklang. Um den Standort Vénissieux an die neuen technischen Normen anzupassen und weiter zu produzieren, verlangte Bosch eine Senkung der Lohnkosten um zwölf Prozent – sonst könne man auch in die Tschechische Republik gehen. Zwei Gewerkschaften, die rechtssozialdemokratische CFDT und die Vertretung der höheren Angestellten, die CGC, fanden sich zu einem Abkommen bereit, das die Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich von 35 auf 36 Stunden verlängert. Das widerspricht eigentlich geltenden gesetzlichen Regeln, soll aber mit einer Urabstimmung der 820 Beschäftigten abgesegnet werden.

In Frankreich ist eine Arbeitszeitverlängerung per Betriebsvereinbarung schwerer zu erreichen als in Deutschland, da die wöchentliche oder zumindest die Jahresarbeitszeit und die Höhe der Überstundenzuschläge gesetzlich festgelegt sind. Um den Unternehmen die »Reform« von 1998/99 schmackhaft zu machen, hatte die Regierung Jospin zwei Angebote an die Unternehmer in ihr Gesetzeswerk aufgenommen: erstens die Möglichkeit, die wöchentliche Arbeitszeit – je nach Bedarf der Unternehmen – im Lauf des Jahres nach oben variieren zu lassen, wenn ein Betriebsabkommen dies vorsieht; und zweitens starke Nachlässe für die Betriebe bei den Sozialabgaben und Lohnnebenkosten, für die teilweise der Staat einspringt.

Doch ein Flügel innerhalb der Regierungsparteien forderte wiederholt die Abschaffung der »dirigistischen Reform« der unter Jospin tätigen Arbeitsministerin Martine Aubry. Mitte Juni schien sich der profilierungssüchtige Wirtschaftsminister Nicolas Sarkozy dem anzuschließen. Vor mehreren hundert Parlamentariern wetterte er heftig gegen die »Absurdität, Milliarden dafür auszugeben, die Franzosen am Arbeiten zu hindern«. Er wolle das 35-Stunden-Gesetz und die mit ihm verbundenen staatlichen Zahlungen abschaffen und so den Haushalt entlasten. Als Gegenleistung für die Unternehmer sollten die Lohnzuschläge bei Überstunden abgeschafft werden. Daraufhin meldete sich sofort der Arbeitgeberpräsident, Baron Erneste-Antoine de Seillière, in der Wirtschaftszeitung La Tribune zu Wort. Eine Streichung der seit Jospins Reform gewährten Abgabensenkungen für die Unternehmen komme nicht in Frage, sagte er; gleichzeitig stellte er die 35-Stunden-Woche in Frage.

Wahrscheinlich ist also, dass sich die derzeit von Premierminister Raffarin favorisierte Lösung durchsetzen wird: Das Arbeitszeitgesetz von 1999 soll demnach nicht einfach gestrichen werden; wohl aber sollen die Branchen oder Betriebe durch von ihnen ausgehandelte »Öffnungsklauseln« eine nach oben hin abweichende Arbeitszeitpolitik festlegen können. Ein »Kompromiss«, der zwar nicht so radikal aussieht, aber ganz im Sinne der Unternehmer ist.