Liest du noch oder wohnst du schon?

Schwedens Alternativblatt Sesam will die Migranten integrieren, das Ordfront Magasin hält die Ideale von 1968 hoch. Dritter Teil einer Serie über linke Medien in Europa. von bernd parusel

Bei der Stockholmer Medienkooperative Freie Zeitungen verdienen alle 20 Redakteure, Reporter, Anzeigenverkäufer und Abonnementsbetreuer das gleiche. Ihr Einheitslohn liegt deutlich unter dem schwedischen Durchschnittseinkommen. Die Angestellten geben das gerne zu, denn Fria Tidningar braucht das von den Löhnen abgesparte Geld für sein Vorhaben, in die von bürgerlichen, liberalen und sozialdemokratischen Medien dominierte schwedische Presselandschaft vorzudringen.

Ein paar Erfolge hat man schon erzielt. Seit 2001 wird die Wochenzeitung Stockholms fria herausgegeben, und im gleichen Jahr wurde Sesam übernommen, ein Wochenblatt, das sich vor allem an MigrantInnen wendet. Bis 2006 soll außerdem eine landesweite »freie Zeitung« vertrieben und mehrere alternative Lokal- und Regionalzeitungen sollen gestartet werden. Gegründet wurde Fria Tidningar von fünf JournalistInnen – heute hat sich die Zahl der Angestellten bereits vervierfacht –, die der Tendenz zu Konzentration und Vereinheitlichung in der schwedischen Presse entgegensteuern wollen. Seit Jahren geht die Anzahl der Zeitungen zurück, auch wenn im Norden immer noch weit mehr gelesen wird als im Rest der Welt. Wie einige weitere alternative Medienprojekte tritt man auch mit dem Ziel an, Alternativen zur »Mainstream-Presse« zu schaffen und Themen zu beleuchten, die in den etablierten Zeitungen keine oder zu wenig Aufmerksamkeit bekommen. Dazu zählen nach Meinung der Gründer von Fria Tidningar um Lennart Fernström und Björn Danielsson beispielsweise Umweltschutz, Demokratie, Frieden, Gleichstellungsthemen sowie Gerechtigkeits- und multikulturelle Fragen.

Die Redaktion verfolgt diese Linie konsequent; selten bilden die Schlagzeilen der Alternativzeitungen das ab, was die anderen Printmedien gerade behandeln. Wenn im konservativen Svenska Dagbladet dieser Tage darüber debattiert wird, ob sich die bürgerlichen Parteien Schwedens vereinigen sollten, um die dominierenden Sozialdemokraten endlich an der Macht ablösen zu können, berichtet Stockholms Fria über die Fußball-WM der Obdachlosen.

Recht erfolgreich läuft auch die von Fria Tidningar herausgegebene Einwandererzeitung Sesam. Ihre Verbreitung ist zu einem Großteil den in fast jeder Gemeinde durchgeführten Schwedischkursen für MigrantInnen zu verdanken. Viele der dafür zuständigen Schulen haben Sesam abonniert, sie ist häufig die erste Zeitung, die Einwanderer mit geringen Sprachkenntnissen lesen können. Die Autoren halten sich strikt daran, sich mit einfachen Worten und in kurzen Sätzen auszudrücken. Schwierige Begriffe werden in Randspalten erklärt. Das multikulturelle Redaktionsteam behandelt vorzugsweise Themen, die für Einwanderer und Flüchtlinge nützlich sein sollen: Migrations- und Asylpolitik, soziale Probleme, Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt oder Ereignisse in Herkunftsländern in Schweden ansässiger Flüchtlinge. Auf zwei Debattenseiten tauschen Leser ihre Erfahrungen im Aufnahmeland aus, und in den Rubriken »Alltag« und »Fragt uns« versuchen Redakteure, Antworten auf Leserfragen zu geben. Meist handelt es sich um aufenthalts- oder sozialrechtliche Themen wie Familiennachzug oder die Frage, unter welchen Umständen die Arbeitslosenhilfe oder Sozialbeiträge gewährt werden.

Sesam-Redakteur Ivan Garcia zufolge will man aber auch dazu beitragen, Vorurteile, die Schweden gegenüber Einwanderern haben, abzubauen. »Entweder bist du ein armer Sozialhilfeempfänger oder du machst guten Kebab«, fasst Garcia die Stereotype bündig zusammen. Nach Ansicht des schwedischen Integrationsbeauftragten Andreas Carlgren ist die Einwandererzeitung eine wichtige Lern- und Integrationshilfe. Das bestätigen auch viele Lehrer, die Schwedisch für Ausländer unterrichten.

Es gibt jedoch auch Kritik. So wird Sesam immer wieder vorgeworfen, dass die Zeitung ihre Monopolstellung bei den Migranten ausnutze, um sie einseitig zu informieren. In den Ausgaben vor der Europawahl ließen die Autoren keinen Zweifel daran, dass die EU ein undemokratisches und neoliberales Machtgebilde sei, aus dem Schweden so bald wie möglich wieder austreten müsse. Regelmäßig berichtet eine Reporterin über die in ihren Augen menschenrechtswidrige Besatzungspolitik Israels in Palästina; Beiträge, die dagegen den israelischen Alltag unter der Gefahr verheerender Selbstmordattentate oder die Vorzüge der europäischen Integration thematisieren würden, fehlen. So hat die Zeitung nicht nur eine einfache Sprache, sondern auch recht einfache Wahrheiten anzubieten. Zwar kann jeder, der es wissen will, herausfinden, dass Sesam von einer sich als links verstehenden Kooperative mit einer eigenen Ideologie herausgegeben wird. Nach außen wird jedoch nur damit geworben, einfach zu verstehende »Nachrichten« in leichtem Schwedisch anzubieten.

Für viele Zeitungsleser bedeuten Sesam und die anderen freien Zeitungen dennoch eine wichtige Ergänzung zur etablierten liberalen, bürgerlichen oder sozialdemokratischen Presse. Dagens Nyheter, die auflagenstärkste der seriösen überregionalen Zeitungen, Göteborgs Posten oder das Sydsvenska Dagbladet vertreten liberale Positionen und unterstützen in Sozial- und Wirtschaftsfragen eher die Unternehmer- und die Deregulierung als Arbeiter- und Gewerkschaftsinteressen. In der Boulevardpresse, die trotz krachiger Titel manchmal auch einen ernst zu nehmenden Kommentar bietet, konkurrieren die Abendzeitungen Aftonbladet und Expressen um die Oberhand; die erste mit konservativem Hintergrund, die andere, mit einer Auflage von rund 440 000 Exemplaren die größte Zeitung Skandinaviens, mit sozialdemokratischer Orientierung.

Die Spaltung der Boulevardpresse in zwei ähnliche Formate, von denen das eine rechts, das andere linksliberal ist, ist in ähnlicher Form auch bei den Regional- und Lokalzeitungen zu beobachten. In der mittelschwedischen Region Dalarna beispielsweise richtet sich DalaDemokraten an die sozialdemokratische Arbeiterschaft, der Rest der Lokalpresse an bürgerliche Leser. In der Provinz Gävleborg konkurriert das Gefle Dagblad mit dem linken Arbetarbladet (Arbeiterblatt).

Wer machtkritische Positionen sucht, wird indes weder bei der Lokalpresse noch in den großen überregionalen Publikationen oder den gängigen Gewerkschaftsblättern fündig. Eine Ausnahme ist die syndikalistische Gewerkschaft SAC mit ihrer Wochenschrift Arbetaren. Der Arbeiter erscheint seit 1922, verfügt jedoch über ein modernes, vielfarbiges Outfit und behandelt sowohl »klassische« Themen des Arbeitslebens wie beispielsweise Tarifpolitik als auch Fragen, die ansonsten wenig Beachtung finden, wie die Tatsache, dass Frauen und Ausländer deutlich weniger verdienen als schwedische Männer, auch wenn sie die gleiche Arbeit verrichten.

Die Redaktion des Arbeiters bezeichnet ihre Zeitung als »unabhängig syndikalistisch«. Man setzt sich unter anderem für »gewerkschaftliche Rechte« ein und will »Unterdrückung und Diskriminierung, Hierarchien und Klassengegensätze« bekämpfen. Wie Chefredakteurin Anna-Klara Bratt und ihre Kollegen auf der Webseite www.arbetaren.se ironisch hinzufügen, interessieren sie sich aber auch für »kleine politische Sekten mit weniger als drei Mitgliedern« und »manchmal für Sport – je nachdem, wer gerade in der Redaktion sitzt«.

Als Alternative zum Mainstream lesen rund 93 000 Schweden auch die Zeitschrift Ordfront Magasin (Wortfront-Magazin) des gleichnamigen linken Medienhauses. Das nach den Worten der Herausgeber »große radikale Monatsmagazin für Kultur und Gesellschaft« richtet sich an alle, »die alternative Perspektiven suchen«. Organisiert ist Ordfront als Verein, dessen Mitglieder einen Buchverlag führen, mehrere Zeitschriften herausgeben, aber auch Kurse über »kreatives Schreiben« oder Lyrik veranstalten. Seine Wurzeln hat das Blatt in der 68er-Bewegung. In den neunziger Jahren wuchs der Verein dann gewaltig an, von 4 000 auf heute 30 000 Mitglieder und von sechs auf 35 MitarbeiterInnen. Zum ökonomischen Erfolg der Ordfront hat beigetragen, dass der Verein die beliebten Krimis Henning Mankells herausgeben konnte. Daneben werden Bücher von Michael Moore und Arundhati Roy, Naomi Klein oder Noam Chomsky ins Schwedische übersetzt und verlegt.

Angesichts dieser Autorenriege wirkt es zunächst pathetisch, wenn Ordfront-Sprecherin Christina Hagner über die Arbeit ihres Vereins sagt: »Wir geben denen das Wort, die sonst nie gehört werden, und erzählen von denen, die nicht gesehen werden.« Während es aber anderswo, etwa im deutschsprachigen Raum, selbstverständlich ist, Übersetzungen solcher Verfasser problemlos im Buchhandel zu bekommen, rechnet es sich in einem Land mit nur knapp neun Millionen Einwohnern nicht immer, fremdsprachige Bücher, für die sich nur ein kleiner Teil der lesenden Bevölkerung interessiert, zu übersetzen. Außerhalb der großen Städte bieten schwedische Buchhandlungen oft nur ein recht ärmliches Sortiment aus ein paar Koch- und Schulbüchern, Heimatgeschichte, Krimis oder einigen Bestsellern feil. Übersetzungen linker Autoren aus dem Ausland sind alles andere als selbstverständlich. Da Ordfront nicht wie die Branchenriesen Bonnier oder Kinnevik primär mit Gewinninteresse arbeitet, kann das Verlagshaus wegen seiner Vereinsstruktur, ähnlich wie Fria Tidningar oder Arbetaren, dazu beitragen, die schwedische Medienlandschaft mit zumindest einigen Positionen links der Sozialdemokratie zu versorgen.