Als die Bestien schwiegen

Ein Spielfilm porträtiert den Kindermörder Jürgen Bartsch und das klaustrophobische Milieu, in dem er aufwuchs. Das Buch, das als Vorlage diente, ist nicht minder beeindruckend. von heike runge

Die Geschichte ist immer wieder erzählt worden. Vom Täter in Verhörprotokollen und Briefen; von der Presse, als Sensationsstory und als Tragödie; in Aufsätzen, Features und Büchern. Vor allem ist die düstere Geschichte des Kindermörders Jürgen Bartsch Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger in den Familien erzählt worden. Kinder hörten von ekelhaften Dingen, Orte und Namen prägten sich ein und wurden zu Chiffren des Widerlichen, Absonderlichen, Bösen. Wenn es ein Verbrechen gibt, von dessen Grauen sich die Deutschen rückhaltlos faszinieren ließen, dann sind es die Morde des Metzgersohnes Jürgen Bartsch, der zwischen seinem 15. und 20. Lebensjahr vier Kinder regelrecht abschlachtet und später, nach seiner Festnahme, im Alter von 29 Jahren, während seiner Kastration, die er selbst gewünscht hat, durch einen Narkosefehler im Krankenhaus stirbt. In der Zeit nach seiner Verhaftung 1966 und seinem Tod 1976 wurden immer neue Details bekannt, und jedes für sich war so ungeheuerlich, dass es einen neuen Abgrund aufzureißen schien. Es ist also kein Wunder, dass diese Geschichte auch heute noch erzählt wird.

Bereits 1984 kam der großartige Dokumentarfilm »Nachruf auf eine Bestie« von Rolf Schübel in die Kinos, der Zeitzeugenaussagen und Tonbandprotokolle der Gespräche zwischen dem Täter und seinem psychiatrischen Gutachter montiert und damit die Lebensgeschichte des Mörders rekonstruiert. In dem Film geht es immer wieder um den verwirrenden Widerspruch zwischen dem Bild vom »Teufel in Menschengestalt«, das die Boulevardmedien verbreitet hatten, und dem Eindruck, den Bartsch bei Gutachtern, Ärzten und Juristen hinterließ, die ihn als sensibel, liebenswürdig und intelligent beschrieben.

Überwintern der Nachkriegszeit

Dass in diesem Widerspruch die eigentliche Brisanz des Falls verborgen lag, hatte wohl als erster der US-amerikanische Journalist Paul Moor erkannt. Moors Buch »Jürgen Bartsch. Selbstbildnis eines Kindermörders« lieferte die Vorlage für den Spielfilm des Regisseurs Kai S. Pieck mit dem Titel »Ein Leben lang kurze Hosen tragen«, der im vergangenen Jahr bereits in der ARD gezeigt wurde und nun ins Kino kommt.

Vom ersten Bild an gelingt es dem Film, eine Atmosphäre äußerster Beklemmung zu schaffen und eine Ahnung davon zu vermitteln, wie die Nachkriegszeit in den Familien und den sozialen Institutionen der sechziger und siebziger Jahre überwintern konnte. Videoaufzeichnungen in Schwarzweiß zeigen den 1972 in der Landesheilanstalt Eickelborn untergebrachten 26jährigen Jürgen Bartsch (Tobias Schenke), der während einer Therapiesitzung über sich, seine Eltern und seine Taten Auskunft gibt. Versprengt gibt es Einblendungen von Tagebucheinträgen, in denen es zumeist um Bartschs Vorstellungen von einer besseren und menschlicheren Welt geht. Zentrales Thema sind seine Homosexualität und die Kindererziehung. In einem Zitat heißt es, dass man Kinder seiner Meinung nach nie schlagen dürfe.

Jürgen Bartsch wurde oft geschlagen, von seiner Mutter und vom Personal in den Heimen, in die er immer wieder abgeschoben wurde. Seine Kindheit wird in Rückblenden erzählt; die Abfolge der Spielfilmszenen beginnt jedoch mit seiner ersten Mordtat.

Sebastian Urzendowsky spielt den jungen Jürgen Bartsch, der im Alter von 15 Jahren sein erstes Verbrechen begeht, mit einer kindlichen Hingabe, die einem Schauer über den Rücken treibt. Die Spielfilm-Künstlichkeit schafft die Freiheit, die Figur des jugendlichen Täters unbefangen zu sehen; sein Außenseitertum, die erstickende Enge seines auf Arbeit und Anstand fixierten Elternhauses, die sadistische Erziehung im katholischen Internat und der Missbrauch durch einen Priester, die als traumatisch erlebte Arbeit als Metzger. Konsequent schildert der Film die Geschichte aus der Perspektive des Jürgen Bartsch. Das klaustrophische Wohnhaus mit dem düsteren Mobiliar, mit Holztruhen wie Särge; ein Haus, dessen Fenster niemals offen zu stehen scheinen, sieht man mit den angstvollen Augen des Kindes, dem bei der geringsten Übertretung von Sauberkeitsvorschriften mit Prügeln gedroht wird. Sowohl die Dialogszenen des Spielfilm-Parts als auch die Aussagen des Monolog-Parts lehnen sich eng an authentisches Material an und zitieren Aussagen, die Bartsch in Briefen an den Journalisten Paul Moor gemacht hat.

Selbstporträt des Mörders

Als Jürgen Bartsch im Juni 1966 festgenommen wurde, hatten nahezu alle deutschen Zeitungen auf ihrer Titelseite über den »Kirmesmörder« berichtet, der in einem anständigen Handwerkerhaushalt bei Essen von treusorgenden Eltern großgezogen worden war und trotz bester Voraussetzungen zur »Bestie« wurde, die kleine Jungen in eine Höhle lockte, sich dort an ihnen verging und sie dann tötete und zerstückelte.

Es war bezeichnenderweise ein amerikanischer Journalist, der der Geschichte vom guten deutschen Elternhaus misstraute und dessen Recherchen es entscheidend mit zu verdanken ist, dass diese Darstellung korrigiert wurde.

Paul Moor hatte ein besonderes Interesse an dem Fall entwickelt und als Reporter am Prozess gegen Bartsch 1967 in Wuppertal teilgenommen. Er begann einen Briefwechsel mit dem Häftling, aus dem sich eine Art Freundschaft entwickelte. Auf Basis dieses Materials veröffentlichte Moor 1972 sein Buch »Das Selbstporträt des Jürgen Bartsch«, das später durch zahlreiche Briefe und Aussagen ergänzt unter dem Titel »Selbstbildnis eines Kindermörders« (1991) erschienen ist und dem Spielfilm als Script diente.

Jürgen Bartsch wurde 1946 geboren, das »Dritte Reich« scheint seine Biografie nur eben noch gestreift zu haben, doch seine Lebensgeschichte offenbart, dass das pervertierte Denken des Nationalsozialismus und die Vernichtungsdrohung gegen alles Fremde und Andere seine Kindheit und Jugend fest im Griff hatten. Er wird unter dem Namen Karl Heinz Sadronski unehelich geboren; seine Mutter stirbt nach seiner Geburt an Tuberkulose, und das Baby bleibt ein ganzes Jahr auf der Entbindungsstation, wo das kinderlose und ältliche Ehepaar Bartsch es entdeckt und sich zu seiner Adoption entschließt. Das Kind erfährt über seine Herkunft nichts.

Der Moment, in dem der Junge die Adoptionspapiere im Wohnzimmerschrank findet, zum ersten Mal seinen eigentlichen Namen liest und die Zusammenhänge begreift, gehört zu den stärksten Szenen im Film von Kai. S. Pieck. Sie verweist auf das eisige Schweigen in seinem Elternhaus und damit auf die generalisierte Verdrängung und das Tabuisieren der Vergangenheit in der postfaschistischen Gesellschaft.

Andererseits ist die bundesrepublikanische Gesellschaft der sechziger Jahre auch nicht luftdicht verpackt und beginnt sich zu verändern, zu liberalisieren und sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Paul Moors Recherchen zeigen jedoch, dass Jürgen Bartsch in seiner Jugend von solchen ausgleichenden Tendenzen rein gar nichts mitbekommen hat. Kontakte mit anderen Kindern oder Jugendlichen waren ihm streng verboten, so dass er dem häuslichem und dem institutionellen Regime typisch deutscher Tugenden völlig wehrlos ausgeliefert war, z.B. einer geradezu grotesken Reinlichkeitserziehung. Bereits mit elf Monaten hat das Krankenhauspersonal das Baby irgendwie »sauber« gekriegt; und noch im Alter von 19 Jahren muss sich der Jugendliche von seiner Mutter am ganzen Körper waschen lassen.

Am Ende von »Ein Leben lang kurze Hosen tragen« wird ein weiteres bestürzendes Detail einer bis zum Äußersten getriebenen autoritären Erziehung inszeniert. Die Spielhandlung hat eine elliptische Erzählstruktur, sie setzt ein mit der Schilderung des ersten Mordes und endet damit, wie Jürgen Bartsch versucht, seinen fünften Mord zu begehen. Der Grund, warum gerade dieses Kind überlebt und seinem Mörder entkommen kann, ist ein schrecklich banaler: Jürgen Bartsch unterbricht die Folter in dem Luftschutzbunker, in den er das Kind gebracht hat, weil er zum Abendessen mit den Eltern pünktlich nach Hause in die Siedlung »Glaube und Tat« in Langenberg muss. Er lässt den blutend am Boden liegenden Jungen gefesselt zurück, eilt nach Hause, um mit den Eltern die Mahlzeit einzunehmen und kehrt dann an den Tatort zurück. Dabei war er nicht einmal ein »kaltblütiger« Mörder. Im Film spricht die »innere Stimme« des von Schuldgefühlen gemarterten Mörders.

»Father Land«

Es sind die pathologischen Muster deutscher Anständigkeit im Verhalten des Täters, die Paul Moor zu der Bemerkung veranlassen, der New Yorker Psychoanalytiker Bertram Schaffner hätte die Familie Bartsch meinen können, als er in den vierziger Jahren seine große Studie über die autoritäre Struktur der deutschen Familie, »Father Land«, niederschrieb. »Der bestürzende Aspekt von Schaffners Buch in Verbindung mit dem Fall Bartsch besteht darin, dass er überzeugend nachweist, wie dieses Autoritätsschema es der Mehrheit des deutschen Volkes verhältnismäßig leicht machte, die politische Autorität Adolf Hitlers und des Dritten Reichs nicht nur hinzunehmen, sondern sich ihr auch so lange und so furchtbare Jahre hindurch anzupassen. Schaffner meinte damals, es würde von allen Aufgaben nach dem Zweiten Weltkrieg die schwierigste sein, die deutschen Familienverhältnisse zu ändern, besonders da deutsche Väter jeden Eingriff in ihre Autorität ablehnen, während deutsche Mütter fürchten, den Zorn ihrer Männer zu erregen, und traditionsgemäß konservativ sind.«

Grundsätzlich war es für Schaffner 1949 zwar vorstellbar, dass es zwei, drei oder vier Generationen später auf Grund von äußeren Einflüssen eine Veränderung in der Mentalität der Deutschen geben könnte; da er deren Charakter aber als restaurativ und verbohrt einschätzte, fiel seine Prognose nicht besonders optimistisch aus.

Die Prozesse

Dass sich die Öffentlichkeit der siebziger Jahre gewandelt hatte, wurde im Revisionsprozess 1971 in Düsseldorf deutlich, der das Urteil von 1967 – Bartsch war zu fünfmal lebenslänglich nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt und als voll schuldfähig eingestuft worden – korrigierte. Exemplarisch für den Wandel der Strafjustiz in Deutschland, der sich in der Zeit zwischen den beiden Bartsch-Prozessen vollzog, sind zwei gleichermaßen wichtige Reformen – die Aufhebung der Verjährung von Völkermord und die gesetzliche Festschreibung des Resozialisierungsgedankens. Rolf Bossi, Bartschs Verteidiger im Berufungsverfahren, erreichte eine Verurteilung nach dem Jugendstrafrecht; Bartsch wurde zu zehn Jahren Jugendstrafe und anschließender Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verurteilt. Doch auch diesem Prozess sei anzumerken gewesen, urteilt Paul Moor, »wie langsam alte, ja veraltete Ideen sterben«. Er kritisierte damit, dass in diesem Prozess weiterhin an der Theorie erblicher Vorbelastung des Täters festgehalten wurde. Immerhin wurde die Einschätzung aus dem ersten Verfahren in Wuppertal, Jürgen Bartsch sei von einer liebevollen Mutter und einem verantwortungsvollen Vater großgezogen worden, nicht wiederholt.

Über das erste Verfahren 1966 schreibt Paul Moor, dass er im Gericht saß und es einfach nicht glauben konnte, als der Oberstaatsanwalt Fritz Klein feierlich erklärte: »Das Elternhaus kann nicht besser gedacht werden.« Diese Sichtweise teilte die Mehrheit des Publikums, das in Massen in die Sitzungen drängte, Pogromstimmung vor dem Gericht verbreitete und die Wiedereinführung der Todesstrafe, wenn nicht Schlimmeres für Jürgen Bartsch forderte.

Diesen Umstand kommentierte der Täter, der stets Angst hatte, die Polizeibeamten, die ihn in das Gerichtsgebäude führten, könnten ihn der Menge überlassen, so: »Die ›Öffentlichkeit‹ existiert insofern für mich nicht, als ich glaube, dass längst nicht jeder dieser Menschen Grund hat zu schreien. Ich meine die deutsche Oma, die nicht raucht, nicht trinkt, sich nicht schminkt, und die so von Herzen überzeugt war, dass Judenkinder keine Milch brauchten. Es geht hier nicht um eine ›Aufrechnung‹, es geht nur darum, ob diese Menschen die berufenen Richter über mich sind«, gab er später auf die Frage, ob er sich gegenüber der Gesellschaft schuldig fühle, zu Protokoll.

Dass die Art der Prozessführung das Urteil in die Nähe eines Schuldspruchs aus »gesundem Volksempfindens« rückte, hatte 1967 der Leiter des Sigmund-Freud-Instituts, Tobias Brocher, in einem Beitrag für die Frankfurter Rundschau geschrieben. Er legte dar, wie stark die »verleugneten Erinnerungen an die Ermordung von unschuldigen Kindern und Erwachsenen in der ›Endlösung‹« durch den Fall Jürgen Bartsch mobilisiert werden. Weil man diesen Zusammenhang jedoch nicht akzeptieren wolle, bescheinigte man allen Beteiligten, dass sie ja nur das Beste gewollt und nur Gutes getan hätten. »Dies entspricht dem allgemeinen Verhalten gegenüber der Erinnerung an Verbrechen, die geduldet wurden, weil damit falsche und pervertierte Ideale verknüpft waren. Die Beurteilung der psychologischen Situation des Täters ist von diesem Verleugnungsprozess beeinflusst, weil die Grausamkeiten der Vergangenheit stets nur wenigen Tätern zugeschrieben werden, obgleich sie von der Allgemeinheit geduldet wurden. Dieses ›Symptom‹ Bartsch ist als Einzeltäter beurteilt worden, ohne die realen Hintergründe der allgemeinen Grausamkeitstendenzen mitzuberücksichtigen.«

Mit Händen greifbar wird dieser Zusammenhang in der Person des Verteidigers Heinz Möller, der in den Tagen des zu Ende gehenden Jahres 1967 ein vielbeschäftiger Mann war. Drei Tage in der Woche saß er in der Jugendkammer des Wuppertaler Landgerichts, um den vierfachen Mörder Jürgen Bartsch in einem als »Jahrhundertprozess« geltenden Verfahren zu vertreten. Dienstags und donnerstags saß er in einem Prozess, zu dem keine deutsche Hausfrau schon vor Sonnenuntergang mit der Straßenbahn angereist wäre. Es ging in diesem Verfahren um die Ermordung von mehreren Tausend jüdischen Menschen in der polnischen Stadt Bialystock, wo die Wehrmacht 1941 ein Ghetto eingerichtet und einen Massenmord durchgeführt hatte. Daran waren auch zwei Wuppertaler Polizeibeamte beteiligt, die zusammen mit weiteren Angeklagten 1967 und damit erst 26 Jahre nach der Tat zur Verantwortung gezogen wurden.

Glaube und Tat

Mit dem Film »Ein Leben lang kurze Hosen tragen« macht Kai S. Pieck den Versuch, das »Unfassbare, Unglaubliche zu visualisieren«. Die Brutalität, mit der der Täter gegen seine Opfer Klaus Jung, Peter Fuchs, Ulrich Kahlweiss und Manfred Grassmann vorgegangen ist, spart die Inszenierung aus. Sie wird nur angedeutet, wenn die Stimme von Jürgen Bartsch/Sebastian Urzendowsky aus dem Off einerseits vom Ekel spricht, der ihn beim Anblick des verwesenden Kindes in der Höhle packt, andrerseits von der Erregung, wenn er seine Blicke auf das noch gut erhaltene Gesäß des Toten lenkt. Zwei Verbrechen rahmen die Erinnerungssequenzen, die die beklemmende Kindheit von Jürgen Bartsch schildern. Opfer oder Täter – diese eindeutige Zuordnung verweigert der Film.

»Ein Leben lang kurze Hosen tragen« (D 2002). B/R: Kai S. Pieck. Start: 19. AugustPaul Moor: Jürgen Bartsch. Selbstbildnis eines Mörders. Rowohlt, Reinbek 2003, 493 Seiten, 9,90 Euro