Bilder von der Newsfront

Das diesjährige Filmfestival in Locarno widmete dem Verhältnis von Journalismus und Kino eine umfangreiche Retrospektive. von peter grabher

Georges Méliès filmte als erster die Journalisten selbst: In »L’Affaire Dreyfus« von 1899 zeigt er sie im Streit über Schuld oder Unschuld des jüdisch-französischen Offiziers, der fälschlich des Hochverrats bezichtigt worden war. Méliès nahm an der Seite Émile Zolas Partei für Dreyfus und warf einen kritischen Blick auf die journalistischen Kollegen, die den Sensationswert des Prozesses ausbeuteten. In »Making a Living« (USA 1914) mimt der junge Charles Spencer Chaplin in seinem ersten Leinwandauftritt einen zynischen Reporter, der für eine Story über Leichen geht. In gleicher Manier hält Buster Keaton 1928 als Kameramann für einen Moment im Kurbeln inne, um den Raufenden, die er für die MGM-Wochenschau filmt, höflich ein Messer zu reichen.

Geschichten berichten und die Welt zeigen: Journalismus und Film sind beide mit der Idee der Demokratie und der Idee der Wahrheit verbunden. Die Nachricht impliziert die bürgerliche Öffentlichkeit wie das Kino die Wünsche des Publikums. Dass Film und Nachricht auch bewusstseinsindustrielle Produkte sind, führt zum strukturellen Konflikt zwischen ihrem Warencharakter und ihrem Wahrheitsbezug. Die Welt (re)konstruieren sie aber von unterschiedlichen Positionen aus. Die Retrospektive »Newsfront« auf dem Filmfestival in Locarno historisierte die aktuelle Skepsis gegenüber den Medien und stellte Fragen wie: Was ist ein Ereignis? Was ist ein Bild? Was ist wahr? Was ist real? Oder die Frage aus Orson Welles’ Film »Citizen Kane«: Wer oder was ist »Rosebud«?

Im US-amerikanischen Genre des Newspaper Movie nimmt der Journalist eine Fülle von Rollen ein: Er ist Detektiv, Abenteurer, Anwalt, Zyniker, Krimineller, Tycoon und Manipulator, engagierter Agent der Wahrheit oder muck raker, einer, der Schmutz aufgabelt. In den klassischen Filmen des Genres wie »Fullers Park Row« (USA 1952), der die New Yorker Presse vom Ende des 19. Jahrhunderts feiert, Pakulas »All the President’s Men« (USA 1976) über die Watergate-Affäre oder Hitchcocks »Foreign Correspondent« (USA 1940), einer Hymne auf die Presse und einem Appell an die USA, in den Krieg gegen die Nazis einzutreten, geht es jeweils um die konstituierende Funktion der Wahrheit in der US-amerikanischen Gesellschaft. »Citizen Kane«, Orson Welles’ epochale Phantasie über das Leben des Pressemagnaten William Randolph Hearst, ist demgegenüber von der Idee der Mehrdeutigkeit und Perspektivität gefangen. Der Journalist Thompson begibt sich auf die vergebliche Suche nach der Bedeutung des letzten Wortes des Tycoons, »Rosebud«, und stößt an die Grenzen der journalistischen Möglichkeiten. Das Kino reicht darüber hinaus.

Mit dem Aufkommen des Fernsehens und der leichten 16mm-Kameras mit Synchronton verändert sich die Konfiguration der Medien radikal. Als 1963 Kennedy ermordet wird, filmt Abraham Zapruder 26 Sekunden lang mit seiner Super8-Kamera mit. Der Film, gleichwohl Gegenstand unendlicher Analyse, gibt nicht die Wahrheit über das Attentat preis. Das Konzept der Transparenz, welches das Sichtbare, das Wahre und das Reale verbunden hatte, ist zerbrochen. Das Kino beginnt sozusagen, seine Subjektivität und seine Grenzen zu reflektieren und wendet seine kritischen Erkenntnisse auf die Medien an. Filme wie »Medium Cool« (USA 1969) von Haskell Wexler, »Tout va bien« (F 1971) von Godard und Gorin, »Professione: Reporter« (I/USA 1975) von Antonioni stellen die Macht und Funktionsweise der Medien in Frage. Fernsehen »befreit« das Kino von seinen journalistischen Aktivitäten, aber auch von seiner zentralen Bedeutung für die Konstruktion des modernen kollektiven Bewusstseins.

Die Retrospektive zeigte eine Reihe von filmischen Beispielen, die sich mit der wachsenden Bedeutung medialer Bilder und News und der damit einhergehenden Tendenz zur Fiktionalisierung beschäftigen. Harun Farocki und Andrej Ujica montieren in »Videogramme einer Revolution« (1992) offizielle und private TV- und Video-Footage von der letzten Rede Ceaucescus bis zum Fernsehbericht über seinen Tod und zeigen, wie in der rumänischen Revolution die Berichte über das Geschehen selbst Element des Geschehens geworden sind. Als 2003 Kim Bartley und Donnacha O’Brien eine Dokumentation über Hugo Chávez drehen, findet, orchestriert von Privatsendern wie der von den USA dominierten Venvision, ein Putsch gegen den gewählten Präsidenten statt. Als nach Massenprotesten Chávez wieder in sein Amt eingesetzt wird, weigern sich die privaten Sender, diese Neuigkeit zu berichten. The Revolution will not be televised.

Eine Anzahl von Filmen beschäftigte sich mit dem Verhältnis von Medien und Politik in den USA. Eine Wiederentdeckung ist Robert Altmans »Tanner 88«, eine smarte und hochaktuelle Fernsehserie, in welcher Altman den fiktiven demokratischen Präsidentschaftskandidaten Jack Tanner gegen Michael Dukakis antreten ließ und so Fiktion und Realität vermischte. In »How Arnold Won The West« aus dem letzten Jahr berichtet die englische Regisseurin Alex Cooke von der Wahl zum Gouverneur von Kalifornien, zu der sich neben Arnold Schwarzenegger weitere 135 überwiegend tragikomische KandidatInnen vom Pornostar bis zum Bierfabrikanten stellten. Das demokratische Prozedere wird zur Farce und zum Fernsehspektakel. Schwarzeneggers Wahlkampf ist von Anfang bis Ende auf die Kameras der großen Sender zugeschnitten. Er gibt keine Interviewtermine und missachtet mit Erfolg konsequent die kritischen Fragen der Öffentlichkei. Die Republikaner arbeiten inzwischen daran, legale Hindernisse für die US-Präsidentschaftskandidatur von Ausländern aus dem Weg zu schaffen.

In »Control Room« (USA 2004) vergleicht die ägyptisch-amerikanische Regisseurin Jehane Noujaim die unterschiedliche Berichterstattung von al-Jazeera, CNN, NBC und dem Informationsdienst Cent.Com der US-Armee über den Irakkrieg. Sie legt die Mechanismen der Informationsproduktion bloß, enthüllt ihre jeweiligen ideologischen Voreinstellungen und politisch-wirtschaftlichen Abhängigkeiten. PR-Inszenierung und militärisches Vorgehen sind eng aufeinander abgestimmt: Der Sturz der Statue Saddams im Zentrum Bagdads erfolgt einen Tag, nachdem die Büros von al-Jazeera und Abu-Dhabi-TV bombardiert worden sind. Jehane Noujaim stellt resümierend die Frage: »Wie sollen diese zwei Bevölkerungen kommunizieren, wenn die grundlegende Wahrnehmung der Welt, so wie sie von ihren News-Medien bereitgestellt wird, vollkommen unterschiedlich ist?«

Am 11. September 2001 verschmelzen Bild und Ereignis in eins, die Politik des Schreckens zielt auf ein Zerbrechen der Repräsentation und des symbolischen Bandes. Eine tiefgehende Irritation der gegenwärtigen Verhältnisse von Öffentlichkeit, Medien, Politik und Kino ist unübersehbar. Die Retrospektive reagierte auf diese Verschiebungen, die sich auch darin äußern, dass ein journalistischer Film wie Michael Moores »Fahrenheit 9/11« im Mai die Goldene Palme in Cannes erhielt, durch die Aktivierung des filmischen Gedächtnisses: In ihm trifft sich die Aktualität der Geschichte mit der Geschichte der Aktualität (Godard).