Defensive als Chance

Die radikale Linke ist bei den Protesten gegen Hartz IV nur eine Minderheit. Sie stellt sich gegen die Neonazis und versucht, die Bewegung inhaltlich zu bereichern. von stefan wirner

Wer geglaubt hatte, das politische Establishment und die Wirtschaftsverbände würden angesichts der Montagsdemonstrationen eine taktische Pause im ständigen Fordern einlegen, sah sich in der vorigen Woche getäuscht. Während die Zahl der Demonstranten beinahe 100 000 erreichte, ließen die üblichen Verdächtigen nicht nach in ihrem Reformeifer.

Allen voran Wolfgang Clement, der so genannte Superminister. Super war wieder mal, was er vorschlug: die Schaffung von 600 000 so genannten Ein-Euro-Jobs. Mit ihnen sollen sich Arbeitslose etwas zu den mickrigen Beträgen des Arbeitslosengeldes II dazu verdienen. Sie könnten dann mit Nettoeinkommen von 850 bis 1 000 Euro im Monat rechnen, sagte Clement.

Da knallten die Sektkorken, allerdings nicht bei den Arbeitslosen, sondern beim Deutschen Städtetag und bei Wohlfahrtsverbänden wie der Caritas, die sich von Clements Plan jede Menge billige Arbeitskräfte erhoffen. Nur der Vorsitzende des DGB in Thüringen, Frank Spieth, konnte sich nicht recht begeistern. Er sagte, mit den Ein-Euro-Jobs werde »der Reichsarbeitsdient im neuen Gewand eingeführt«. Harte Worte in harten Zeiten.

Auch Dieter Hundt, der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), wollte nicht ruhen und schlug eine Neugestaltung der Unfallversicherung vor. Die Unternehmer sollten nicht mehr für die Unfälle aufkommen müssen, die den Lohnabhängigen auf dem Weg zur Arbeit widerfahren. Mehr als eine Milliarde Euro kosteten die Berufsgenossenschaften jährlich diese Unfälle. Geld, das doch genauso gut die Lohnabhängigen aufbringen könnten, dachte sich Hundt. Die Risiken auf dem Weg zur Arbeit seien schließlich nicht vom Unternehmer beeinflussbar.

Es gibt also neben Hartz IV genug Gründe, auf die Straße zu gehen, und nicht nur montags. In Erfurt und in Neubrandenburg etwa demonstrierten am vorigen Donnerstag insgesamt etwa 7 000 Menschen gegen die Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung. Am Sonntag störten rund 50 jugendliche Demonstranten den Tag der offenen Tür im Bundeswirtschaftsministerium in Berlin. Aufgerufen hatten u.a. Attac und die Berliner Kampagne gegen Hartz IV. Die Störenfriede übten sich im Straßentheater und planschten im Brunnen vor dem Ministerium: »Hartz geht baden!« Die harmlose Aktion veranlasste Clement dazu, seinen PR-Auftritt auf den Nachmittag zu verschieben. Ein bisschen wenigstens scheint der Riese zu zittern.

Auch linksradikale Gruppen beteiligen sich mittlerweile stärker an den Protesten. Von Anfang an dabei war die Freie ArbeiterInnen Union (Fau). In Magdeburg haben die Anarchosyndikalisten mit ungewöhnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Ein Aktivist sagte der Jungle World: »Bei der ersten kleinen Demonstration mit 200 Leuten wurden wir mit unserem Transparent lautstark begrüßt. Darauf stand: ›Unsere Agenda heißt Widerstand. Gegen Nazis, Staat und Kapital.‹ Bei der zweiten Demo wurden wir dann ausgebuht, weil die Leute uns für die Nazis hielten.«

Neonazis beteiligten sich immer wieder an den Protesten in Magdeburg. »Es ist schwer, dagegen anzugehen. Wir sind zu wenige. Die Nazis laufen diszipliniert und militärisch mit.« Die Fau versuche, die Proteste inhaltlich zu bereichern. Ein Transparent, auf dem stand: »Eine andere Gewerkschaft ist möglich«, sei immerhin neugierig beäugt worden.

Auch in Leipzig liefen Neonazis, Mitglieder der NPD, aber auch der rechtsgerichteten Bürgerrechtsbewegung Solidarität (Büso) oder der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP) mit. Wenigstens sei die Büso inzwischen aus dem Vorbereitungskreis ausgeschlossen worden, erzählt ein Mitglied der Wertkritischen Kommunisten. Er findet es »erst mal gut, dass es die Demos gibt«. Den meisten Demonstranten gehe es aber nur um neue Arbeitsplätze, manchmal könne man auch einen Unterton heraushören, der sich »gegen Sozialschmarotzer« richte.

»Der Kult um die Montagsdemos nervt«, sagt er, »aber der Montag zieht eben die Leute an, von daher ist es gerade noch zu verschmerzen.« Die Wertkritischen Kommunisten versuchten, die »Kritik der Arbeit« in den Mittelpunkt zu stellen und die Forderung nach einem »sinnlichen Reichtum, der allen zugute kommt«.

»Ein schönes Leben für alle« fordert die Gruppe Für eine linke Strömung (Fels). »Wir wollen in diesen Abwehrkämpfen eine grundsätzliche antikapitalistische Kritik sichtbar machen«, sagt ein Aktivist. Auf der ersten Montagsdemonstration in Berlin sei eine »ziemliche Wut und Existenzangst« spürbar gewesen. Den Spruch »Wir sind das Volk« sehe er »ambivalent«, da er »völkisch-rassistisch interpretiert« werden könne; er sei aber in den meisten Fällen eher »basisdemokratisch gedacht, im Sinne von: ›Wir da unten‹«. Diese Einschätzung teilte auch der wertkritische Kommunist aus Leipzig.

Fels will darauf hinweisen, dass es nicht nur um Hartz IV, sondern um einen grundsätzlichen Umbau des Sozialstaats gehe. Es gebe eine »Tendenz zur Prekarisierung, immer schlechtere Arbeitsbedingungen, das wirkt sich auf alle Lohnabhängigen aus«. Den »Appell an den Sozialstaat« aber lehnt Fels ab. Man dürfe nicht vergessen, dass der Sozialstaat schon immer »miese Bedingungen« für bestimmte Gruppen, etwa für Migranten, mit sich gebracht und die geschlechtliche Arbeitsteilung gefestigt habe.

Die linksradikalen Gruppen stellen auf den Demonstrationen Minderheiten dar. Von dem Elan aus den Debatten zum Thema »Aneignung«, wie sie noch auf dem Kongress der Bundeskoordination Internationalismus in Kassel im Mai geführt wurden (Jungle World, 22/04), ist derzeit wenig zu verspüren. Große Teile der Linken haben mit der Vorbereitung der bisherigen Demonstrationen nichts zu tun gehabt. Der Kongress »Die Kosten rebellieren« etwa, der im Juni in Dortmund stattfand und an dem sich u.a. Labournet, ein Zusammenschluss von Linken in den Gewerkschaften, und antirassistische Initiativen beteiligten, plante einen Aktionstag der Erwerbslosen am 3. Januar 2005.

Die Initiative ging in vielen ostdeutschen Städten von politisch schwer einzuschätzenden, oft auch rechts stehenden Einzelpersonen aus. Das hat auch damit zu tun, dass die radikale Linke dort sowieso einen schweren Stand hat. In Berlin prägte die Marxistisch-Leninistische Partei (MLPD) mit ihren Megaphonen die Proteste am vorletzten Montag.

Eine Strategie, was zu tun sei, wenn die Proteste nationalistischer werden sollten, etwa bei der geplanten Demonstration in Berlin am Tag der deutschen Einheit, gibt es nicht. Die linksradikalen Gruppen, die sich bisher an den Demonstrationen beteiligen, konzentrieren sich meist darauf, mit Flugblättern und Transparenten eine fundamentalere Kritik am Kapitalismus zu verbreiten, Neonazis aus den Demonstrationen zu drängen oder Demonstranten auf dieses Problem aufmerksam zu machen. Dabei werden sie von den »Normalbürgern« nach eigenen Angaben nicht unbedingt schlecht aufgenommen.

Manchmal aber schlägt es auch auf sie zurück, wie etwa in Gera am 16. August. Dort nahmen an einer Demonstration etliche Neonazis teil. Antifas hätten sich ihnen konfrontativ entgegengestellt, es sei zu Handgreiflichkeiten gekommen, berichtet die Antifaschistische Aktion Gera. »Völlig unvermittelt hagelten Beschimpfungen und Schläge nicht nur von den Nazis, sondern auch von den DemonstrantInnen auf die Antifas ein«, heißt es in ihrer Presseerklärung. Die Polizei habe schließlich die Antifas aus der Demonstration gedrängt, obwohl der Veranstalter sich für den Ausschluss der Neonazis ausgesprochen habe.