Dicke Lippe auf zwei Beinen

Nur wer sich totquatschen lassen will, ist bei Sarah Kuttners neuer Talkshow auf Viva richtig. von martin schwarz

Ein jeder von uns kennt das Phänomen: Wenn mal wieder Verwandtschaft zu Besuch ist und die Gespräche um Gallensteine, Nierenprobleme und Blinddarmdurchbrüche kreisen, neigt das Gehirn dazu, sich mentale Ersatzbefriedigungen zu suchen. Dann ertappt man sich dabei, wie der Audio-Brei immer mehr in den Hintergrund tritt, und man beginnt, die Blümchen auf der Tapete zu zählen oder die Schnauzhaare des Hundes. Sarah Kuttner profitiert von dieser Gedankenflucht des Zuschauers. Zumindest wenn der Gast Lemmy Kilmister heißt, Leadsänger von Motörhead ist und über ein prächtiges Bartgestrüpp am Kopf verfügt. Denn Lemmy Kilmister ist nicht nur Musiker, sondern auch Besitzer zweier kuheutergroßer Warzen an der linken Wange.

Mit diesen musste man sich eingehend beschäftigen, als Kuttner mit Kilmister talkte. Mühsam versuchte Kuttner, aus dem Gegenüber jene Menschlichkeit zu locken, die man dem Altrocker eigentlich nicht zutraut. Ob er etwa Elvis Presley verehrt hätte, fragt da Kuttner, doch der Warzeneigner blieb einsilbig: »Natürlich. Es war ja Elvis Presley.« Und wann Kilmister das letzte Mal geweint hat? »Ist schon lange her.« Klar, denkt der mediale Autodidakt: kein schlechtes Konzept. Jetzt kitzeln wir mal aus dem harten Burschen den weichen Kern heraus. Aber: Eine Kuttner ist keine Maischberger. Vielleicht hat Kilmister rechtzeitig gecheckt, dass die Göre ihm gegenüber ungefähr so unglaubwürdig ist wie ein Hannibal Lecter, der in der nächsten Fortsetzung von »Das Schweigen der Lämmer« zum Vegetarismus konvertieren würde.

Immerhin aber hat Kuttner den qualitativen Hüpfer von der Viva-Video-Wundermaus zur Showmasterin geschafft und kann täglich eine Stunde lang die erste richtige Talkshow auf Viva moderieren. Aufgefallen ist Kuttner einem breiteren TV-Publikum durch ihre hysterische Performance während der deutschen Vorausscheidung zum Eurovision Song Contest. Da plapperte die gebürtige Berlinerin den eher saturierten Co-Moderator Jörg Pilawa derart zu, dass dem der intellektuelle Ekel schon anzusehen war. »Ich war damals sehr aufgeregt, habe mich aber ganz eng an die textlichen Vorgaben gehalten, die vorher abgesprochen waren«, rechtfertigte sich Kuttner danach. Aber so kann das nicht stimmen. In einer Doppelmoderation einen Wortanteil von 70 Prozent zu generieren, entspricht wohl kaum den Vorlagen. Aber vielleicht liegt das auch an der seelischen Konditionierung von Sarah Kuttner. Die 25jährige nämlich leidet offensichtlich an pathologischer Hyperaktivität, und darunter wiederum leidet ihre Interviewtechnik.

Für die interviewtechnisch kraftlose Kuttner ist das durchaus problematisch, denn sie selbst sieht ihre kleinen, belanglosen Studiogespräche als Kernkompetenz des eigenen televisionären Daseins. Eine Engelke mit ihren Standup-Comedian-Qualitäten sei sie nämlich nicht. Das kann nichts Gutes verheißen: Engelke nämlich laboriert schwer an den offensichtlich nicht vorhandenen Qualitäten ihrer Gagschreiber, so dass sowohl Studiogespräche als auch die kleinen Witzchen am Beginn der Sendung den Rezipienten ratlos vor der Glotze eindösen lassen. Bei Kuttner ist das weitgehend das Gleiche. Strafverschärfend kommt noch die komplett verzichtbare Anwesenheit ihres Manuel-Andrack-Doubles Sven hinzu. Der gibt hin und wieder seinen Senf dazu, aber es fehlt ihm schlicht die geistige Statur, die Ruhe und das Kommunikationstalent eines Andrack. Im Wechselspiel mit Harald Schmidt war er der Pointenwerfer, Sven dagegen mutet im Wechselspiel mit Sarah Kuttner an, als sei er ausschließlich dazu engagiert worden, die kommunikative Demenz der Talkmasterin ins Unerträgliche zu steigern. Selbst das 17- bis 22jährige Publikum im Studio scheint manchmal schwer daran zu zweifeln, ob nicht doch Karten für Anke Engelke oder die ZDF-Sportschau oder Schlammcatchen in einem übel beleumdeten Lokal der Kölner Vorstadt das bessere Investment gewesen wären.

Erst am vergangenen Freitag mühte sich Kuttner bemitleidenswert fanatisch ab, dem Publikum die humoreske Komponente des Fernfahrermagazins »Trucker« zu erklären, zeigte mit einer kleinen Mini-Kamera Ausschnitte aus dem Heft und blickte manchmal panisch auf die Mimik des Publikums, als die wahrscheinlich erhofften Lacher ausblieben. Ein leichtes Schmunzeln wischte über die Gesichter einiger der Klatschomaten im Publikum, die Heiterkeit von Sarah Kuttner aber schwappte eindeutig nicht über.

Vielleicht aber müssen die Videokids, die sich täglich von Viva die Gehirne entlausen lassen, auch nicht mehr lange eine ganze Stunde Talk ertragen. 140 Sendungen der Show sollen auf jeden Fall produziert werden, was danach geschieht, ist unklar. Denn Viva wurde kürzlich vom MTV-Eigentümer Viacom geschluckt, und rätselhaft bleibt Medienexperten, was ein einziger Medienkonzern mit zwei völlig identisch funktionierenden Musiksendern eigentlich tun soll. Ein Format wie die Sarah-Kuttner-Show wird da wahrscheinlich nicht bestehen können, weil Viva in Zukunft möglicherweise nur noch als Clip-Abspielstation gebraucht werden wird. Sarah dürfte aber damit kein Problem haben. Sie weiß: Eine dicke Lippe auf zwei Beinen wird irgendwann einmal bei Pro Sieben enddeponiert. Oliver Pocher hat das Senderhopping zu Pro Sieben ebenso geschafft wie Charlotte Roche.

Voraussetzungen für einen Vertrag beim größten deutschen Jugendsender scheinen zu sein: jung sein, lustig sein, sich für nichts zu schade sein. Und: sich in der Mattscheibe festkrallen wie ein Marder. Meist reicht es, dem Publikum mit dogmatischer Verve immer wieder zu suggerieren, dass man sich selbst von den eben gesendeten Inhalten distanziert und diesen öden TV-Job ohnehin bloß macht, weil man zu unbegabt für einen Job an der Aldi-Kasse ist. »Die Sendung ist so eine abgefahrene Scheiße«, hat Kuttner daher gleich in der ersten Sendung ihre Botschaft an die Nation vermittelt. Für alle, die es noch nicht wissen sollten: Die Sendung ist nicht abgefahrene Scheiße. Zumindest keine abgefahrene. Wenn dagegen Frank Elstner die »Versteckte Kamera« moderiert, hat das was wirklich Schräges.

Aber viel erwarten konnte man ohnehin nicht von der Viva-Innovation, die Videoclips für eine Stunde durch Sarah zu unterbrechen. »Es wird Aktionen geben, Kommentare, Spiele, Weitwurf-Wettbewerbe, vielleicht auch mal ein Handgemenge«, hat sie ein wahres Feuerwerk an televisionärer Unterhaltung angekündigt.

Anke Engelke war ja bisher schon Grund genug für wiederholtes Flehen nach einer Rückkehr Harald Schmidts. Sarah Kuttner ist wieder ein schlagkräftiges Argument, den Altmeister endlich zurückkehren zu lassen. Denn mit Schauder erfüllt den Zuseher die Frage, was er wohl tun soll, wenn der nächste Studiogast von Kuttner keine überdimensional großen Warzen an der Wange hat. Zuhören? Ganz bestimmt nicht.