Die Gringomanie

Für die meisten lateinamerikanischen Linken sind die USA die eigentlichen Verlierer des Referendums in Venezuela. von wolf-dieter vogel, mexiko-stadt

Wie sähe »ein Tag ohne Gringos« aus? Das fragte sich jüngst der Kommentator Marco Rascón in der linken mexikanischen Tageszeitung La Jornada. Der Autor spielt mit seinem Titel auf einen derzeitigen Kassenschlager in den Kinos von Mexiko an. »Ein Tag ohne Mexikaner« erzählt eine Geschichte aus dem kalifornischen Alltag, aus dem plötzlich sämtliche Chicanos verschwinden.

Doch während im Film das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in dem US-amerikanischen Bundesstaat komplett zusammenbricht, fantasiert Rascón von in seinen Augen paradiesischen Zuständen, sollten die Gringos endlich aus der Welt geräumt sein. Das für militärische Zwecke verschwendete Geld würde dann dem Kampf gegen Aids und Hunger zugute kommen, Weltbank, Internationaler Währungsfonds und Finanzspekulationen gehörten der Vergangenheit an, dem »Wert der Arbeit als höchstem Gut einer eigenständigen Nation« würde neue Geltung verschafft. Der Autor beendet seinen Text mit Glückwünschen »an das wunderbare Volk von Venezuela«.

Die meisten international zirkulierenden Texte, die sich in der lateinamerikanischen Linken mit dem venezolanischen Referendum beschäftigen, entbehren nicht derart peinlich jeglicher analytischen Basis. Doch auch andere Autoren sehen eine enge Verbindung zwischen den Vorgängen in Venezuela, »den Gringos« und einer wie auch immer gearteten gesellschaftlichen Utopie. Neben den sozialen Umverteilungsmaßnahmen steht meist eine Einschätzung im Vordergrund, die auch Präsident Hugo Chávez vom Balkon des Regierungspalasts von Miraflores über seine Bestätigung im Amt zum Besten gab: »Der Ball fiel direkt ins Weiße Haus.«

Daran ist vieles richtig. US-Präsident George W. Bush wird nicht erfreut darüber sein, dass auch künftig ausgerechnet ein enger Geschäftspartner seiner Erzfeinde die Regierungsgeschäfte in Caracas lenkt. Mit Kubas Fidel Castro tauscht Chávez günstiges Öl gegen die Entsendung von Ärzten in Armutsgebiete, und auch zum ehemaligen irakischen Despoten Saddam Hussein unterhielt der Venezolaner Kontakte. Chávez’ Einsatz für die Opec verbesserte die Position der Erdöl exportierenden Staaten gegenüber den USA und der EU.

Zudem dürfte den Konservativen in Washington die Entwicklung auf dem südamerikanischen Kontinent Sorgen bereiten. Daniel Campione von der antiimperialistischen Autorengruppe Rebelión macht hier zwei wesentliche Aspekte ausfindig. Zum einen stärkt Chávez den Block der Staaten, deren Regierungen gegenüber der von den USA angestrebten Gesamtamerikanischen Freihandelszone (Alca) zurückhaltend sind: Argentinien, Brasilien und demnächst Uruguay, wo wahrscheinlich der linke Präsidentschaftskandidat Tabaré Vásquez die anstehende Wahl gewinnen wird. Erst vor wenigen Wochen trat Venezuela dem Mercosur, der von diesen Staaten und Paraguay gebildet wird, als assoziiertes Mitglied bei. Das Wirtschaftsbündnis ist ein wichtiger Handelspartner der EU und soll in den Alca-Verhandlungen Stärke gegenüber den USA demonstrieren.

Zum anderen wirke der Ausgang des Referendums auf die »Unterklassen der Region, die gegen ihre Unterdrücker kämpfen«, wie Campione die verarmte Mehrheit auf dem amerikanischen Südkontinent beschreibt. Der »venezolanische Prozess« sei Teil des »Zyklus von Rebellionen«, die bereits in Staaten wie Ecuador, Bolivien oder Argentinien die Regierungen zu Fall gebracht hätten. Die Möglichkeiten für die Unterklasse wirkten auf die ohnehin die USA kritisierende Bevölkerung Südamerikas motivierend. Zumal die Venezolaner verstanden hätten, dass sie politische Subjekte in einer partizipativen Demokratie seien, ergänzt Aram Aharonian vom ecuadorianischen Informationsdienst Alai.

Für die antiimperialistischen Hardliner jedoch scheint es keine realen Interessenskonflikte innerhalb der Gesellschaft Venezuelas zu geben. Die »konterrevolutionäre venezolanische Oligarchie und ihr Anhängsel« sind für den in Mexiko lebenden kubanischen Kommentator Angel Guerra Cabrera nichts als Repräsentanten des »Yankee-Imperalismus«. Den Sieg von Chávez verklärt er zu »einer der größten Schlappen, die die Regierung der USA in den letzten Jahrzehnten einstecken musste«.

Man muss nicht leugnen, dass die Regierung der USA teilweise auf brutale Art und Weise Einfluss auf die innenpolitische Entwicklung lateinamerikanischer Staaten nimmt, um die gefährliche Schlichtheit solcher Weltbilder zu kritisieren. Völlig ungeniert artikuliert der renommierte mexikanische Professor und Buchautor Adolfo Gilly die antiimperialistische Sehnsucht, die hinter der Vorstellung steht, das »Imperium« ziehe die Fäden bei jeder Boshaftigkeit in der Welt. Es gehe um »die Sache von Venezuela, die Sache des Irak, die Sache der Indígenas, die Sache der Armen, der Arbeiter, der Ausgeschlossenen, der durch Kolonialismus, Rassismus, Sexismus oder durch Lohnabhängigkeit schon immer Unterdrückten. Irak und Venezuela, so weit und so nah, so entfernt und unterschiedlich in ihren Ursachen. Und trotzdem«, schreibt Gilly in seiner Ode an das »venezolanische Volk« und den »irakischen Widerstand«.

Dabei ist es Chávez selbst, der ungeachtet seiner verbalradikalen Attacken gegen Bush manch antiimperialistische Projektion ad absurdum führt. Die Regierung in Caracas weigert sich etwa im Gegensatz zu Argentiniens Staatschef Néstor Kirchner nicht, ihre Auslandsschulden pünktlich zu bezahlen. Und die Geschäftsbeziehungen zu den US-amerikanischen Konzernen, die etwa die Hälfte des venezolanischen Öls aufkaufen, sind gut. (Siehe Seite 7)

Folgerichtig betonte Chávez gleich nach seinem Sieg, dass seine Regierung »die Stabilität des Weltölmarktes garantiert«. Nicht zufällig wirkte sich die nun zu erhoffende Beruhigung im Land auf den internationalen Markt aus. Der Dow Jones stieg, sogar der Ölpreis sank Anfang der vergangenen Woche kurzzeitig. »Wir brauchen Sicherheiten, und mit Chávez wissen wir, wie die Spielregeln aussehen, auch wenn sie uns nicht gefallen«, erklärte Lawrence Goldstein von der New Yorker Petroleum Industry Foundation.

Ist der Ausgang des Referendums also ein Sieg »der weltweiten Linken, den es so in den letzten Jahrzehnten nicht gegeben hat«, wie Rebelíon-Autor Pascual Serrano schreibt? Der nicaraguanische Schriftsteller und Politiker Sergio Ramírez vergleicht die Situation von Chávez eher mit der des Argentiniers Juan Domingo Perón in den fünfziger Jahren. »Damit der Populismus als politische Waffe effektiv ist, muss der Caudillo langfristig auf umfangreiche Ressourcen zurückgreifen können«, schreibt Ramírez. Während Perón auf große Goldreserven habe zählen können, »stehen Chávez durch das Erdöl Milliarden zur Verfügung«.

Dass von diesen Milliarden nun ein Teil der verarmten Unterklasse zugute kommt, beobachten freilich alle linken Kommentatoren mit Wohlwollen. Chávez sei nicht interessiert an einer Konfrontation mit den USA, resümiert der mexikanische Analytiker José Steinsleger in der Jornada. Er wolle lediglich »die unheilvolle Realität eines Landes transformieren, das seit 1923 die Motoren der Welt am Laufen hält, während 57 Prozent seiner Bevölkerung in Armut leben«. Und das ergibt sicher mehr Sinn, als dem »Wert der Arbeit als höchstem Gut einer eigenständigen Nation« neue Geltung zu verschaffen.