Münzenjagd im Bonbonland

Wenn es um quietschebuntfröhliche elektronische Musik geht, sollte man den Erzeugnissen des Lüneburger Labels Pingipung eine Chance geben. von michael saager

Es ist sehr heimelig in Lüneburg. Kein Verbrechen kann hier je geschehen sein. Hier gibt es nichts, was der friedvollen Atmosphäre aus artigem Fachwerk, braven Dachzinnen und blitzsauberer Fußgängerzone, in der selbst die Tauben ihren Dreck bei sich behalten, in die Quere geraten könnte. Nichts, was laut ist oder größer als kleinbürgerlich, gab es hier jemals. So kommt es einem vor. Es ist die typische Atmosphäre einer Stadt, aus der es sich gut verschwinden lässt. Was die meisten jungen Menschen auch tun, nach ihrem Abitur. Oder etwas später. Man kann aber auch bleiben. Oder sogar als Erwachsener nach Lüneburg ziehen. Man muss sich nur sinnvoll zu beschäftigen wissen.

Heiko Gogolin und Nils Dittbrenner studieren in Lüneburg angewandte Kulturwissenschaften mit den Schwerpunkten Musik und Kulturinformatik. Um das Rechenzentrum ihres Studienfachs, wo auch das Studio des hauseigenen Audio-Projekts (www.audio.uni-lueneburg.de) untergebracht ist, hat sich vor einigen Jahren eine kleine, lebhafte Szene gebildet, nicht sehr viel größer als ein normaler Freundeskreis. Man kennt einander gut und nutzt die vorhandenen technischen Ressourcen intensiv. Das Rechenzentrum ist längst so etwas wie ein Refugium, öffentlich und privat zugleich.

Es ist der Konnex, in dem die Fäden des kleinen Labels Pingipung immer wieder zusammenlaufen. Pingipung? Das ist möglicherweise ein seltsamer, ein komischer Name für ein Label, das elektronische Musik macht. Er passt allerdings sehr gut zur formalen und inhaltlichen Ausrichtung des Labels. Pingipung hält sich fern von klassischen (Tanz-)Elektronik-Genres, von House, Techno oder HipHop. Und produziert stattdessen – inspiriert von Künstlern wie Solvent oder Hausmeister und von Labels wie Karaoke Kalk, Bottrop Boy und Bleepstreet Records – fluffige Schunkelelektronik, die sich gut und gerne, genau wie der Name des Labels, mit dem Begriff »Niedlichkeit« assoziieren lässt, was freilich nicht bedeutet, hier würde nie gerockt.

Auf ihrer Website www.pingipung.de opponieren die betreibenden Künstler – neben Nils (Peter Presto) und Heiko (Miss Emily) sind das noch Markus Engel (Mister Tingle) und Andreas Otto (Springintgut) – gegen die »Verkopfung« elektronischer Musik. Sie meinen das nicht so ernst, wie es sich hier liest, aber es ist natürlich etwas dran: Viele Elektronik-Produzenten hatten sich vor allem Ende der neunziger Jahre mit ihren Kompositionen hochartifiziellen, theorieschweren Diskursen verschrieben. Melodien waren nicht unbedingt tabu, aber bevorzugte Reflexionsräume dieser Produktionen waren das Geräusch, seine Aufspaltung in weitere Geräusche und die scheinbare Wiederholung dieser Ergebnisse als Zeichen fein gesponnener Differenz. In gewisser Hinsicht sorgt diese Art rigoroser konzeptueller, häufig strukturverliebter Elektronik für eine psychophysiologische Imbalance: Die Ratio hat eine Menge zu tun, aber Hände, Bauch und Herz bleiben kalt. Das limbische System, neurobiologischer Sitz der Emotionen, leidet an Unterbeschäftigung.

Nils nennt seine Faszination für Oval oder Microstoria, berühmte Vertreter dieser Denkerstirnelektronik, »philosophisch«. Dass er es jedoch spannender fand, diese Musik im heimischen Plattenregal stehen zu sehen, als sie zu hören, schien ihm irgendwann suspekt. Nils, über dessen Stücke Heiko sagt, man könne zu ihnen »in einer bonbonfarbenen Welt wunderbar auf Münzenjagd gehen«, ist ein großer Freund von Melodien. Als Label-Strategeme gegen die »Verkopfung« bezeichnet er daher: »Melodien zum Mitpfeifen und die Produktion von Ohrwürmern«. Heiko ergänzt: »Wir sind vier angehende Kulturwissenschaftler mit Schwerpunkt Musik und insofern durchaus für diskursive Stunden am Lagerfeuer zu haben. Wir richten uns jedoch gegen Komplexität als Selbstzweck, was sich ja bereits in der Neuen Musik irgendwann als Sackgasse entpuppt hatte.«

Nils ist es, der Pingipung gegründet hat. Die erste Platte, eine Single, erwärmt von der Sonne und beflügelt vom Wind im Frankreichurlaub des Jahres 2001, ist auch von ihm. Es handelt sich dabei um vier Stücke, die »unbedingt raus wollten«. Dub-Miniaturen, die mit einer freundlichen Vocoder-Stimme von kilometerlangen Sandstränden erzählen. Mit Kompakt war schnell ein solider Vertrieb gefunden; eine Compilation (»Kami Eins«) und die erste Platte Andreas Ottos folgten. Das solitäre Betreiben des Labels wurde Nils allerdings bald zu teuer. Seit der Veröffentlichung des aktuellen Springintgut-Albums »(Posten 90)« ist Pingipung deshalb eine GbR. Die vier Freunde wurden Geschäftspartner.

Auch Pingipung erzählt also die vertraute Geschichte, die nicht nur kleine Labels, sondern auch Kleinverlage in immer neuen Variationen seit Jahren zum Besten geben. Es ist jene Geschichte, die mit dem Wort Liebe beginnt und mit Idealismus nicht endet, die künstlerische Freiheit bedeutet und umso mehr Freizeit bindet, je größer das Unternehmen wird. Labels wie Dial aus Hamburg oder Esel in Bremen erwähnen Heiko und Nils daher nicht nur, weil sie die Musik mögen, die dort erscheint. Die ähnliche Haltung erzeugt Sympathie und Nähe. Heiko: »Dennis von Esel bringt eine tolle Scheibe nach der anderen raus, nur weil er davon überzeugt ist. Zudem macht er aus seiner finanziellen Not eine künstlerische Tugend, indem er viele seiner Cover selbst qua Siebdruck produziert.«

Wie es mit Pingipung weiter geht, ist offen. Dass es weitergehen soll, nachdem seine Betreiber – das Studium nähert sich seinem Abschluss – Lüneburg verlassen haben, ist aber sicher. Alles andere wäre auch jammerschade. Alben wie »(Posten 90)« müssten dann anderswo erscheinen. Wo doch gerade die Stücke Springintguts Pingipungs Prinzip einer weltumspannenden melancholischen Niedlichkeit in mal harschere, mal verspieltere, jedoch immer ganz wundervolle, passgenaue Bilder fassen. Beim Anhören von »Walden«, dem schönsten Track der Platte, weiß man zum Beispiel, dass in diesem Augenblick, irgendwo weit draußen in der Zukunft, ein kleiner Roboter traurig auf einem Felsen sitzt. Lustig ausschauende Insekten umschwirren seinen Kopf, aber er sieht sie nicht. So wenig wie den tiefroten Himmel. Seine Freundin hat ihm gerade das Herz gebrochen. Er ist jetzt der einsamste Roboter auf der ganzen Welt. Man würde ihn sehr gerne in den Arm nehmen und trösten.

Pingipung-Diskographie:

Peter Presto: »Es ist Sommer« (7" EP)

Diverse: »Kami Eins« (Vinyl EP)

Springintgut: »Springintgut« (Vinyl EP)

Springintgut: »(Posten 90)« (CD)

Demnächst:

Mr. Tingle: »Mr. Tingle« (Vinyl EP)

Diverse: »Pingipung Plays The Piano« (CD)