Opposition vs. Realität

Die Opposition hat das Referendum zur Amtsenthebung von Hugo Chávez verloren. Die Gesellschaft bleibt polarisiert, nicht nur zwischen Reich und Arm. von simón ramírez voltaire

Einen »Megabetrug« witterten Vertreter der venezolanischen Opposition, als bekannt gegeben wurde, dass das von ihr angestrengte Referendum zur Amtsenthebung des Präsidenten Hugo Chávez mit 59 Prozent Gegenstimmen gescheitert war. Allerdings vermochten die zahlreichen internationalen Beobachter, die auf Einladung des Nationalen Wahlrats das Referendum am Sonntag vor zwei Wochen begleitet hatten, den Betrugsvorwurf ebenso wenig zu bestätigen wie die Organisation Amerikanischer Staaten und die Stiftung des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter, die ebenfalls Beobachter entsandt hatten. »Wir haben keinen Grund, an der Integrität des Wahlprozesses und an der Genauigkeit der von der Wahlbehörde bekannt gegebenen Ergebnisse zu zweifeln«, sagte Carter.

Dennoch veranlassten die Behörden vergangene Woche eine Kontrolle, zumal auch die US-Regierung eine Überprüfung gefordert hatte. Die elektronisch übermittelten Ergebnisse von 150 zufällig ausgewählten Wahllokalen wurden mit den abgegebenen Stimmzetteln verglichen. Das Ergebnisbesagte, dass keine Hinweise auf Betrug gebe, wie Wahlbehörde und Beobachter am vergangenen Wochenende übereinstimmend mitteilten.

Doch die Opposition zeigte sich davon unbeeindruckt. Sie hatte sich an dem Überprüfungsverfahren erst gar nicht bteteiligt. Ezequiel Zamora, der Vizepräsident des Nationalen Wahlrats, behauptete vergangenene Woche, die 8 000 Wahlurnen seien ausgetauscht worden, und beschuldigte indirekt die internationalen Wahlbeobachter der Parteilichkeit. Wie bedeutende Teile der Opposition hält Zamora an der Strategie fest, mehr Transparenz zu fordern, entsprechende Maßnahmen der Regierung aber zu boykottieren, um anschließend einen Ausschluss der Opposition zu beklagen. Doch diesmal könnte das Kalkül fehlschlagen, internationale Unterstützung findet die Opposition für ihre Anfechtung des Abstimmungsergebnisses jedenfalls nicht.

Für den »Präsidenten der Armen« bedeutet das Referendum einen weiteren Triumph. Doch so klar das Gesamtergebnis auch ist, verläuft die Grenze zwischen Anhängern und Gegnern von Chávez nicht eindeutig entlang von Klassenzugehörigkeiten. So erzielte Chávez in den Armenvierteln von Caracas insgesamt überdurchschnittlich viel Zustimmung, aber auch dort existiert eine solide Gegnerschaft von 20 bis 40 Prozent. In einigen Wahllokalen der Mittelschichts- und Geschäftsviertel Recreo und Candelaria votierten 80 Prozent gegen Chávez, in anderen ebenso viele für ihn. Das Ergebnis zeigt, dass die venezolanische Gesellschaft im hohen Maße polarisiert ist, ohne dass soziale Zugehörigkeit und politische Orientierung zwingend zusammenfielen.

Nach dem fehlgeschlagenen Putsch im April 2002 und der gescheiterten wirtschaftlichen Sabotagekampagne im Januar 2003 ist das Referendum die dritte Niederlage für die Opposition, an der sie nun zu zersplittern droht. »Jetzt beginnt der Kampf innerhalb der Opposition darum, welche Fraktion die 41 Prozent Chávez-Gegner in Zukunft an sich bindet«, meint Virginia Negretti, die Koordinatorin der deutschen Beobachterdelegation.

Neben Hardlinern wie Henry Ramos Alup, die es kategorisch ablehnen, das Ergebnis anzuerkennen, erklingen nun erstmals Stimmen, die sich mit Chávez abfinden und sich auf eine parlamentarische Opposition einstellen möchten. So erkannte Fransisco Arias Cárdenas, einst Mitstreiter von Chávez und später Präsidentschaftskandidat gegen ihn, das Ergebnis an und sprach sich für einen Neuanfang aus. Seitdem wird er aber von den oppositionellen privaten Massenmedien ignoriert.

Die Regierung, die eine Amtsenthebung per Referendum erst ermöglicht hatte, hat auf internationalen Druck der Opposition immer wieder Zugeständnisse gemacht. Selbst der für seine aggressive Rhetorik bekannte Chávez wird nicht müde, Integrationsangebote zu verkünden. Allerdings ist er mit einer zunehmend irrational agierenden Opposition konfrontiert. Diese bezeichnet sich zwar als demokratisch, doch offensichtlich übersteigt es das Vorstellungsvermögen der meisten Oppositionspolitiker, dass Wahlen auch mit Niederlagen enden können.

Die Äußerungen fast aller herausragenden Oppositionellen gleichen einem kindischen Reflex, die Realität einfach nicht sehen zu wollen. Neben den privaten Tageszeitungen und Fernsehsendern kommuniziert die Opposition über Ketten-E-Mails, in denen Verschwörungstheorien verbreitet werden. So kursierte die Meldung, die Abstimmung sei ein Komplott von Chávez, dem Medienmagnaten Gustavo Cisnero und der US-Regierung, damit sich das Land und der internationale Ölpreis stabilisiere. Wie zum Beweis stiegen in den USA und in Europa nach der Veröffentlichung des Abstimmungsergebnisses die Aktienindices an, während der Ölpreis fiel, zumindest kurzzeitig.

Chávez, dessen parlamentarische Koalition Block des Wandels die alte Elite entmachtet und das traditionelle Zweiparteiensystem abgelöst hat, achtet darauf, der unter dem Dachverband Demokratische Koordination vereinten Oppositionsbewegung nicht allzu viel Angriffsfläche zu bieten. Einerseits hat er sozialistisch inspirierte Strukturreformen wie Landverteilung und direktdemokratische Elemente durchgesetzt. Mit einer ganzen Reihe von Sozialprogrammen hat er sich die Feindschaft der Ober- und teilweise der Mittelschicht eingehandelt, obwohl er wirtschaftliche Erfolge vorzeigen kann. Das Wachstum liegt im laufenden Jahr bei sechs Prozent oder mehr, was nach Angaben der Dresdner Bank Lateinamerika auf die erhöhten Staatsausgaben zurückzuführen ist, die im ersten Halbjahr 2004 um 40 Prozent höher als im gleichen Zeitraum des Vorjahres lagen.

Andererseits versucht Chávez, sich durch eine kooperative Haltung in den politischen und wirtschaftlichen Außenbeziehungen abzusichern. Dazu zählt die Zuverlässigkeit bei den Erdöllieferungen ebenso wie eine konsequente Bekämpfung des Drogenhandels in dem Transitland für Kokain. Chávez setzt sich für eine südamerikanische Integration ein und hat dafür die Unterstützung seiner brasilianischen und argentinischen Amtskollegen gewinnen können. Jüngst wurde Venezuela assoziiertes Mitglied des Gemeinsamen Markts des Südens, Mercosur.

In den Wochen vor dem Referendum heizten exilierte Oppositionspolitiker die Stimmung an. So ließ der ehemalige Präsident Carlos Andrés Pérez aus Miami wissen, dass Chávez getötet und eine Übergangsdiktatur errichtet werden müsse. Auch der Vorsitzende des als mafiös geltenden und von rasantem Mitgliederschwund gezeichneten Gewerkschaftsverbandes CTV, Carlos Ortega, meinte, er habe mit einer zehn bis 15 Jahre währenden Diktatur keine Probleme.

Obwohl die privaten Medien vergangene Woche an der Behauptung eines »Megabetrugs« festhielten und weiter die Stimmung anzuheizen versuchten, schien sich am Wochenende die Lage auf den Straßen von Caracas zu beruhigen, auch im Landesinnern gab es keine Proteste. Aber noch ist offen, ob das Referendum eine Konsolidierung der Demokratie oder eine völlige Destabilisierung bewirken wird.