Verteilen und herrschen

Die Abhängigkeit Venezuelas vom Erdöl führt zu Verteilungskämpfen und wirtschaftlicher Stagnation. Daran hat auch die Regierung Chávez nichts geändert. von knut henkel

An der Zapfsäule in der Hauptstadt Caracas kostet ein Liter Benzin umgerechnet knapp vier Eurocent. Das entspricht etwa dem Produktionspreis. An seinen einheimischen Kunden verdient das staatlichen Erdölunternehmen Petroleo de Venezuela S.A. (PdVSA) wenig.

Die Gewinnspanne auf dem Weltmarkt dagegen ist immens. Die Förderung pro Barrel kostet den offiziellen Zahlen der PdVSA zufolge 2,70 US-Dollar, derzeit werden für ein Barrel etwa 45 US-Dollar bezahlt. Ein Anstieg des Ölpreises um einen US-Dollar pro Barrel verschafft Venezuela pro Jahr zusätzliche Einnahmen von rund 700 Millionen US-Dollar. Dem Land geht es aktuellen Wirtschaftsdaten zufolge ausgesprochen gut. Auf knapp 21 Milliarden US-Dollar belaufen sich die derzeitigen Devisenreserven der Nationalbank, und erst Ende Juli hat die Regierung zwei Milliarden US-Dollar aus den Öleinnahmen in einen Entwicklungsfonds für soziale und infrastrukturelle Projekte geleitet.

Es sind nicht zuletzt US-amerikanische Autofahrer, die diese Sozialprogramme finanzieren. Die USA beziehen etwa 13 Prozent ihrer Öleinfuhren aus Venezuela, das mit einer Ausfuhr von 2,2 Millionen Barrel täglich der fünftgrößte Erdölexporteur der Welt ist. Und die Zusammenarbeit mit transnationalen Konzernen wie Chevron-Texaco wird derzeit ausgeweitet. Sechs Milliarden US-Dollar will der Konzern in der Orinoco-Region investieren, zwei Gaskonzessionen wurden bereits zuvor erworben.

Präsident Hugo Chávez gilt in der Branche trotz allen revolutionären Pathos als verlässlicher Partner, denn Verträge wurden von ihm nicht gebrochen, und eine Verstaatlichung von Produktionsanlagen hat es ebenso wenig gegeben. Ungefähr 800 000 Barrel täglich werden in Venezuela derzeit in Kooperation mit internationalen Energiekonzernen gefördert. Auf diese Zusammenarbeit ist die Staatsfirma PdVSA angewiesen, denn allein kann sie die nötigen Investitionen derzeit nicht aufbringen. Zudem fehlt es Spezialisten der Branche zufolge an Fachpersonal, da die Regierung im Frühjahr letzten Jahres 18 000 Angestellte der Staatsfirma nach dem so genannten Erdöl-Putsch entließ.

Diese von der Opposition als »Zivilstreik« bezeichnete Lahmlegung der Förderung ließ die Wirtschaft im vergangenen Jahr um mehr als neun Prozent schrumpfen und zeigte die Verwundbarkeit einer vom Export eines einzigen Rohstoffs abhängigen Ökonomie; 81 Prozent der Exporteinnahmen stammen aus Ölverkäufen. Knapp die Hälfte des Haushalts wird durch die Erdöleinnahmen gedeckt, ein Einbruch in der Produktion, ein Rückgang der Förderkapazitäten oder ein Preisverfall auf dem internationalen Markt machen sich schnell negativ bemerkbar.

Derzeit aber profitiert die Regierung vom Preisanstieg, der in diesem Jahr nach Angaben der Analysten internationaler Finanzinstitutionen zu einem Wachstum der venezolanischen Wirtschaft von über zehn Prozent führen soll. Auch die Prognosen für das nächste Jahr gehen von Ölpreisen aus, die deutlich über den 18,50 US-Dollar pro Barrel liegen, die die Regierung für das laufende Jahr veranschlagt hat. Präsident Chávez wird also auch weiter in Petrodollar schwimmen und die Sozialprogramme leicht finanzieren können.

Doch an der wirtschaftlichen Struktur des Landes hat dies bisher nichts geändert. »Venezuela lebt von der Erdölrente und hat es nicht geschafft, den Reichtum des Landes für den Aufbau neuer Wirtschaftssektoren zu nutzen«, urteilt die Sozialwissenschaftlerin Margarita López Maya. Seit dem Erdölboom der sechziger Jahre ist die Verteilung der Exporteinnahmen die zentrale Frage, um die sich in Venezuela alles dreht.

Auch unter Hugo Chávez hat sich daran nichts Wesentliches geändert. Seine Regierung hat nur bei der Verteilung der Einnahmen andere Prioritäten gesetzt. Mehr für die Armen, weniger für die Oligarchie, so lässt sich sein Ansatz plakativ umreißen. An den Strukturen der Wirtschaft, an der so genannten holländischen Krankheit, hat sich nichts geändert. Diese wird diagnostiziert, wenn ein Land, wie die Niederlande in den sechziger Jahren im Erdgassektor, mit erheblichem Rohstoffreichtum zwar beeindruckende Exporteinnahmen erwirtschaftet, denen jedoch eine expansive Ausgabenpolitik des Staates gegenübersteht.

Dies ist auch in Venezuela der Fall. Zudem sorge die fast chronische Überbewertung der heimischen Währung dafür, dass es um die internationale Wettbewerbsfähigkeit schlecht bestellt ist, erklärt Andreas Boeckh, Venezuela-Experte der Universität Tübingen. Bereits Anfang der achtziger Jahre habe sich der Wachstumsimpuls durch das Öl für die Wirtschaft erschöpft. »Seitdem tritt die nationale Wirtschaft mehr oder weniger auf der Stelle.« Keine Regierung hat in den letzten beiden Dekaden echte Anstrengungen unternommen, um neue Wirtschaftssektoren aufzubauen.

Diese Chance hat auch die Regierung von Hugo Chávez versäumt, der im Februar 1999 angetreten war, um das Land zu reformieren. Seine Regierung stelle ein politisches Projekt dar, habe aber kein ökonomisches Konzept, meint Boeckh. Zudem sei es ausgesprochen schwierig, die Effizienz der zahlreichen Regierungsprogramme im sozialen Bereich zu evaluieren. »Die sind bestens abgeschirmt, so dass es unmöglich ist, ihre Effizienz zu überprüfen.« Entsprechend weit gehen die Meinungen auseinander: Die Opposition kritisiert die Korruption und Ineffizienz der Regierung, Chávez hingegen stellt die sozialpolitischen Erfolge in den schönsten Farben dar.

So läuft die Misión Robinson, das Alphabetisierungsprogramm, durchaus erfolgreich, wie selbst Teodoro Petkoff, einer der schärfsten Kritiker der Regierung und Herausgeber der Tageszeitung Tal Cual, zugibt. Die Erfolge im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit dagegen sind dürftig. Erst Ende des Jahres sei mit einem Sinken der Arbeitslosenquote unter zwölf Prozent zu rechnen, so die Angaben des Statistischen Instituts. Derzeit sind es noch etwa 15 Prozent. Vor seinem Regierungsantritt 1999 hat Chávez eine Million neue Arbeitsplätze versprochen.

Nur wenige neue Arbeitsplätze können in der alles andere als arbeitsintensiven Erdölbranche geschaffen werden. Neue Branchen sind jedoch auch unter Chávez nicht entstanden. Nicht ganz zu Unrecht macht die Regierung die Blockade vieler Unternehmer für das Schrumpfen der Wirtschaftsleistung in den vergangenen zwei Jahren verantwortlich. Chávez hat jedoch bisher kein ökonomisches Konzept vorgelegt, das über Veränderungen bei der Verteilung der Öleinnahmen hinausweist. In Venezuela dürfte die »holländische Krankheit« weiterhin eine Konstante bleiben. Den Schätzungen der Ölbranche zufolge reichen die Vorkommen bei gleich bleibender Förderung noch 200 Jahre.