Der deutsche Einheitsbrei

Die meisten Zeitungen unterstützten die Agenda 2010. Seit Hartz IV droht, versucht vor allem die Boulevardpresse, sich als Anwältin der Betroffenen zu profilieren. von thomas gesterkamp

Der Bundeskanzler und Deutschlands meistverkaufte Tageszeitung waren sich lange Zeit einig. Der Sozialstaat müsse »umgebaut«, der Arbeitsmarkt »modernisiert« werden. Bild unterstützte Gerhard Schröders »Reformpolitik« gegen alle Widerstände etwa der Gewerkschaften, die als »Blockierer« und »Bremser« denunziert wurden. Kaum aber traten die Gesetze in Kraft, folgte ein vollständiger Kurswechsel.

»Rentenklau, Praxisgebühr, Zuzahlung. Frau Ministerin, Sie machen uns krank!« Mit solchen Schlagzeilen griff das Springer-Blatt im Januar Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) an. Seit zehn Euro beim Arztbesuch fällig werden, gibt sich diese Zeitung plötzlich als schärfste Kritikerin der Gesundheitsreform. Die geballte Auflagemacht von 3,8 Millionen Exemplaren macht Tag für Tag Stimmung. Penibel werden Rententabellen aufgestellt, rührselige Geschichten von Armen und Kranken erzählt , die sich den Kauf ihrer Medikamente nicht mehr leisten können. Ein niedersächsischer Dialyse-Patient sei gar an den neuen Bestimmungen gestorben. Der Mann habe sich die früher von den Kassen bezahlte Taxifahrt in den Nachbarort nicht mehr leisten können und deshalb auf die lebensnotwendige Behandlung verzichtet.

»Fragen zu Hartz IV? Rufen Sie bei BamS an!« Bild am Sonntag deckt jede Woche neue Skandale der Arbeitsmarktreform auf. »Geld-Polizei kontrolliert Arbeitslose – Arbeitsamt droht mit Hausbesuchen«, hieß es Anfang Juli. Zwei Wochen später mussten »13 Millionen Deutsche zum Armuts-TÜV«. Die »Profis der Nation«, zu denen der Personalvorstand von VW, Peter Hartz, einst auch die journalistischen Meinungsführer gezählt hatte, sind abtrünnig geworden. Die geplante Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe wurde zum dominierenden Sommerthema, erst recht, seit Montagsdemonstrationen einen nicht zu übersehenden Unmut über Hartz IV gerade in Ostdeutschland zum Ausdruck gebracht haben.

»Arbeitslose sollen in Plattenbauten ziehen«, titelte Bild am 24. Juli, »Sparbuch-Irrsinn – Finger weg von unseren Kindern«, lautete die Schlagzeile am 5. August. Neuerdings kommen in den Springer-Zeitungen die Sprecher der Wohlfahrtsverbände ausführlich zu Wort, Politiker sprechen von einem »sozialpolitischen Super-GAU«, sogar »Verdi-Vizechefin« Margret Mönig-Raane durfte gegen die Anrechnung von Ausbildungsversicherungen auf das Arbeitslosengeld II wettern. Schicksale von Betroffenen gibt es täglich zuhauf, dann den nächsten Todesfall: »Mein Mann hat sich wegen Hartz IV umgebracht.« Ein Leipziger Tischler (»arbeitslos, verpfuschtes Leben«) hatte »Angst, mit 331 Euro auskommen zu müssen«.

Verwundert reibt sich der Leser die Augen. Ein gutes Jahr zuvor hatten die Verlautbarungen der rot-grünen Koalition das Wörtchen »Reform« kurzerhand umdefiniert. Nach dem Duden bedeutet es neben »Umgestaltung« und »Neuordnung« auch »Verbesserung des Bestehenden«. Doch wie der PR-Begriff »Agenda 2010« Visionäres vorgaukelt, wo in der politischen Praxis kurzatmiges Herumdoktern die Regel ist, wie sich der vorgebliche »Umbau« des Sozialstaates de facto als Abbau darstellt, so verschleiert der inflationäre Gebrauch des Wortes »Reform«, dass es im Kern nicht um Verbesserung, sondern um Verschlechterung des Bestehenden für die Unterschichten geht.

Die Öffentlichkeitsarbeiter der Bundesregierung konnten zufrieden sein: Nicht nur konservative Zeitungen, auch linksliberale Blätter wie die Frankfurter Rundschau oder die taz nannten es »Reform«, dass Gesundheitskosten einseitig den Versicherten aufgebürdet, Renten gekürzt und Arbeitslose schikaniert werden sollten.

In der Debatte um die Agenda 2010 war es Schröder gelungen, seine »Reformen« als scheinbar alternativlos darzustellen. Zu den Skandalgeschichten des Boulevards über »Sozialschmarotzer« wie »Florida-Rolf« lieferten die etwas seriöseren Blätter mit ausgiebiger Gewerkschaftsschelte die passende Begleitmusik. Von »erpresserischen Streikdrohungen« und einem »wild wuchernden Sozialstaat« war die Rede, die Gewerkschaften wurden pauschal als Verhinderer gesellschaftlicher Veränderung angeprangert. »Zwischentöne sind selten geworden und die seltenen leise. Über Gewerkschaften gibt es zwischen Rhein und Spree nur noch eine öffentliche Meinung: eine schlechte. Hohn-, Spott- und Abgesänge, anschwellend wie Bocksgesang, dröhnen durch die Republik«, so beschrieb der Politikberater und frühere Leiter der DGB-Pressestelle, Hans-Jürgen Arlt, die Stimmung.

Mittlerweile hat sich die Anhängerschaft der SPD in Wahlen und Umfragen fast halbiert, die Proteste gegen Hartz IV werden stärker. Außer dem Boulevard wechselten auch die Wochenmagazine die Tonlage. Der Spiegel, der einst verbissen gegen die »Lobby des Stillstands« und »gewerkschaftliche Traditionsbataillone« anschrieb, wartet jetzt mit Titelgeschichten über ein »verunsichertes Volk« auf. Deutschland sei »im Hartz-Fieber: Was die Regierung als ›größte Sozialreform der Geschichte‹ preist, empfinden die Betroffenen als Sozialabbau ohne Beispiel.«

Sogar Hans-Ulrich Jörges, der Berliner Kolumnist des Stern, hat inzwischen sein Herz für die Gegner der »Reformen« entdeckt. »Die Reformschmarmützel verschmelzen zum Schlachtfeld der Demontage, der Depression, der Angst«, weiß er heute zu berichten. Vor einem Jahr verlangte er mit brachialer Rhetorik Veränderungen und schreckte dabei auch vor persönlichen Beleidigungen nicht zurück. Er fühlte sich wie im »Engelen-Kefer-Land« und beschrieb die stellvertretende Vorsitzende des DGB als »Modell-Sirene des Verbändestaats«, die »tagtäglich heult«.

In seinem »Zwischenruf« verwendet Jörges mit Vorliebe kriegerisches Vokabular. »Wird in Deutschland der Kündigungsschutz zur Debatte gestellt, greifen die Verteidiger der Festung Sozialstaat routiniert zur schweren Streitaxt der ideologischen Frühzeit. Schon der erste Hieb spaltet das Hirn.« Jörges profilierte sich als rabiater Gewerkschaftshasser: »Die Schlacht zu schlagen gegen die Stalinisten der Tarifpolitik ist unabwendbar. Versteifen sich die Gewerkschaften, müssen sie gebrochen werden.« Selbst Abokündigungen, die Leser des Stern mit Jörges’ überzogenem Sprachgebrauch begründeten, ließen den einstigen Chefredakteur der Woche kalt.

Im Vergleich hielten sich die Kommentatoren der bürgerlichen Frankfurter Allgemeinen Zeitung höflich zurück. Auch sie wühlten schon mal in der »Mottenkiste aktiver Arbeitsmarktpolitik« oder machten »Speerspitzen der traditionellen Sozialpolitik« aus. Die FAZ musste sich aber nicht sonderlich anstrengen, weil sich der publizistische Tenor von wenigen Ausnahmen abgesehen ohnehin ähnelte. Das Anspruchsniveau sei zu hoch, der Sozialstaat »zu teuer«, »harte Einschnitte« seien unumgänglich; endlich müsse Schluss sein mit der Diskussion!

Wer die Kommentare verfolge, schrieb Roderich Reifenrath in der Frankfurter Rundschau ironisch, »wird den Verdacht nicht los, dass sich tonangebende Chefredakteure allmorgendlich bei einer geheimen Konferenzschaltung der Printmedien in die Hand versprechen, auch heute wieder im Meinungsteil keinen Millimeter vom Pfad marktwirtschaftlicher, liberaler, neoliberaler Tugenden abzuweichen«.

Doch der publizistische Einheitsbrei entsteht auch ohne Strippenzieher hinter den Kulissen. Sobald sich der politische Wind dreht, wechseln viele Journalisten in ihren Beiträgen, Moderationen oder Auftritten im Presseclub die Richtung. »Haben wir es mit einer Mischung aus Ahnungslosigkeit, Existenzangst und Überzeugungstäterschaft zu tun?« fragt sich Konrad Klingenburg vom Bundesvorstand des DGB.

Die Gewerkschafter aber machen es sich zu einfach, wenn sie auf die Journalisten-»Generation Golf« schimpfen, die mit der »Ideologie der Deregulierung« aufgewachsen sei. Nicht überall fehlt die Bereitschaft zur gründlichen Auseinandersetzung mit wirtschafts- und sozialpolitischen Themen, fast immer aber mangelt es an Zeit und am Budget für aufwändige Recherchen. Ein Grund für die erfolgreiche Lobbyarbeit von Ärzteverbänden und Pharmaindustrie liegt schlicht in der komplizierten Materie. Welcher Journalist weiß schon genau, was eine »Positivliste« ist? Welcher Redakteur versteht die Abrechnungspraxis der kassenärztlichen Vereinigungen?

Die Mediendebatte etwa um das Gesundheitssystem macht keine Zusammenhänge transparent. Talkshows wie die von Sabine Christiansen tauschen die Schlagworte der kommenden Woche aus. Gerade die hauptstädtische Parlamentsberichterstattung lässt immer wieder dieselben Leute zu Wort kommen, die außer Worthülsen wenig zum Thema beizutragen haben. Alternative Vorstellungen oder Konzepte tauchen kaum auf. Im Dunstkreis der Bundespressekonferenz und des Verlautbarungsjournalismus entsteht jene Stimmung, als deren Ergebnis dann fast alle Kommentatoren freiwillig einer Meinung sind.

Selbstverständlich ist es blanker Populismus, wenn Medien erst über Monate »Reformen« einfordern, später aber Stimmung gegen ihre Verwirklichung machen. Schröder reagierte auf die wachsende Kritik an seiner Politik und Person unter PR-Gesichtspunkten ungeschickt. Er verweigerte der Bild-Zeitung Interviews. Der Ärger des Kanzlers über den widersprüchlichen Kurs des Massenblattes mag verständlich sein, und schließlich hat auch sein Vorgänger Helmut Kohl die »Feindpresse« vom Spiegel geflissentlich ignoriert. Mit seinem Boykott aber provozierte der einstige Medienliebling Schröder die Solidaritätserklärungen anderer Journalisten, die sich bei der Verteidigung ihrer Arbeitsmöglichkeiten meist einig sind. Kommunikationswissenschaftler gehen davon aus, dass Boulevardzeitungen keine Trends schaffen, sondern diese nur verstärken können. Die neue Berichterstattung in Bild ist so besehen weniger eine bewusste Kampagne zum Sturz der Bundesregierung als eine Marktstrategie zur Rettung der seit Jahren rückläufigen Auflage.