Opelstadt ohne Opel
Rüsselsheim ist Opel. Als anstößig würde in Rüsselsheim diesen Satz kaum jemand empfinden, im Gegenteil, gerne und stolz sprechen die Einheimischen von der »Opelstadt«. Fußball spielt man beim SC 06 Opel, Kunst wird in den Opel-Villen ausgestellt, über den Main führt die Opel-Brücke, bis vor einigen Jahren ging man im Opel-Bad schwimmen. Plastisch wird das Selbstbild der 60 000 Einwohner zählenden Stadt in Ottmar Hörls Installation »Familientreffen«. An sechs Punkten in der Stadt sind die verschiedenfarbigen Figurengruppen aus Stahl verteilt, die piktogrammartig die klassische Kleinfamilie samt Hund in Lebensgröße darstellen. So steht die rote Familie vor dem traditionell sozialdemokratisch regierten Rathaus. In Rüsselsheim schmückt man sich mit sowas.
Wie eng die Geschichte der Stadt mit der Automobilfirma zusammenhängt, erkennt jeder, der mit der S-Bahn aus Mainz oder Frankfurt kommend am Rüsselsheimer Bahnhof aussteigt. Auf den ersten Blick gleicht die Szenerie unzähligen anderen deutschen Städten: ein Vorplatz mit Busbahnhof, dahinter die Fußgängerzone, dann Markplatz, Rathaus, Kirche. Unmittelbar am Bahnhof befindet sich aber auch das alte Opel-Hauptportal aus rotem Backstein, hinter dem sich das 2,6 Millionen Quadratmeter großes Opel-Gelände erstreckt. Dass das riesige Areal direkt an die City grenzt, genügt, um zu ahnen, wie groß dieser Ort vor der Industrialisierung gewesen sein muss. So betrachtet, ist Rüsselsheim tatsächlich Opel. Aber ist Opel auch Rüsselsheim?
Nicht unbedingt, nicht notwendig in dieser Form und nicht für alle Zeiten – so lassen sich die jüngsten Äußerungen von General Motors (GM) deuten. »Der Opel-Vectra und der Saab 93 werden von 2008 an in einem Werk produziert«, verkündete ein GM-Sprecher am Freitag vorletzter Woche in Zürich. Bislang stellen die GM-Tochterunternehmen Opel in Rüsselsheim und Saab im schwedischen Trollhättan Mittelklassewagen her. Allerdings produziert Trollhättan nur 114 000 Autos statt der jährlich möglichen 190 000, Rüsselsheim ist mit 140 000 Autos nur zu rund 65 Prozent ausgelastet.
Am Stammsitz der Firma arbeiten derzeit rund 10 000 Menschen im technischen Entwicklungszentrum, weitere 4 000 in der Konzernverwaltung und 5 600 in drei Schichten in der Produktion. Sind diese Jobs in der Produktion gefährdet?
Bei der Opel-Geschäftsführung wiegelt man ab. »Die Zusammenlegung der Fertigung an einem Standort bedeutet nicht automatisch, dass der andere Standort geschlossen wird«, erläutert Unternehmenssprecherin Gudrun Langer. In der Branche gilt es aber als sicher, dass jenes Werk, das in diesem Rennen leer ausgeht, einen Großteil der Belegschaft entlassen dürfte. Erst im Juni hatte GM-Vizepräsident Bob Lutz in einem Interview mit der Zeit erklärt: »Wenn es keine Änderungen in der deutschen Kostenstruktur gibt, sehe ich über kurz oder lang Deutschland als Produktionsstätte für Automobile stark gefährdet.« Damals hatte GM entschieden, die nächste Baureihe des Modells Zafira trotz der dort freien Kapazitäten nicht in Rüsselsheim, sondern im polnischen Gliwice zu bauen. Der deutsche Betriebsrat vermutet, dass politische Gründe sowie ein polnisch-amerikanisches Waffengeschäft den Ausschlag dafür gaben.
Nun tobt der Standortwettbewerb zwischen Rüsselsheim und Trollhättan. Er werde sich »persönlich für den Standort Rüsselsheim einsetzen«, versichert der hessische Ministerpräsident Roland Koch, die schwedische Regierung signalisiert, finanzielle Hilfen für Trollhättan zu leisten. In einer Erklärung des europäischen GM-Betriebsrates heißt es: »Die europäischen Arbeitnehmervertreter werden sich nicht durch Sozialdumping gegeneinander ausspielen lassen und forderten die Konzernleitung in Zürich auf, mit neuen und innovativen Produkten Marktanteile zurückzugewinnen.« Klaus Franz, der Vorsitzende des Gremiums, sagt: »Wir fordern eine Zukunft für beide Werke.«
Aber in einem letzte Woche in Rüsselsheim verteilten Flugblatt übt sich der dortige Betriebsrat, trotz aller Solidaritätsformeln, in einer Form des Co-Managements, die wie eine Kampfansage in Richtung Schweden klingt: »Rüsselsheim hat klare Standortvorteile«, heißt es darin, das Werk sei das weltweit modernste, die nächste Vectra-Reihe könne ohne größere Neuinvestitionen dort gebaut werden, Rüsselsheim biete logistische und infrastrukturelle Vorteile. Und, fast unvermeidlich: »Das Werk am Traditionsstandort Rüsselsheim ist das Herz der Marke Opel.« Franz, der zugleich Vorsitzender des deutschen und des Rüsselsheimer Betriebsrates ist, erklärt auf Nachfrage: »Wenn schon zwischen zwei Werken ausgewählt wird, bietet Rüsselsheim enorme Pluspunkte.« In Trollhättan wiederum verkündet die Metallgewerkschaft: »Es ist wichtig, dass wir alle bei Saab dabei mithelfen, dass wir eine konkurrenzkräftige Alternative darstellen.«
Anfang 2001 trugen Streiks in den europäischen GM-Fabriken dazu bei, eine Schließung des englischen Vauxhall-Werks zu verhindern. Da es nun um eine Entscheidung zwischen zwei GM-Werken geht, könnte die Solidarität auf der Strecke bleiben. »Man wahrt den Schein von internationaler Solidarität, aber gleichzeitig versucht man, den eigenen Betrieb zu retten, indem man die Vorzüge des jeweiligen Standorts betont, also in Schweden die niedrigeren Löhne, in Deutschland die modernere Fabrik«, kritisiert Jürgen Schwartz, der für die oppositionelle Liste »Gegenwehr ohne Grenzen« im Betriebsrat des Bochumer Werks sitzt, des größten Produktionsorts von Opel. Dass die Konkurrenz derzeit nicht noch heftiger ausgefochten wird, könnte daran liegen, dass mit dem US-Konzern General Motors ein veritabler Gegner existiert: »Führende GM-Manager reden von Entlassungen und ziehen den Standort Deutschland in den Schmutz«, heißt es im Rüsselsheimer Flugblatt, ganz so, als ob nicht gerade erst Daimler den drastischsten Angriff auf soziale Standards geführt hätte.
Im Rüsselsheimer Betriebsrat existiert keine linke Opposition. Aber dass der »Obbel«, wie die Firma im hessischen Idiom heißt, tatsächlich dort die Produktion einstellen könnte, ist für viele unvorstellbar. Am Tor 48, einem unscheinbaren Seiteneingang, von dem man am schnellsten in die neue Produktionsstätte gelangt, sagt Maria Laufert*: »Ich glaube nicht, dass man ein neues Werk baut und gleich wieder schließt. Aber ändern können wir das nicht.« Um den eigen Job sorgen sich die meisten Beschäftigten aber sehr wohl. »Die werden nicht schließen, aber vielleicht Leute rauswerfen«, meint Adil Can, der seit 29 Jahren am Band arbeitet. Im 56-Sekunden-Takt werden dort die Autos montiert, eine elektronische Anzeige registriert jeden Produktionsrückstand, die Halle wirkt klinisch sauber. »Früher war die Arbeit härter, heute herrscht dafür mehr Disziplin. Bei Opel zu arbeiten, war früher wie Beamter zu sein – lebenslange Arbeitsgarantie, bessere Bezahlung als in anderen Fabriken«, sagt Can.
Sein Kollege Alberto Manuzzi meint: »Sie wollen uns jetzt Angst einjagen, um uns Zugeständnisse abzupressen.« Auch Betriebsrat Mehmet Küçük sieht einen Zusammenhang zwischen der impliziten Drohung und dem Forderungskatalog, den die Opel-Geschäftsführung nur eine Woche vor der Meldung aus Zürich präsentiert hatte. »Die Konzernleitung lanciert die Drohung, das Werk zu schließen, dementiert dann sofort, um die Leute zu beruhigen, aber das reicht, um die Kollegen zu verängstigen.«
Allerdings ist General Motors von der Krise der Automobilindustrie zweifellos besonders betroffen. Der breit gefächerte Konzern mit einem Produktionsvolumen von 8,26 Milliarden Euro ist zwar weltweit die Nummer Eins in der Branche, die durchschnittliche Umsatzrendite aber betrug 2003 nur 1,2 Prozent. Zum Vergleich: Honda bringt es bei einem Volumen von 2,85 Milliarden Euro auf eine Rendite von 7,7 Prozent. Einen Ausweg sucht Opel nach dem Vorbild von Siemens und Daimler in einer drastischen Kostenreduzierung. Die Unternehmensführung fordert: Ausdehnung der Arbeitszeit auf 40 Stunden bei einer Bezahlung von 35 Stunden, keine Übernahme tariflicher Lohnerhöhungen bis 2009, Streichung der Schichtzulagen und Reduzierung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Erhöhung der Bandgeschwindigkeit. Der Betriebsrat wiederum fordert eine Arbeitsplatzgarantie bis 2010.
Bereits 1998 hatten sich beide Seiten darauf geeinigt, den tariflichen Lohn- und Gehaltszuwachs um jeweils 1,25 Prozentpunkte zu kürzen und dafür auf betriebsbedingte Kündigungen zu verzichten. 2003 wurde die Arbeitszeit auf 30 Stunden bei teilweisem Lohnausgleich reduziert. »Die Belegschaft hat das 750 Millionen Euro teure neue Opel-Werk finanziert«, sagt Udo Löwenbrück, der Vorsitzende der Vertrauenskörperleitung der IG Metall. Es klingt nicht kritisch, sondern verantwortungsvoll. Im Gespräch erwecken die Rüsselsheimer Betriebsräte den Eindruck, dass sie für eine Arbeitsplatzgarantie zu Zugeständnissen bereit sind, die weit über die bisherigen hinausgehen. »Wenn wir eine Zusicherung erhalten, können wir über die Forderungen reden«, sagt Franz. »Einige Punkte werden wir nicht mitmachen, aber wir müssen auch langfristig die Produktion am Standort Deutschland sichern.«
Über die Frage, ob sie für eine Arbeitsplatzgarantie dazu bereit wären, mehr zu arbeiten und weniger zu verdienen, ist die Spätschicht vor dem Tor 48 gespaltener Meinung. »Das mache ich nicht«, sagt der Arbeiter Thorsten Schmand, »Produktion ist kein Zuckerschlecken.« Auch Mahir Yigit aus dem Presswerk meint, dass man die Rechte verteidigen müsse, die über Jahrzehnte hinweg erkämpft worden seien. »Wir sollten uns nicht von dem Gerede über eine Standortverlagerung verrückt machen lassen. Können sie die gesamte deutsche Wirtschaft ins Ausland verfrachten? Was machen sie dann mit Millionen Arbeitslosen?« Allerdings ist auch Yigit, dem man seine kommunistische Schulung anmerkt, skeptisch, ob es gelingen wird, Widerstand zu organisieren. »Selbst die ausländischen Kollegen sind nicht mehr so kämpferisch. Sie haben sich inzwischen hierzulande niedergelassen, haben Häuser gekauft, sich verschuldet. Sie haben etwas zu verlieren.« Die Arbeitslosigkeit tue ein Übriges, um die Belegschaft zu Zugeständnissen zu bewegen.
»Ich kontrolliere seit über 20 Jahren Radkappen. Wer nimmt mich, wenn die mich rausschmeißen? Lohnverzicht ist schlecht, aber wenn hier geschlossen wird, verliert meine Familie viel mehr Geld«, meint Youssef Badou, und es fällt schwer, ihm zu widersprechen. »Für einen sicheren Arbeitsplatz würde ich auf einen Teil meines Lohnes verzichten. Und wenn die Manager das auch machen, können wir zusammen den Karren hoch bringen«, glaubt Holger Röder aus der Rohkarosserieproduktion.
In diesem Teil der Fabrik wird das Problem der Automobilindustrie wie des gesamten Kapitalismus deutlich: In riesigen Produktionsstraßen schweißen filigrane Roboter aus hunderten von Blechteilen die Karosserie zusammen, der Automatisierungsgrad beträgt hier 98 Prozent. Dem Besucher wird klar, warum beispielsweise Opel in Rüsselsheim nunmehr mit 5 600 Arbeitern in der Produktion auskommt, wo noch vor 25 Jahren rund 33 000 Leute beschäftigt waren. In einem Film, der Besuchern der Ausstellung »Opel Live« vorgeführt wird, heißt es über die 2002 fertiggetellte Produktionsanlage in Rüsselsheim: »Das gesamte Werk entstand zunächst in virtueller Realität am Computer. Virtuelle Mitarbeiter bauten an virtuellen Arbeitsplätzen virtuelle Autos.« Gewiss lassen sich auch virtuelle Käufer programmieren, aber ein virtueller Profit ist keiner.
Im hervorragenden Rüsselsheimer Stadtmuseum ist die Entwicklung einer Landgemeinde zum Industrieort nachgezeichnet. 1924 war Opel die erste deutsche Fabrik, die mit der Fließbandproduktion begann, die die Grundlage für das fordistische Akkumulationsmodell – die massenhafte Herstellung und der ebenso massenhafte Konsum von Waren – bildete. Das Auto hat nicht nur ökonomisch diesen Akkumulationszyklus geprägt, sondern wurde ebenso zum ideologischen Ausdruck der Epoche: Es symbolisierte individuelle Freiheit und Mobilität sowie die Teilhabe am Wohlstand.
Rüsselsheim wuchs zwischen den fünfziger und siebziger Jahren zur fordistischen Modellstadt: Wohnen, Arbeiten und Freizeit wurden strikt getrennt, gemäß dem Ideal einer autogerechten Stadt wurden breite, oft vierspurige Straßentangenten mitten durch Wohngebiete gebaut. Der Boom hatte seine Annehmlichkeiten: Gemessen an der Bevölkerungszahl avancierte Rüsselsheim zu einer der reichsten Gemeinden Deutschlands, man leistete sich ein Stadttheater, eine ordentliche Bibliothek und Stadtteilbüchereien, mehrere Schwimmbäder, großzügige Parks.
Wer heute durch Rüsselsheim geht, erkennt, dass die Krise von Opel auch die Krise der Stadt ist. Viele Läden in der Fußgängerzone sind geschlossen, die City ist geprägt von Ramschläden, vor Jahren schloss die Karstadt-Filiale, der leer stehende Gebäudeklotz erinnert an bessere Tage. Die Umstrukturierung von der Arbeiter- zur »Dienstleistungsstadt«, von der man in Rüsselsheim, wie anderswo auch, seit Jahren schwadroniert, entpuppt sich als Illusion. So wartet man im Industriegebiet Blauer See vergeblich auf High-Tech-Unternehmen. Hyundai hat hier seine europäische Verwaltungszentrale errichtet, dahinter endet die Straße im Nichts. In der öden Brache am Rande der Autobahn verkündet seit Jahren ein vergilbtes Werbeschild: »Zukunft gestalten«.
Entstanden sind neue Dienstleistungsjobs etwa am Frankfurter Flughafen, wo 150 000 Leute arbeiten, mehr als irgendwo sonst im Rhein-Gebiet. Aber bei diesen handelt es sich oft um ungesicherte und schlecht bezahlte Arbeitsplätze. Neue Kaufkraft bildet sich dort nicht. So bleibt die Rüsselsheimer Firma auf ihren Autos sitzen, schreibt Verluste und zahlt seit Jahren keine Gewerbesteuer.
Auch deswegen muss die Stadt sparen. Zwar konnte vor zwei Jahren mit einem Bürgerbegehren die Schließung einer Schule und einiger Kindertagesstätten verhindert werden, doch an anderen Stellen werden die knappen Kassen sichtbar. Vor fünf Jahren wurde das Opel-Bad geschlossen, seitdem wuchert Gestrüpp auf dem Gelände. Daneben liegt der Bauwagenplatz, der inzwischen über Wasser und Strom verfügt, aber anders als Anfang der neunziger Jahre politisch bedeutungslos ist.
Der Platz ist eines der letzten Überbleibsel einer ehemals relativ großen linksradikalen Szene. In den siebziger Jahren gingen Kader linker Organisationen nach Rüsselsheim, um dort »italienische Verhältnisse« herzustellen. Zwar scheiterte das Vorhaben, die Arbeiterschaft zu radikalisieren, aber immerhin gelang es, viele Jugendliche zu politisieren, es bildete sich eine linksradikale Szene, die vor allem in den Auseinandersetzungen um die Startbahn West wuchs.
Auch der heutige Betriebratsvorsitzende Klaus Franz ging im Auftrag der maoistischen KPD zu Opel, um dort, wie einer seiner ehemaligen Genossen berichtet, verdeckt für die Organisation zu arbeiten. Kaum gelangte er in den Betriebsrat, ging die Partei futsch. Seiner Karriere tat dies keinen Abbruch, bundesweit profilierte er sich zuletzt, als er den Metallerstreik in Ostdeutschland torpedierte. Jüngst musste der Bürgermeister, ein langjähriger Linksradikaler, anlässlich eines unsauberen Beratervertrags zurücktreten, den er einem ehemaligen Autonomen zugeschanzt hatte.
Auch auf der anderen Seite bilden die Veteranen aus den Betriebskämpfen und den Jugendprotesten den Kern der Restlinken, neue Aktivisten wurden lange nicht gesichtet. Dieses Spektrum organisiert nun »Montagskundgebungen« gegen Hartz IV mit. Doch mit Opel haben die spärlichen Proteste nichts zu tun. Ganze drei Opel-Arbeiter hat der Attac-Sprecher Heinz-Jürgen Krug unter den 50 Teilnehmern der letzten Kundgebung gezählt – nach den alarmierenden Meldungen von GM.
* Die Namen der Arbeiterinnen und Arbeiter wurden von der Redaktion geändert.