Kritik der Gewalt

Über die Gewaltbegriffe von Walter Benjamin, Albert Camus und Frantz Fanon. Von Gerhard Scheit

Benjamins göttliche Gewalt

In seiner frühen Schrift »Zur Kritik der Gewalt« stellt Walter Benjamin die göttliche Gewalt der mythischen entgegen: »Ist die mythische Gewalt rechtssetzend, so die göttliche rechtsvernichtend, setzt jene Grenzen, so vernichtet diese grenzenlos, ist die mythische verschuldend und sühnend zugleich, so die göttliche entsühnend, ist jene drohend, so diese schlagend, jene blutig, so diese auf unblutige Weise letal.«

Damit jedoch sei unter göttlicher Gewalt keineswegs die letale Gewalt den Menschen »bedingungsweise gegeneinander« freigegeben und das Gebot »Du sollst nicht töten« aufgehoben. Aber dieses Gebot bleibe, so wahr es nicht Furcht vor Strafe sein darf, die zu seiner Befolgung anhält, »unanwendbar«, »inkommensurabel« gegenüber der vollbrachten Tat. Es steht »nicht als Maßstab des Urteils, sondern als Richtschnur des Handelns für die handelnde Person oder Gemeinschaft, die mit ihm in ihrer Einsamkeit sich auseinanderzusetzen und ungeheuren Fällen die Verantwortung von ihm abzusehen auf sich zu nehmen haben. So verstand es auch das Judentum, welches die Verurteilung der Tötung in der Notwehr ausdrücklich abwies.«

Die Bezugnahme auf das Judentum an entscheidender Stelle ist keineswegs zufällig: Benjamins Begriff einer göttlichen Gewalt versucht so etwas wie die Rekonstruktion revolutionärer Gewalt aus dem Geiste des Judentums. An einigen Punkten erscheint dieser Begriff aber wie eine bloße Übersetzung von Georges Sorel und Carl Schmitt in die Terminologie jüdischer Religiosität: die »ungeheuren Fälle«, die das Gebot ›Du sollst nicht töten‹ außer Kraft setzen, sind sie nicht einfach der Schmittsche Ausnahmezustand oder der Sorelsche Generalstreik?

Was bei Schmitt Souverän heißt, trägt bei Sorel den Namen Sozialismus – »Der Gewalt verdankt der Sozialismus die hohen moralischen Werte, durch die er der modernen Welt das Heil bringt« – und bei Benjamin steht hier zunächst das »Göttliche«, dann die Revolution. Vor allem wenn Benjamin von »grenzenloser Vernichtung« spricht, um die letale göttliche Gewalt, die jenseits der Zweck-Mittel-Relation des Rechts zu suchen sei, von der mythischen blutigen abzusetzen, die sich im Recht ebenso einschränkt, wie sie – »als Mittel zu Rechtszwecken« – aus ihm hervorgeht, dann scheint in der Tat die Grenze zur präfaschistischen Konzeption fließend geworden. »Die Kriegführung bei hellem Tag«, schrieb Sorel, »ohne jede heuchlerische Abschwächung und mit dem Ziele der Vernichtung eines unversöhnlichen Feindes, schließt alle Gräuel aus, die die bürgerliche Revolution des 18. Jahrhunderts entehrt haben«.

Benjamin folgte Schmitt später explizit in der Einschätzung des Absolutismus – darin, dass es im Naturrecht des 17. Jahrhunderts noch ein lebhaftes Bewusstsein von der Bedeutung des Ausnahmefalles gegeben habe, und es der Aufklärung bedurfte, dieses zu unterdrücken und zu verdrängen. Aber wenn Benjamin von der »Idee der Katastrophe« und der »Überspannung der Transzendenz« spricht, dann in einem anderen Zusammenhang: die Theologie, die er im Politischen entfaltet, zeigt sich zuletzt doch als eine vom jüdischen Messianismus gleichsam in Schach gehaltene.

Die Epoche des Dreißigjährigen Krieges, die er im »Ursprung des deutschen Trauerspiels« mit Hilfe von Schmitts politischen Begriffen vergegenwärtigt, wird als Katastrophen-Zeitalter verstanden – im Kern aber hat es Benjamin nur auf jene Momente der Katastrophe abgesehen, die nicht auf christliche Weise zu bewältigen sind. Der deutsche Protestantismus erscheint in der Form des jüdischen Glaubens, der Barock wird messianisch uminterpretiert: »Der religiöse Mensch des Barock hält an der Welt so fest, weil er mit ihr sich einen Katarakt entgegen treiben fühlt. Es gibt keine barocke Eschatologie; und eben darum einen Mechanismus, der alles Erdgeborene häuft und exaltiert, bevor es sich dem Ende überliefert. Das Jenseits wird entleert von alledem, worin auch nur der leiseste Atem von Welt webt und eine Fülle von Dingen, welche jeder Gestaltung sich zu entziehen pflegten, gewinnt das Barock ihm ab und fördert sie auf seinem Höhepunkt in drastischer Gestalt zu Tag, um einen letzten Himmel zu räumen und als Vakuum ihn in den Stand zu setzen, mit katastrophaler Gewalt dereinst die Erde in sich zu vernichten.«

Aber diese Vernichtung ist in letzter Konsequenz nach dem Vorbild des jüdischen Messianismus gedacht: »So werd ich Todten-Kopff ein Englisch Antlitz seyn.« Das Opfer von Jesus entfällt, wird zurückgenommen: das Jenseits von seiner Gestalt befreit.

Die Allegorie, die auf das Opfer zielt, geht leer aus: zurück bleibt der subjektive Tiefsinn, der Blick der Melancholie, in deren Verfassung das Bewusstsein auf den Messias wartet. Sie aber ermöglicht Benjamin eine immanente Kritik der Politischen Theologie. Am Trauerspiel zeigt er die »Entschlussunfähigkeit des Tyrannen«: »Der Fürst, bei dem die Entscheidung über den Ausnahmezustand ruht, erweist in der erstbesten Situation, dass ein Entschluss ihm fast unmöglich ist.« Fällt er doch, so macht ihn gerade seine völlige Unabhängigkeit von normativen Orientierungen und Rückbindungen an das Recht abhängig von der »Willkür eines jederzeit umschlagenden Affektsturms«.

Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, aber in der Frage, wie die Entscheidung zustande komme, tritt der Widerspruch hervor: bei Schmitt ist es das Nichts, das den Ausschlag gibt; bei Benjamin jedoch kommt gerade darin das beständig Verleugnete, mühsam Unterdrückte wieder zur Geltung: Ressurektion der Natur im Wahnsinn der Politik. »Nicht Gedanken, sondern schwankende physische Impulse bestimmen« den Souverän: »Zuletzt tritt der Wahnsinn ein.« Wer sich von der Herrschaft des Souveräns die Überwindung des zerstörerischen Naturzustands erwartet, dem zeigt Benjamins Analyse, dass gerade sie zu diesem Zustand in grauenvollster Form zurückführt. Die Politische Theologie, die Benjamin bei Schmitt studiert hat, findet sich – wie Susanne Heil feststellt – im barocken Trauerspiel entlarvt: Sie verkenne »die Kreatürlichkeit menschlichen Daseins. Aus dem Versuch, ein endliches Wesen mit unendlicher Macht auszustatten, resultiert die blinde Durchsetzung der Natur.«

Der Ursprung des deutschen Trauerspiels ist der Ausnahmezustand, der von Fürsten und Tyrannen nicht beendet werden kann, auch wenn sie Lenin und Stalin heißen. Karl Kraus und Franz Kafka jedoch sind die Dichter des Totenkopfes, der sich im Angesicht der Katastrophe als Englisches Antlitz erfährt. »Die Tradition der Unterdrückten«, heißt es dann in den »Geschichtsphilosophischen Thesen«, die Benjamin unmittelbar nach dem Hitler-Stalin-Pakt formuliert hat, »belehrt uns darüber, dass der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen.«

Was Benjamin zeitlebens von einem gewöhnlichen Germanisten und einem normalen Linken unterscheidet, ist die intellektuelle Distanz zum Staat, die einzunehmen er an den jüdischen Traditionen gelernt hat. Darum lässt er Gewalt um ihrer selbst willen und Gewalt um des Lebendigen willen nicht zusammenfallen. »Die mythische Gewalt ist Blutgewalt über das Leben um ihrer selbst, die göttliche reine Gewalt über alles Leben um des Lebendigen willen. Die erste fordert Opfer, die zweite nimmt sie an.« Hier verläuft exakt die Linie, die Benjamin von Carl Schmitt trennt, der sagt, die »politische Einheit muss gegebenenfalls das Opfer des Lebens verlangen«.

Benjamins Antinomie, dass die göttliche Gewalt das Opfer nicht fordere, aber annehme, umschreibt in etwa die Unmöglichkeit eines Faschismus aus jüdischem Geist. Wenn die Kritik der Gewalt allerdings an dieser einen Stelle es nicht vermag, deutlicher zu werden, dann liegt auch das vermutlich an jener Distanz zum Staat, die Benjamin wahrt. Die Kritik der Gewalt muss aber deutlicher werden: Annehmbar ist nur, dass einer sein Leben riskiert. Wo aber jemand für die Revolution sich opfert, ist sie schon an den Staat verloren.

Camus’ revoltierende Gewalt

Kann es eine Gewalt ohne den Fetischismus des Opfers geben? Das ist die Frage jeder revolutionären Gewalt. Albert Camus sprach von der Revolte, um sich von einer Revolution loszusagen, die auf Opfer und Selbstopfer nicht verzichten kann. Dabei unterschied er durchaus zwischen der »irrationalen Revolution« der Nationalsozialisten in der Tradition von Nietzsche und der »rationalen Revolution« in der Tradition von Marx. »Der Faschismus will die Heraufkunft von Nietzsches Übermenschen betreiben. Er entdeckt alsbald, dass Gott, wenn es ihn gibt, vielleicht dies oder jenes ist, aber zuerst der Herr des Todes. Will der Mensch sich zum Gott aufschwingen, maßt er sich das Recht über Leben und Tod der Andern an. Als Hersteller von Kadavern und Untermenschen ist er selber ein Untermensch, nicht Gott, sondern der schmähliche Diener des Todes.«

Dieser bemerkenswerten Einsicht ins Wesen deutscher Ideologie stellt Camus seine Auffassung des Staatskommunismus gegenüber: »Die rationale Revolution will ihrerseits den totalen Menschen von Marx verwirklichen. Sobald die Logik der Geschichte völlig hingenommen wird, führt sie entgegen ihrer höchsten Leidenschaft nach und nach dazu, den Menschen zusehends zu verstümmeln und sich selbst in objektives Verbrechen zu verwandeln.«

Es sei nicht richtig, »die Ziele des Faschismus und des russischen Kommunismus einander gleichzusetzen. Ersterer stellt die Verherrlichung des Henkers durch den Henker dar, letzterer die viel dramatischere Verherrlichung des Henkers durch die Opfer. Der erstere hat nie davon geträumt, den ganzen Menschen zu befreien, sondern nur davon, einige zu befreien durch die Unterjochung der andere. Der letztere strebt in seinem tiefsten Prinzip danach, alle Menschen zu befreien, indem er sie alle vorübergehend knechtet. Man muss seiner Absicht Größe zusprechen. Allein es ist richtig, beider Mittel mit dem politischen Zynismus zu identifizieren, den sie beide an der gleichen Quelle: dem moralischen Nihilismus, geschöpft haben.« Dieser Nihilismus wiederum wird von Camus bis zu den »Gottesmördern« der Französischen Revolution, Sade und Saint-Just, zurückverfolgt.

So wie er aber den Unterschied zwischen irrationaler und rationaler Revolution auflöst im Nihilismus – weltanschauliches Pendant zum Totalitarismusbegriff –, kann Camus darin kein gesellschaftliches Verhältnis erkennen, sondern immer nur den Ursprung, an dem bereits entschieden ist, dass die Revolte entartet. Er ist das Primäre, er ist allen Verhältnissen vorausgesetzt, zu ihm führen alle Reflexionen zurück.

Der Schwierigkeit, Verhältnisse als das Primäre zu denken, setzt sich Camus nicht aus, insofern ist er wirklich, wie Jean-Paul Sartre sagt, ein Moralist im strengen Sinn (seine Kritik an Marx ist von völligem Unverständnis gekennzeichnet). Was Camus am Souverän wahrnimmt – und er nimmt sehr viel wahr, mehr als die meisten seiner linken Zeitgenossen – geht also immer auf das Konto des Menschen: »Der Durst nach Einheit muss gestillt werden, sei es im Massengrab.«

Weil er alles auf den Menschen an sich zurückführt, und nicht vom Verhältnis zwischen den Menschen ausgeht, muss er noch den Vernichtungswahn aus dem Selbstmord ableiten und verfehlt die Differenz zwischen Selbstopfer und Selbstmord, zwischen dem Selbstmord im Massenmord und dem Freitod im Sinne Jean Amérys: Mord und Selbstmord seien »ein und dasselbe, beide muss man zusammen bejahen oder verwerfen«. Der »absolute Nihilismus, der den Selbstmord zu legitimieren bereit ist«, führe gewissermaßen automatisch »zum Mord aus Überlegung«; es sei die Indifferenz dem Leben gegenüber, die solcher Logik zugrunde liege.

So erklärt Camus den Nationalsozialismus: »Diese Logik hat die Werte des Selbstmords, mit denen sich unsere Zeit genährt, bis zur letzten Konsequenz getrieben: der Legitimierung des Mordes. Gleichzeitig gipfelt sie im kollektiven Selbstmord. Den schlagendsten Beweis lieferte Hitlers Apokalypse 1945. Sich selbst zu vernichten war nichts für die Verrückten, die in Erdlöchern sich einen Tod wie eine Apotheose zurechtmachten. Die Hauptsache war, sich nicht allein zu vernichten, sondern eine ganze Welt mit sich ins Verderben zu ziehen.« Damit begreift Camus mehr vom Vernichtungswahn des Nationalsozialismus als alle Marxisten dieser Epoche zusammengenommen, und wenn er am Ende schreibt: »statt zu töten und zu sterben, um das Sein hervorzubringen, müssen wir leben und leben lassen, um zu schaffen, was wir sind«, dann liegt darin die ganze Erfahrung, die er im Spanischen Bürgerkrieg und in der Résistance machen konnte.

Das Sein, das hier zurückgewiesen wird, ist das der Heideggerschen Philosophie. Mit einer einzigartigen, an Kant erinnernden Formulierung hält Camus dagegen fest, dass es anders werden muss. Die Revolutionäre der Vergangenheit können »wieder leben«, unter der Bedingung, »dass sie verstehen, sich gegenseitig zu verbessern, und dass eine Grenze, in der Sonne, sie alle einhält. Jeder sagt dem andern, er sei nicht Gott; da geht die Romantik zu Ende.«

Aber die Romantik geht nicht zu Ende. Wird auch das Sein zum Tode, die Einheit von Töten und Sterben, zurückgewiesen, kommt dennoch die Form, in der es möglich oder eben nicht möglich ist, zu leben und leben zu lassen, keineswegs zu Bewusstsein: der Staat verschwindet im Menschen, darum kann aus dem Menschen jederzeit wieder ein Volk werden. So entsprangen dem Menschen in der Revolte die verdammten Völker dieser Erde.

Fanons schwarze Gewalt

Wenn Frantz Fanon sagt, dass die Befreiung »durch Gewalt geschehen muss und nur durch sie geschehen kann«, – dann bedeutet diese Unbedingtheit, mit der hier die Gewalt als Mittel festgehalten wird, bereits einen bestimmten Begriff von Volk: »Die Gewalt der Kolonisierten (…) vereinigt das Volk.« Würde sie aber die Individuen vereinigen, dann wäre der Widerspruch zu ihrer freien Assoziation einer, der den Individuen selbst bewusst werden könnte und die Gewalt nicht verewigt.

Da sie aber das Volk vereinigt, »wirkt sie totalisierend und national«. Sie setzt damit die Barbarei auf neuer Ebene fort: »Deshalb schließt sie die Auflösung des Regionalismus und der Stammesverbände ein. Deshalb verfahren die nationalistischen Parteien besonders schonungslos mit den Kaids und den herkömmlichen Häuptlingen. Die Beseitigung der Kaids und Häuptlinge ist eine Vorbedingung für die Vereinigung des Volkes.«

Die Gewalt, die Frantz Fanon meint, ist nicht die praktische Kritik des Umstands, dass es Anführer gibt, sie »hebt das Volk auf die Höhe seiner Anführer«. Wenn die Massen »durch Gewalt an der nationalen Befreiung teilgenommen haben, erlauben sie niemandem, sich als ›Befreier‹ auszugeben. Sie wachen eifersüchtig über dem Resultat ihrer Aktion und hüten sich, ihre Zukunft, ihr Schicksal, das Los des Vaterlandes einem lebendigen Gott auszuliefern. Gestern noch ohne jede Verantwortung, wollen sie heute alles verstehen und über alles entscheiden. Von der Gewalt erleuchtet, rebelliert das Bewusstsein des Volkes gegen jede Pazifizierung. Die Demagogen, die Opportunisten, die Magier haben dann einen schweren Stand. Auf lange Sicht sind alle Verschleierungsversuche hinfällig geworden. Die Praxis, die die Massen in ein verzweifeltes Handgemenge geworfen hat, verleiht ihnen einen gierigen Hunger nach dem Konkreten.«

Der Hunger nach dem Konkreten verhindert offenkundig nicht, einem lebendigen Gott zu opfern, also dem sterblichen Gott, dem Staat. Und doch wehrt sich der Hungrige mit dem Staat gegen den Staat, verteidigt das Los des Vaterlands gegen den lebendigen Gott. Das Volk, wie es sich bei Fanon in der Gewalt vereinigt, opfert also nicht mehr einer Person, sondern seiner eigenen Form. Weil es von der Form des Subjekts nichts wissen will, muss dieses Konzept der Gewalt alles vermenschlichen, was den Hunger nach dem Konkreten nicht befriedigt.

»Jahrhundertelang haben sich die Kapitalisten in der unterentwickelten Welt wie wahre Kriegsverbrecher aufgeführt.« Und was folgt daraus? Wenn das Volk sich endlich vereinigt, dann »werden die Monopole einsehen, dass es in ihrem wohlverstandenen Interesse liegt, den unterentwickelten Ländern zu helfen, und zwar massiv und ohne allzu viele Bedingungen. Man sieht, dass die jungen Nationen der Dritten Welt keinen Grund haben, den kapitalistischen Ländern zu schmeicheln. Wir sind mächtig durch unser gutes Recht und die Richtigkeit unserer Positionen.« Was als Apologie der Gewalt anhebt, endet als Pazifizierung der Massen in der Form der Nation. Vermenschlichung des Kapitals – so lautet das Programm jedes Antikapitalismus, der sich an diese Form hält und damit anzeigt, dass der Mensch, auf den er sich beruft, bereits vollkommen verstaatlicht ist.

Aber dieser Staat, den Fanon mit der Gewalt beschwört, ist keiner der Vernichtung. Er zielt auf Reproduktion: Fanon ist der Hegel der Dritten Welt – er denkt den Staat von unten, aber er denkt ihn als eine göttliche Idee, die alle durchdringen muss: »Der lebendige Ausdruck der Nation ist das mobilisierte Bewusstsein der Gesamtheit des Volkes, die geeinte und aufgeklärte Praxis der Männer und Frauen. Ein Schicksal kollektiv gestalten heißt, Verantwortung in der Dimension der Geschichte übernehmen. Die Alternative ist die Anarchie, die Unterdrückung, das Auftauchen der Stammesparteien, des Föderalismus usw. Wenn die nationale Regierung national sein will, muss sie durch das Volk und für das Volk, für die Entrechteten und durch die Entrechteten regieren. Kein Führer, was auch immer sein Verdienst sein mag, kann sich an die Stelle des Volkswillens setzen, und die nationale Regierung muss, bevor sie sich mit dem internationalen Prestige beschäftigt, jedem Staatsbürger seine Würde zurückgeben, die Gehirne ausstatten, die Augen mit menschlichen Dingen anfüllen, ein menschliches, weil von bewussten und souveränen Menschen bewohntes Panorama entwickeln.«

Der Aufbau des Staates in der Dritten Welt schließt die »Entdeckung und Schaffung universalisierender Werte« ein. »Anstatt die Nation von den anderen Nationen zu entfernen, führt der nationale Befreiungskampf sie auf der Bühne der Geschichte ein. Innerhalb des Nationalbewusstseins entwickelt und belebt sich das internationale Bewusstsein. Und diese doppelte Entwicklung ist letztlich der Nährboden jeder Kultur.«

Es ist offenkundig, dass der Gewaltbegriff Fanons einer existentialistischen Lektüre der Hegelschen Herr-Knecht-Dialektik entsprungen ist. Er kann als Steigerungsform dessen gelesen werden, worin der Hegelsche Knecht dem Herrn voraus ist: der Arbeit. Indem Fanon die Gewalt statt der Arbeit zum emanzipativen Verhältnis erklärt, das der Knecht sich zu eigen machen könne, bestreitet er, dass über die Arbeit eine Befreiung vom Rassismus noch möglich wäre. Die Gewaltverhältnisse liegen den Arbeitsbedingungen in den kolonial unterworfenen Ländern unaufhebbar zugrunde, und der Rassismus bringt eben diese Verhältnisse ebenso zum Ausdruck wie er sie zugleich verewigen möchte.

Darin gingen Fanons Bücher über die herrschende Ideologie des Staatskommunismus hinaus; darin wurden sie zu Recht als Durchbruch von allen empfunden, die mit der Ausbeutung und Erniedrigung der Menschen in der Dritten Welt Schluss machen wollten. Noch der letzte Satz von »Schwarze Haut, weiße Masken« bringt den materialistischen Gesichtspunkt zum Ausdruck, der sich den Projektionen des Rassismus und der Ideologie der Arbeit widersetzt: »O mein Leib, sorge dafür, dass ich immer ein Mensch bin, der fragt!«

Aber die Emanzipation durch Gewalt, die Fanon im Auge hat, bleibt dennoch dem Arbeitsbegriff verhaftet. Denn die Nation oder nationale Kultur, die er als Telos der Emanzipation beschwört, ist gedacht als eine Gesellschaft, die in ihrer Entstehung zwar durch die Gewalt, in ihrer Vollendung aber durch die Arbeit bestimmt ist. Damit formuliert Fanon das vollständige philosophische Programm der nationalen Befreiungsbewegungen. Die existentialistisch beschworene Gewalt erscheint als bloßer Umweg, der zum Fortschrittsbegriff in der Tradition der Sozialdemokratie zurückführt; der messianische Ton bringt keine andere Philosophie hervor als die des Opfers, das für die Erlösung zu bringen wäre, und die Erlösung selbst ist nur die Befreiung der Arbeit im Namen der Nation, also immer noch mehr Arbeit.

»Die Vietnamesen, die vor dem Hinsichtungskommando sterben, hoffen nicht, dass ihr Opfer das Wiedererstehen einer Vergangenheit ermöglichen wird. Sie akzeptieren den Tod im Namen der Gegenwart und der Zukunft. Wenn sich für mich je die Frage gestellt hat, tatsächlich mit einer bestimmten Vergangenheit solidarisch zu sein, so nur insofern, als ich mich gegenüber mir selbst und gegenüber meinen Nächsten verpflichtet habe, mit all meiner Existenz, all meiner Kraft dafür zu kämpfen, dass es auf der Erde nie wieder unterjochte Völker gibt.« Das richtet sich zwar gegen die Tendenzen innerhalb der nationalen Befreiungsbewegungen, die eine Verherrlichung der Stammeskulturen der Vergangenheit propagierten, aber gerade die existentialistische Formulierung, in der sie abgewehrt werden, gibt zu erkennen, dass Fanon überhaupt keinen Begriff der Vergangenheit haben, jede Erinnerung abwehren möchte und nur eine abstrakte Tathandlung in der Gegenwart, eine nationale in der Zukunft sehen kann.

Sein Hass versucht das Bild der geknechteten Vorfahren loszuwerden, durchs Ideal der befreiten Enkel zu verdecken – und verkennt damit seine besten Motive. Ein Eingedenken, das weder Vorfahren noch Enkel in die Form des Nationalen zwingt, sondern jederzeit als Individuen begreift, hätte Fanon entgegenzuhalten, dass es auf der Erde nie wieder Völker geben soll.

Der französische Existenzialismus ist es, der dieses Eingedenken verhindert. Er hält darin der deutschen Existentialontologie die Treue, dass in seinen Kategorien das Individuum – so sehr es auch als einzelnes isoliert wird, ja gerade darum, weil es so abstrakt bleibt – im Volk jederzeit aufgelöst werden kann; individuelle Freiheit und nationaler Zwang fallen in eins.

Davon zeugt zuallererst das berühmte Vorwort von Sartre zu Fanons »Verdammten dieser Erde«. Es erscheint auf den ersten Blick buchstäblich wie eine antikoloniale Lektüre von Heidegger – den »Leuchtenden Pfad« als einen der berüchtigten Holzwege bereits vorzeichnend (der Führer jener maoistischen Guerilla-Bewegung in Kolumbien entpuppte sich bekanntlich als glühender Anhänger Heideggers): »Denn in der ersten Zeit des Aufstands muss getötet werden: einen Europäer erschlagen heißt zwei Fliegen auf einmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus der Welt schaffen. Was übrig bleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch. Der Überlebende fühlt zum ersten Mal einen nationalen Boden unter seinen Füßen. Von diesem Moment an weicht die Nation nicht mehr von ihm: man findet sie dort, wohin er geht, wo er ist, niemals weiter weg – sie wird eins mit seiner Freiheit.«

Dennoch bleibt ein Unterschied zur deutschen Ideologie. Sartre leitet die Nation aus der Gewalt ab; er begründet die Gewalt existentialistisch mit der Situation des einzelnen Unterdrückten; durch den Akt der Gewalt entsteht die Nation im einzelnen Individuum, das sich befreit – und diese Freiheit ist eine »Menschlichkeit jenseits von Folter und Tod«. Bei Heidegger aber muss nicht allein in der ersten Zeit des Aufstands getötet werden, sondern allzeit; die Freiheit ist hier unaufhebbar eine zum Opfer; sie existiert überhaupt nur in dem unhintergehbaren Bewusstsein einer Notwendigkeit, Gewalt auszuüben gegen andere und gegen sich selbst, die einzelnen Menschen immer nur als Fliegen zu betrachten, die zu erschlagen sind, damit ein totes und ein freies Volk übrig bleibt.

Die Bewegung, die mit den »Verdammten dieser Erde« beschworen wird, hat den Auftrag, die geschichtslosen Kolonisierten in geschichtsbildende, den Fortschritt darstellende Subjekte umzuformen; die »in Unwesentlichkeit abgesunkenen Zuschauer in privilegierte Akteure« zu verwandeln, so dass sie »in gleichsam grandioser Gestalt vom Lichtkegel der Geschichte erfasst werden«. Diesen Lichtkegel einer aufklärerisch gedachten Geschichte will Fanon »feststellen und mit stetiger Energiezufuhr versehen, indem die ›freie Tathandlung des Subjektes‹ als ›Arbeit‹ der antikolonialen Gewalt überführt (aufgehoben?) wird in die Entwicklung einer von sozialem Bewusstsein getragenen nationalen Kultur.«

Der Unterschied zwischen den Geschichtskonzeptionen von Fanon und Benjamin äußere sich, so weiter Udo Wolter, »in einer Gegenläufigkeit, die frappanter kaum sein könnte. Während die revolutionäre Klasse als Subjekt der Befreiung bei Benjamin (hier immer noch das Proletariat) verzweifelt die rasende Katastrophenmaschine des Fortschritts aufhalten möchte, um aus der als Herrschaftszusammenhang konstituierten Geschichte hinauszuspringen, will das antikoloniale revolutionäre Subjekt bei Fanon mit einem gewaltigen voluntaristisch-existentiellen Anlauf über den kathartischen Bruch der antikolonialen Revolution hinweg in die Geschichte hineinspringen, um im Handgemenge der freien Tathandlung neuen Fortschritt zu begründen«.

Der Messias lässt sich nur als Bewusstsein vom Vergangenen säkularisieren. »Die Vergangenheit ist der Messias«, sagt Hans-Jürgen Krahl in seiner Benjamin-Interpretation: »der Auftrag der Toten an die Lebenden, die selber glücklich leben wollen«. Wer den Auftrag ausschlägt, findet das Glück darum nur in der Form des Geldes: »Das Geld ist der Tod der Erinnerung.« Dieser Form bleibt Frantz Fanon verhaftet, soweit er eine neue Nation entwirft und darin den Tod der Erinnerung bejaht – obwohl doch der ganze Ton der »Verdammten dieser Erde« von der Erinnerung durchdrungen ist: heiliger Zorn über die Opfer der Kolonisation. Ein Zorn, der keine Bewusstheit gewinnt.

Bereits Günther Anders staunte über den »oft geradezu chauvinistisch klingenden Nationalismus« bei Frantz Fanon und sprach von einem »abenteuerlichen Widerspruch«, der darin bestehe, dass hier die Befreiung »mit Hilfe von obsoleten Zielsetzungen« versucht werde, »mit Zielsetzungen des 19. Jahrhunderts«, also von einem Versuch, »im Zeitalter der Großräume und Zerstörungsmittel von heute nationale Souveränität im kleinsten zu erkämpfen«. Indirekt verwies Anders darauf, dass Fanon offenbar die durch den Zweiten Weltkrieg geschaffene Realität nicht ganz zur Kenntnis nehme; dass er mit seinem »internationalen Nationalismus« Auschwitz und Hiroshima nicht wahrhaben wolle.

Tatsächlich findet der Nationalsozialismus – eben erst besiegt und ideologisch in den arabischen Ländern ganz und gar nicht ohne Einfluss – bei Frantz Fanon keine besondere Beachtung. Die Sympathien, die dem deutschen Faschismus in Teilen der Dritten Welt zufliegen, werden nicht wahrgenommen; das NS-Regime figuriert nur als eine Ausprägung des Kolonialismus unter anderen – eine Gewalt, die mit jener der Kolonisierten von Haus aus nichts zu tun haben könne: »Dass der deutsche Militarismus beschließt, seine Grenzprobleme mit Gewalt zu regeln, überrascht uns keineswegs. Wenn aber beispielsweise das angolesische Volk beschließt, zu den Waffen zu greifen, wenn das algerische Volk jede Methode verwirft, die nicht gewaltsam ist, so handelt es sich um etwas ganz anderes: hier hat die Gewalt ein neues Gesicht.«

Das ist der Manichäismus von herrschenden und unterdrückten Nationen, wie er seit Lenin die Theorie der Revolutionäre verdorben hat – wobei Lenin selbst noch eine kritische Distanz zum Nationalismus wahrte und keinen Zweifel ließ, dass im Konfliktfall das soziale vor dem nationalen Interesse gehe und die Assimilationsprozess zwischen den Nationen einen großen geschichtlichen Fortschritt darstelle. Bei Fanon fallen indessen soziale und nationale Interessen zusammen: er kann zwischen ihnen einen Konflikt gar nicht mehr denken.

Die Kriegsverbrecher sind Kapitalisten, Kapitalisten sind die Kriegsverbrecher. Die fortschrittliche Nation hat sich ihrer zu entledigen. Das lässt nur zwei Folgerungen zu, eine stalinistische und eine sozialdemokratische: Wer jene hinrichtet, beseitigt das Kapital; wer sie bessert, verbessert den Kapitalismus. Beide sind nicht und nirgends davor gefeit, einem Nationalismus in die Hände zu arbeiten, der seinen Sozialismus in der Vernichtung realisiert.

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus Gerhard Scheit: Suicide Attack – Zur Kritik der politischen Gewalt. Ça ira, Freiburg 2004. 550 Seiten, 29 Euro. Das Buch erscheint Mitte Oktober.