Der Entgrenzer

Zum Tod von Jacques Derrida. von cord riechelmann

Es gibt Denker, die einen vorbereiten. Die einen nicht klein machen. Die der Angst, die man sowieso schon hat, nicht noch die vor dem Denken hinzufügen. Der am Samstag vorletzter Woche verstorbene, 1930 in Algerien geborene Philosoph Jacques Derrida gehört wie Gilles Deleuze zu diesen Denkern. Dabei haben es Derridas Schriften wirklich nicht leicht gehabt. Vor der Lektüre wurde man meist von dem Labellogo »Derrida« angeschrien. Wer Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts an der Freien Universität Berlin Philosophie, Literaturwissenschaft oder Germanistik studierte, konnte gar nicht anders, als Derrida zuerst durch die brüllend-autoritären Seminaristen wahrzunehmen, die aufkeimende Diskussionen mit dem Hinweis erstickten, das eben Gesagte sei nicht auf der Höhe von Derrida, »unterkomplex« und sowieso »Müll«.

Rainald Goetz hat 1984 in der Maiausgabe der Spex in einem Text mit dem Titel »Fleisch« diesen Typus beschrieben. Er habe, schreibt Goetz, bisher genau zwei Menschen getroffen, die wüssten, was in Derridas »Die Schrift und die Differenz«, Deleuze/Guattaris »Anti-Ödipus« und Baudrillards »Der symbolische Tausch und der Tod« steht. »Aber sehr sehr viele, die mit Brocken daraus in der präpotent kindischen Manier universitärer Hauptseminare um sich schmeißen: als Beleg eines Gedankens einen Namen oder ein Zitat nennen anstelle eines Arguments; das ist Universität. Außerdem Flucht vor Festlegung, Klarheit, Überprüfbarkeit.«

Wenn man es durch die Nebelschwaden dieser Uni-Rhetorik geschafft hatte, war die Begegnung mit dem Original umso erstaunlicher. »In Analogie der Regel: es handelt sich um eine ungeheure Bewegung einer Unruhe über die Sprache – die nur eine Unruhe der Sprache und in der Sprache selbst sein kann –, die das universale Denken heute in allen seinen Bereichen, auf allen seinen Wegen, und ungeachtet all seiner Differenzen, erfährt«, stand da auf der ersten Seite. Das war nicht geheimnisvoll, und das war auch nicht durch ein Begriffsarsenal verstellt, das nur dem Eingeweihten Zutritt erlaubt und den Rest draußen lässt. Man las sich ein, und anders als auf dem Parkett der Universität, auf dem man unsicher öfter ausrutschte, war man nicht mehr allein. Das war kein Trost, das war kein Mantel, der einen wärmte, das hatte nur nichts mit einem Gestus zu tun, der mit jedem Wort erst einmal abschreckte.

Gerade aus den Texten Derridas und Deleuzes sprachen einen so viele Stimmen an, dass man sich der Rumpelkammer des eigenen Gehirns ordnend nähern konnte. Die Polyphonie so schöner Bücher wie Derridas »Die Schrift und die Differenz« und Deleuzes »Spinoza. Praktische Philosophie« brachte keine neuen Hierarchisierungen hervor. Da sprach vieles nebeneinander, stieß sich an oder ab und führte zu anderen Verbindungen. Und die gingen weit über die Universität hinaus. Es war wirklich eine helle Freude festzustellen, dass man in den frühen Achtzigern im West-Berliner Nachtleben zwischen »Risiko«, »Lucy’s Friseursalon« und »Dschungel« den hoch verehrten Antonin Artaud genauso las und mochte wie Derrida. Die Bücher selbst hatte man um diese Zeit meist schon wieder aus der Hand gelegt. Und das sprach ja auch immer aus ihnen: Leg mich ruhig weg, du darfst mich sogar auch wieder vergessen. Das tat man dann auch. Aber man konnte sich auf sie verlassen, sie wirkten unterhalb des coolen Logos auf eine Art, die man erst Jahre später bemerkte und einschätzen konnte. Das war teilweise ganz praktisch. Wenn der Alkoholiker Deleuze davon schrieb, dass es jetzt an der Zeit sei, zu lernen, von klarem Wasser besoffen zu werden, war das mehr als der Witz im Satz, aber es war doch auch der Witz. Und es war der Hinweis darauf, dass dieses Denken nicht ohne Gefahren war und ist. Man konnte sich darin verlaufen, und es hatte auch mit Glück zu tun, ob man die Spur wieder aufnehmen konnte oder nicht. »Das Leben schützt sich zweifellos mit Hilfe der Wiederholung, der Spur und des Aufschubs (differance)«, heißt es bei Derrida.

Und Anfang der neunziger Jahre war er plötzlich wieder da. Dieses Mal auch in anderen Fakultäten. Es ging damals etwa in der Verhaltensbiologie darum, nicht immer nur auf den singenden Vogel zu schauen, sondern auch den Hörenden, der nicht singt, in den Blick zu nehmen. Derrida machte in einem kleinen Vorspann der »Grammatologie« darauf aufmerksam. Er verwendet dort ein Zitat aus Rousseaus »Emile«, in dem die Wechselwirkung des aktiven Organs (der Stimme) mit dem passiven (des Ohrs) wie selbstverständlich vorausgesetzt wird. Im Raum – oder soll man in der Sphäre sagen? – zwischen Stimme und Ohr schwingen denn auch Derridas Analysen. Darauf ist in fast allen Nachrufen hingewiesen worden. Mit seinem überempfindlichen Ohr liest er die »alten« Texte noch einmal, und er liest von außen und ohne Ressentiment. Von außen deshalb, weil er als »algerischer Jude« oder »jüdischer Algerier« (Barbara Vinken) in Paris auf eine Sprache trifft, die ihm zwar nicht fremd war, aber wahrscheinlich weniger vertraut als Hebräisch.

Man spekuliert wohl nicht zu kühn, wenn man aus dem Verhältnis des randständigen »Einwanderers« zum Zentrum des Hochfranzösischen, das immer auch Herrschaftssprache war, seine literarischen Vorlieben und politischen Intentionen ableitet. Dabei war Derrida – und das macht seine Originalität aus– nicht betriebsblind bzw. betriebstaub. Er entdeckte auch in seinem eigenen Werkzeugkasten das Instrumentarium der Herrschaft. Exemplarisch kommt das in seiner Lektüre der Analysen des Ethnologen Claude Levi-Strauss zum Ausdruck. Derrida verdankt wie alle französischen Denker seiner Generation Levi-Strauss’ Hauptwerk »Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft« einen wesentlichen Teil seiner analytischen Methoden. Levi-Strauss hatte der Philosophie ein elementares Gegensatzpaar genommen, das von Natur und Kultur. Für Derrida ist der Gegensatz so alt wie die Philosophie selbst. Wenn Natur alles das ist, was universell oder spontan ist, weil es von keiner besonderen Kultur oder bestimmten Norm abhängt, und Kultur all das, was von einem System von Normen abhängt, das die Gesellschaft regelt und deswegen von einer sozialen Struktur zur anderen variieren kann, dann hebt sich dieser Gegensatz im Phänomen des Inzestverbots auf. Das Inzestverbot ist universell, in diesem Sinn natürlich und kulturell, weil es ein Verbot ist, ein System von Normen und Verboten. »Dieses Beispiel (…) ist nur eines unter vielen anderen«, notiert Derrida dazu, »aber es lässt schon deutlich werden, dass die Sprache die Notwendigkeit ihrer eigenen Kritik birgt.« Wie diese Kritik dann gehandhabt werden kann, das zeigt Derrida am Beispiel von Levi-Strauss für alle Sprachen, die sich den Wissenschaften vom Menschen widmen.

Die empirischen Befunde der Verhaltenswissenschaften haben in den letzten dreißig Jahren jedoch gezeigt, dass nicht nur Menschen, sondern auch Tiere – etwa bestimmte Affenarten – in der Lage sind, unterschiedliche soziale Strukturen herauszubilden, so dass man für ihre Organisationformen den Begriff der Gesellschaft anwenden kann. Auch auf diese Diskussionen war man durch eine frühe Derrida-Lektüre präzise vorbereitet.

Dass sich Levi-Strauss die Analyse seiner Schriften durch Derrida verbeten haben soll, ist in diesem Zusammenhang nicht mehr als eine Fußnote. Der Intellektuelle Derrida akzeptierte die installierten Departments der wissenschaftlichen Disziplinen nicht. Er las, was er wollte. Und das können wir – bezogen auf seine Bücher – auch tun.