Der Schreck

Die Funktion von Hartz IV: Wie mit der Produktion von Panik Staatlichkeitswahn erzeugt wird, erklärt joachim bruhn

Alle Fluchtversuche sind zwecklos. Die Macht und die Gewalt des Staates gründen in der souveränen Entscheidung über Leben und Tod. Jeder weiß, wenn er auch sonst nichts weiß, dass das Recht nur eine Erscheinungsform der Souveränität ist. Nicht zwar in dem Sinne, dass es ganz und gar überflüssig wäre, vielmehr so, dass es eine Zutat darstellt, den notwendigen Zierat der souveränen Selbstdarstellung in den Zeiten gelingender Akkumulation. Es ist nicht das Recht, das den Souverän ausmacht oder konstituiert, er ist der Herr des Ausnahmezustands, dem das Recht nur Schmuck ist. Jeder weiß, wenn er auch sonst weniger als nichts weiß, dass die Form des Rechts, wenn es denn gilt, Funktion ist von Ware und Wert, von Geld und Kapital. Jeder weiß das schon ganz ohne das Studium der Marxschen »Kritik der politischen Ökonomie«, weil das Recht, der Vertrag gleicher und freier Subjekte, der jedwede Gewalt ausschließen soll, auf die Fiktion des freien Willens gebaut ist, die zwar einerseits Vorspiegelung ist wie jede Fata morgana, die doch andererseits als geltend unterstellt und tatsächlich vorausgesetzt wird in der Form des gewaltbewehrten Rechts selbst: reale Fiktion und dingliche Gewalt in einem.

Macht und Gewalt des Staates gründen somit im totalen Zwang zur Freiheit, in der kapitalen Gewalt gegen die Individuen, die sie nötigt, Subjekte zu sein.

Die Entscheidung über Leben und Tod wiederum, Monopol des Souveräns, fundiert in dem Urteil, das die Akkumulation des Kapitals über den Einzelnen vollstreckt, basiert auf der im Kapitalverhältnis notwendig und unvermeidbar produzierten so relativen wie absoluten Überbevölkerung. Der Staat, der selbständige Verwalter des Rechts, ist so zugleich der Handlanger der Produktion des überflüssigen Menschen. Widerstand ist irrelevant. Was auf den Montagsdemonstrationen als Notwehr gegen Hartz IV und Agenda 2010, gegen »Sozialabbau und Neoliberalismus« daherkommt, was »für Arbeit und soziale Gerechtigkeit« plärrt – das Vorhaben, das Elend der Ökonomie mit dem Terror der Politik zu kontern –, führt nur immer tiefer in den Schlamassel hinein, in die deutsche Misere. »Eine andere Politik ist möglich!« meint, frei nach Attac, die Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit. Es geht aber in Wahrheit um die Abschaffung, nicht um den alternativen Gebrauch des Staates.

Hartz IV ist nur vordergründig Ökonomie, und die Agenda 2010 bezweckt vielmehr die Produktion von Panik im Subjekt von Staats wegen. Der Staat provoziert geradezu den Protest gegen den »Sachzwang« der »Wirtschaft«, um gegen die Objektivität der »Globalisierung« den freien Willen zu pointieren, um den Voluntarismus aus der Gesellschaft zu destillieren und ihn sich rein, als die Kraft der Dezision, anzueignen. Der freie Wille hat aber keine Substanz außer dem Opfer des Leibes für den Souverän. Der Staat nimmt die Probe auf den Körper und das Leben, das Kapital auf die Arbeitskraft; und beide setzen darin das Subjekt als Stück Natur. »Der Mensch selbst«, sagt Karl Marx, »ist, als bloßes Dasein von Arbeitskraft betrachtet, ein Naturgegenstand, ein Ding«, wenn auch, fügt er hinzu, ein »lebendiges, selbstbewußtes Ding«. Dass die Arbeitskraft nicht einfach mit Gewalt angeeignet wird, sondern als Ware erst noch gekauft werden muss, ist zwar das Gesetz der kapitalistischen Vergesellschaftung (d.h. der reale Schein der Freiheit), zugleich aber das Elend jedes einzelnen Kapitalisten. Einerseits kommt dem Individuum das Selbstbewusstsein zwar aus seiner Gattungseigenschaft selbst zu, andererseits ist es nur als das eines Subjekts gesellschaftlich zugelassen und gültig, d.h. als die Denke des Kaufens und Verkaufens, so, wie es aus der merkwürdigen Tatsache erwächst, dass der Bezug des Menschen auf sich selbst, seine Selbstreflexion, nur in der Form des Privateigentums an sich selbst als der Ware Arbeitskraft möglich ist. Aber das gehört zum ABC der kommunistischen Gesellschaftskritik.

Nicht dazu gehört, zumindest nicht unter deutschen Marxisten, dass der Staat damit nicht etwa der Ökonomie als fauler Überbau aufsitzt, sondern ihr vielmehr immanent ist, dass der Staat dem Kapital einwohnt als die Bedingung der Möglichkeit des Kapitals selbst. Was geschieht nun, wenn der Staat die Warenform an der Arbeitskraft durchstreicht? Die Antwort aus dem ABC ist: Dann ist Schluss mit dem »Lohnabstandsgebot«, dann drückt die industrielle Reservearmee gnadenlos auf den Lohn der Arbeiter, dann macht das Kapital wieder Profit, die Gewerkschaft geht in Konkurs, und mit den working poor kehrt der Klassenkampf wieder. Die Frage müsste jedoch lauten: Was geschieht, wenn mit der Subjektform auch die Arbeitskraft als gesellschaftliches Schicksal der Menschen durchgestrichen wird? Dann überlässt der Staat sie nicht auf Gedeih und Verderb dem Schicksal der freien Konkurrenz, d.h. dem Hunger, dann eignet er sich vielmehr die Ware Arbeitskraft als sein Privateigentum und sein Monopol an. Indem der Staat mit Hartz IV das »Invalidenhaus der aktiven Arbeiterarmee«, d.h. den »Pauperismus« (Marx), mit einer industriellen Reservearmee verschmilzt, d.h. sie mit einer objektiv für Zwecke der Kapitalverwertung überflüssigen Menschenmasse vereint, die keine Reserve mehr für irgendeinen kapitalproduktiven Zweck sein kann. Indem der Staat die Arbeitskraft vermittlungslos vergesellschaftet, wird die überschüssige Bevölkerung in einer jenseits von Lohnarbeit und Kapital stehenden, einer gewissermaßen dritten Klasse zusammengeworfen, die, als Staatsklasse, zugleich unter und daher über den Klassen steht.

Das Subjekt lebte stets auf Kosten des objektivierten, verwalteten Menschen. Seine Herrlichkeit war geborgt. Neu ist der schleichende Übergang von der Selbstherrlichkeit der Geldverfügung zur autoritären Fürsorge von Bedarfsprüfung und Sozialrazzia, und damit entfällt jeder Grund zu der wie immer verblendeten Hoffnung, der Aufstieg ins Subjekt liege in der Entschlossenheit und Willenskraft des Einzelnen. An die Stelle des Kontinuums der schiefen Bahn tritt nun das Abrupte, der Sprung, der Absturz. Indem die Vermittlung abgeschafft und eine Grenze gezogen wird, ändert sich auch die Qualität der Rubrifizierten selbst. Aus den Verkäufern im Wartestand wird das Zwangskollektiv der Versorgten, hartherzig Gepflegten und halbherzig Gespeisten. Jedermann weiß, wenn er sonst auch nichts weiß, dass die Überflüssigmachung des Menschen keineswegs mit der Verwaltung und Lebendhaltung des Körpers nach Maßgabe der Sozialhilfe endet, d.h. in Armenspeisung und Caritas, sondern, das Schicksal der Entmündigten und Psychiatrisierten lehrt es, erst mit Geschäftsunfähigkeit und Entmündigung.

Hartz IV leitet eine Entwicklung ein, an deren Ende nicht nur die Verstaatlichung der Arbeitskraft steht, sondern das Kuratel auf Leben und Tod, die Aneignung der Körper als einer Biomasse durch den Staat, durch die politische Souveränität des Gesamtkapitals. Im Zwielicht zwischen dem Status der noch pro forma Subjektivierten und dem der schon de facto Objektivierten spielt sich das Drama ab. Denn hier wird die Panik gezüchtet, die die Klasse des Staates in der kommenden Krise des Kapitals zu Taten treiben wird. Was hier wiederkehrt, ist nicht das so aufklärungsfähige wie durch Not zur Selbstaufklärung angehaltene ökonomische Klasseninteresse, sondern die mit allen Mitteln der Politökonomie forcierte Verblendung, die gesellschaftliche Energie und der Élan vital der Barbarei selbst.

Hier entsteht eine unmittelbar vom Staat abhängige Menschenschicht, die ihm auf Biegen und Brechen so unbedingt zum Gehorsam verpflichtet ist wie nur der vereidigte Beamtenpöbel, der für seine bloße Treue und routinierte Pflicht belohnt, der allgemeinen Konkurrenz enthoben und in seiner Existenz alimentiert wird. Im Staatsproletariat allerdings wird nicht die Existenz, sondern die Subsistenz, die Lebendhaltung alimentiert. Was hier zählt, ist nicht die tariflich regulierte Veräußerung der Arbeitskraft, sondern ihre ständige Einsatzbereitschaft. Diese Unmittelbarkeit zum Staat ist nur ein anderer Name der objektiv bereitliegenden gesellschaftlichen Schwungmasse zur neuerlichen Wendung in den autoritären Staat und in die Faschisierung, die dem eigentlichen Faschismus notwendig vorausgeht. Die Reprise der Volksgemeinschaft, der vermittlungslose Einbau der Vereinzelten in den gesellschaftlichen Zwangszusammenhang, dessen Synthese der Souverän ist, bedarf nur noch der neuerlichen, so antikapitalistischen wie deutschen Revolution gegen alle Vermittlungen durch Geld und Recht.

Hartz IV und Agenda 2010 sind das Labor der Panik. Es geht hier nicht um die begründete Furcht, die der Mensch, als Individuum betrachtet, haben kann und irgendwie bewältigen muss. Dann gälte: Das Pfeifen im Walde vertreibt zwar nicht die Dunkelheit, macht aber leichter ums Herz. Das wäre ja der Lohn der Angst: die Aufklärung. Dem Staat geht es vielmehr darum, die reale Angst ins Phantastische zu verfremden und die Furcht durch die Panik der Selbsterhaltung zu substituieren. Der Mensch, von Staats wegen nicht als Individuum, sondern als Subjekt betrachtet, hat zwischen sich als Naturding einerseits und als Gesellschaftswesen andererseits kurzzuschließen und – darin besteht das Wesen der Panik – den politischen Souverän als das Selbstbewusstsein seiner leiblichen Not in sich zu installieren. Damit ist nicht gesagt, dass der Staat, als »ideeller Gesamtkapitalist«, eine Idee, gar einen Begriff vom Ganzen hätte, das er repräsentiert und exekutiert. Das Selbstbewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft, das sich im Staat inkarniert, ist Ideologie, objektiv unabweisliches und notwendiges, eben darum falsches Bewusstsein. Weil es bei Hartz IV gar nicht wirklich um die »Wirtschaft« geht, kann der ideelle Gesamtkapitalist auch gar keinen Plan haben, kein Rezept und kein Programm. Es gibt keine Offensive des »Neoliberalismus« außer in der blühenden Phantasie derer, die den Staat zumindest pro forma und den Schemata der Volkssouveränität gemäß zumindest an sich und seiner Idee halber für die Zentralisation des politisch freien Willens halten: »Der Staat sind wir.« Was er an sich ist, das muss er für uns, das »eine Volk«, erst werden: Das ist der Staatlichkeitswahn, der den Protest antreibt.

Dass es bei Hartz IV nicht um die »Umverteilung von unten nach oben« und zu Lasten des »kleinen Mannes« geht, gar um die berüchtigte »Profitmaximierung«, zeigt die simple Frage danach, wie denn in einer Gesellschaft vollendeter Konkurrenz irgendwer das Bewusstsein der Totalität als das konkrete, praktische Wissen um die Verallgemeinerbarkeit seines besonderen Zwecks überhaupt zu haben vermöchte. Wäre es mit den »Kapitalisten« wirklich so bestellt, wie es die Linken sich vorstellen, dann könnte das Kapital als die Totalität unmöglich sein. Daher nimmt das Bewusstsein vom gesellschaftlichen Zusammenhang, das vom »freien Willen« des »Volks« ausgeht, bei seiner Karriere durch Öffentlichkeit und Politikwissenschaft hindurch und in die Staatsspitze hinein keineswegs zu, und es gewinnt auch keineswegs etwa an Umfang durch bessere Information oder gar an Klarheit durch gründlichere Reflexion. Den Planstaat kann es gar nicht geben. Das spontane Bewusstsein wird nur gereinigt, gewissermaßen gefiltert. Die Dummheit der Stammtische ist, im Kabinett angelangt, mit der Philosophie des Kanzlers identisch, und der Mann von nebenan weiß von der »Wirtschaft« gerade ebenso viel wie der Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, demzufolge die gegenwärtige Krise daraus folgt, dass die Leute, obwohl man ihnen die totale »Einkaufsfreiheit« verschafft, nicht aus ihrer »Konsumstarre« erwachen wollen. Wenn das Bewusstsein der Bevölkerung dem Staat zu Kopfe steigt, wird es naturgemäß nicht klüger, sondern erst recht brutal und raffiniert, weil systematisch. Was Marx der Volkswirtschaftslehre, der Vulgärökonomie, bescheinigte, trifft zugleich die Vulgärpolitik: Nichts anderes unternimmt sie, »als die banalen und selbstgefälligen Vorstellungen der bürgerlichen Produktionsweise von ihrer eigenen besten Welt zu systematisieren, zu pedantisieren und als ewige Wahrheiten zu proklamieren«.

Daher kann es bei Hartz IV überhaupt nicht um Ökonomie gehen. Nicht die Agenda 2010 ist von Interesse, sondern die Fehlleistungen sind es, die so genannten Kunstfehler des Gesetzgebungshandwerks. Die Fehlleistungen, das Unabsichtliche und Ungewollte, offenbaren, wie in der Psychoanalyse, worum es tatsächlich geht: um die Produktion der Panik. Die Unmittelbarkeit zum Staat, die Schaffung der Staatsklasse, kann nur das Wechselbad der Gefühle in Permanenz bedeuten, das um den Verstand bringt. Systemnotwendig muß daher ein Skandal auf den nächsten folgen, und die neueste Schlagzeile, »Arbeitslose erhalten im Januar kein Geld. Clement bleibt bei Zahlungspause für ALG II«, macht die letzte noch lange nicht vergessen: »Für Arbeitslosengeld-II-Empfänger stehen alte Plattenbauten bereit.« Eine Frage jagt die nächste: »Große Bild-Telefonaktion: Wird der Lohn meiner Tochter auf meine Stütze angerechnet? Zehntausende riefen an.« Wer aber einen guten Rat braucht, der versteht ihn nicht, und wer ihn versteht, der braucht ihn nicht. In dieses Paradox resultiert der gesellschaftliche Zwangszusammenhang und die losgelassene Antivernunft, die der Souverän so unbewusst inszeniert wie kalkuliert administriert.

Die Produktion der Panik will den Schock, und sie erzeugt – von niemandem gewollt, von allen intendiert – die Nazifizierung der Subjekte, die sich in Aggression nach innen und außen äußert. Weil der Bürger weiß, wozu er selbst fähig ist, darum traut er seinem Staat noch viel mehr zu. Dieses »Vertrauen in Politik« (Gerhard Schröder), die kostbarste Ressource des Souveräns überhaupt, wird durch den Schock nicht etwa irritiert, sondern forciert. Der Schock ist der Nerv der Panik, er elektrisiert und scheucht die Subjekte zur Masse auf, zur Stampede der Lemminge. Die Politik, die den Schock setzt, ist das System, dem es allein um das vermittlungslose Eintakten in die Ermessenswillkür der Staatsräson geht.

Die Ökonomen der FAZ wissen längst, dass es nicht um Ökonomie geht, dass der »Wirtschaft« nicht mehr zu helfen ist. Vielmehr geht es, im Herrenzynismus und »aus der Sicht der realistisch-machiavellistischen Sicht der ökonomischen Theorie der Politik« formuliert, um die »Sprengung des Konsenskorsetts«. »Wichtig ist konzeptionelle Klarheit, strategisches Denken, Mut und politische Führung mit visionärer Kraft«, kurz und gut: »der Untergang« nicht nur im Kino, die Gesellschaft als Lawine, der losgelassene Zwangszusammenhang der falschen Vergesellschaftung.

Panik hat, das versteht sich nun, mit der Anthropologie von Individuen nichts zu tun, dagegen alles mit der gesellschaftlichen Ontologie des Subjekts. Panik ist nicht eine Neigung der Masse Mensch und ihrer Psychologie; sie ist ein politisches Produktionsverhältnis, das dem Subjekt qua Schock vor Augen führt, dass es keine wirkliche Vermittlung zwischen dem Einzelnen und der Gattung gibt, nur den barbarischen Sprung der Monade mitten ins falsche Kollektiv. Und wie immer in Deutschland handelt es sich darum, wer beim kollektiven Hineinsteigern in die Theorie und Praxis der putativen Notwehr den guten Grund zum Losschlagen als erster erfindet.