Mit Kant zu den Konsumenten

Die arabischen Mittelmeerstaaten werden in eine von der EU dominierte Freihandelszone eingebunden, die auch die Demokratisierung fördern soll. Doch der Handel bringt keinen Wandel. von jörn schulz

Unzählige Experten beschäftigen sich mit dem nation building, dem Versuch, nationalstaatliche Institutionen zu stabilisieren. Manche aber denken in größeren Dimensionen. Das neue Stichwort heißt region building. Dies sei »die einzige Lösung für die zahlreichen Probleme« des Nahen und Mittleren Ostens, meint Martin Ortega in einem Bulletin des European Union Institute for Security Studies. Da die »Schocktherapie« der US-Regierung mit ihren »Hobbesianischen Methoden« gescheitert sei, müssten nun die »von der Kantianischen Tradition der internationalen Beziehungen inspirierten« Europäer an die Arbeit gehen.

Andere Beiträge von Autoren des Instituts, dessen Ziel die »systematische Förderung der Interessen der Union« ist, argumentieren mit ähnlichen Mustern. Nicht dass man etwas gegen die US-Amerikaner hätte. Nur leider machen sie alles falsch. Als Gegengewicht zum amerikanischen Leviathan bedürfe es daher eines stärkeren Engagements der Europäer, die nach Ortegas Ansicht leider immer noch »zu schüchtern« sind.

Die schüchternen Euroäer haben jedoch seit den neunziger Jahren in einem zentralen Bereich der Nahost-Politik die Nase vorn. Mit dem 1995 begonnenen Barcelona-Prozess ist es ihnen gelungen, die Staaten südlich und östlich des Mittelmeers in eine von der EU dominierte Freihandelszone einzubinden. Der Barcelona-Prozess, an dem neben den Staaten der EU Algerien, Ägypten, Israel, Jordanien, Libanon, Marokko, die palästinensische Autonomiebehörde, Syrien, Tunesien, die Türkei und als Beobachter Libyen teilnehmen, bildet den Rahmen für den Abschluss bilateraler Verträge.

Die meisten dieser Staaten haben bereits Assoziationsverträge über den Aufbau einer Freihandelszone mit der EU abgeschlossen. Auch die Verhandlungen mit Syrien, der letzten Hochburg des arabischen Nationalismus, sind nach Angaben der Bundesregierung »weit vorangeschritten«. Schneller noch verbessern sich die Beziehungen zu Libyen, seit Staatschef Muammar al-Gaddafi sich zu einer prowestlichen Außenpolitik entschlossen hat.

Ziel der EU-Politik ist eine Freihandelszone, die »etwa 40 Staaten und 600 bis 800 Millionen Konsumenten einschließt«. Da bei kantianisch inspirierten Europäern das region building aber nicht auf der schnöden Geschäftemacherei basiert, nennt die Erklärung von Barcelona die Verpflichtung, »die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie zu entwickeln«. Jedem Staat wird jedoch das Recht zugesprochen, »sein eigenes politisches, sozio-kulturelles, ökonomisches und juristisches System zu wählen und frei zu entwickeln«. Und auch der bei europäischen Politikern so beliebte »Dialog zwischen Kulturen und Zivilisationen« fehlt nicht.

Selbst den EU-Politikern dürfte es schwer fallen, knapp zehn Jahre nach Beginn des Barcelona-Prozesses Fortschritte bei der Demokratisierung festzustellen. Die repressiven Regimes der arabischen Mittelmerstaaten sind erschreckend stabil. Die kritiklose Billigung der manipulierten Wahlen in Tunesien und die Hofierung Gaddafis, der nicht der Ansicht ist, dass seiner außenpolitischen Kehrtwende innenpolitische Reformen folgen müssen, sind nur die aktuellsten Beispiele für die Akzeptanz der Dikaturen und Autokratien durch die EU.

Entsprechend distanziert reagierte man auf die »Greater Middle East Initiative« (GMEI), die von der US-Regierung seit Anfang des Jahres propagiert wird. Sie bezieht sich auf ein von Marokko bis Pakistan reichendes Gebiet und umfasst somit auch den Geltungsbereich des Barcelona-Prozesses. Vergleichsweise offensiv fordert die US-Initiative Demokratisierung und politische Reformen, was von vielen Regimes der Region umgehend als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten zurückgewiesen wurde. Es dürfte sich jedoch um einen rhetorischen Präventivschlag gehandelt haben. Denn als praktische Maßnahmen sieht die GMEI nur die Bildung einer Reihe von Kommissionen vor, und in ihrer Kritik an der Repression in den arabischen Mittelmeerstaaten ist die US-Regierung ebenso zurückhaltend wie die EU-Bürokratie.

Die GMEI ist kein vorrangig ökonomisches Programm, ein dem Barcelona-Prozess vergleichbares Projekt hat die US-Regierung nicht. In den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen, etwa im algerischen Öl- und Gasgeschäft, sind US-Konzerne jedoch recht erfolgreich, so dass jede US-Initiative als unerwünschtes Hineindrängeln in den europäischen Hinterhof gewertet wird.

Wenn der Handel wirklich so frei wäre, wie die Prediger der kapitalistischen Globalisierung behaupten, bedürfte es der Schaffung regionaler, von den westlichen Großmächten dominierter Freihandelszonen nicht. Letztlich geht es um den privilegierten Zugang zu Märkten, günstige Investitionsbedingungen, den Aufbau langfristiger wirtschaftlicher Bindungen und den Zugang zu Rohstoffen, im Falle des Barcelona-Prozesses vor allem zu den Öl- und Gasvorkommen Libyens und Algeriens.

Die Demokratisierung gilt als eine Art Kollateralnutzen des Freihandels. Sowohl die USA als auch die EU predigen einen naiven kapitalistischen Idealismus: Das aus dem Freihandel resultierende Wirtschaftswachstum stärkt die Mittelschichten, die gemeinsam mit dem »privaten Sektor« eine reformorientierte Zivilgesellschaft bilden. Und schon beginnt ein sanfter Übergang zur Demokratie.

Ägypten, dessen Regierung die Politik der Privatisierung und wirtschaftlichen Öffnung vor mehr als 30 Jahren begann, wird jedoch noch immer autokratisch regiert. Die übermächtige ausländische Konkurrenz trieb viele Betriebe in die Pleite. Die Mittelschicht verarmte, viele ihrere Angehörigen sahen ihr Heil im Islamismus, der auch bei Teilen der Bourgeoisie Anklang fand, weil er sowohl ein Mittel zur Disziplinierung der Bevölkerung als auch zur Interessenvertretung gegen die westliche Konkurrenz ist.

Es gibt auch in den unteren Bevölkerungsschichten Profiteure der wirtschaftlichen Öffnung; im Tourismussektor und in geringerem Maße in Betrieben, die aus westlichen Staaten abwanderten, entstanden neue Verdienstmöglichkeiten. Die Entwicklung der Industrie und der Landwirtschaft wurde durch den Freihandel jedoch behindert. Denn erst wenn ein Stand der Kapitalakkumulation erreicht ist, der es den Unternehmen ermöglicht, mit ebenso modernen Technologien zu arbeiten wie die westliche Konkurrenz, führt die wirtschaftliche Öffnung und die Senkung von Zöllen nicht zu einer Pleitewelle.

Transnationale Unternehmen, die auf der Suche nach billigen Arbeitskräften durch die Welt ziehen, können diese Verluste nicht kompensieren. Ihre Investitionen sind nicht mehr strategisch, wie der Aufbau einer Autoproduktion in Lateinamerika durch VW in den siebziger und achtziger Jahren, sondern temporär. Sobald sie einen Ort gefunden haben, an dem sie noch billiger produzieren können, verschwinden sie wieder. Und aus der Sicht mancher Unternehmer sind die Lohnkosten in Tunesien mittlerweile zu hoch.

Obwohl in den arabischen Mittelmeerstaaten die Organisationsfreiheit extrem beschränkt ist, kommt es immer wieder zu Streiks und sozialen Protesten, in denen sich zwangsläufig die Kämpfe gegen Verelendung und Repression verbinden. Rebellische Jugendliche, renitente Frauengruppen, aufbegehrende Gewerkschafter und nörgelnde Intellektuelle sind die potenziellen Träger der Demokratisierung. Doch die Interessen dieser Bevölkerungsgruppen sind mit dem Freihandelsregime kaum vereinbar, und ihre Aktivitäten stören die angestrebte Stabilität. Mit Theologen, Generälen und Präsidenten können die Regierungen der EU leichter verhandeln.