Sprung nach vorne

Die alternative Medienlandschaft Spaniens erhält undogmatische Verstärkung. Diagonal erscheint ab Januar. Siebter Teil einer Serie über linke Medien in Europa. von tom kucharz, madrid

In den wilden, romantischen siebziger Jahren waren die sozialen Kämpfe in Spanien von einer unabhängigen, nicht hierarchischen Vernetzung geprägt, aus der die Autonome Linke hervorgegangen ist. Es war eine Zeit der Stadtteilmobilisierungen, Streiks und der Studentenkämpfe. Nach dem Pakt von Moncloa 1977 über die Transformation der Diktatur in die Demokratie erfolgte die Institutionalisierung der traditionellen Linken (Parteien, Gewerkschaften etc.) und ein Rückzug autonomer Gruppen in lokale Prozesse. Nach der Regierungsübernahme der Sozialdemokraten 1982 beschäftigten sich die sozialen Bewegungen sowie die radikalere Linke insbesondere mit der Kampagne gegen die Nato-Mitgliedschaft Spaniens. Das Volksbegehren 1986 scheiterte knapp. Es folgte eine Krise, von der sich viele Organisationen und Strömungen bis heute nicht erholt haben. Die autonome Bewegung erfuhr dagegen neuen Auftrieb und erreichte Ende der achtziger Jahre eine bedeutsame Mobilisierungskraft. Proteste gegen Atomenergie und Autobahnen, Häuserbesetzungen sowie Wehrdienstverweigerung kennzeichneten diesen Abschnitt. Anfangs arbeiteten die politischen Gruppen allerdings nach Themen getrennt voneinander. Um aus der Isolation herauszufinden, suchte man geeignete Kommunikationsmittel. Freie Radios entstanden und auch unzählige Zeitschriften, die bis heute überlebt haben, aber kaum Verbreitung finden – abgesehen von den baskisch-sprachigen Publikationen – und sehr unregelmäßig erscheinen.

Neben vielen anderen Projekten erblickte 1986 Molotov das Licht der Welt, zunächst als Fanzine an der Fakultät für Politikwissenschaften und Soziologie der Universidad Complutense in Madrid. Bald war Molotov ein Infoblatt der Hausbesetzerbewegung, ab 1994 ein »Bulletin der Gegenöffentlichkeit« und von 1998 bis vor einem Jahr eine Monatszeitung, die landesweit vertrieben wurde. Eine linksradikale Referenz, die aber selbst in den besten Jahren nicht über eine Auflage von 5 000 hinauskam.

Im Dezember 2003 stellte das Redaktionskollektiv, das 1988 mit der alternativen Nachrichtenagentur UPA fusionierte, endgültig das Erscheinen der Molotov ein. Man wollte einen »Sprung nach vorne« wagen und etwas Neues in Angriff nehmen: »Mehr als eine Publikation, die Parolen druckt«, so wurde das neue Kommunikationsprojekt in der letzten Nummer der Molotov beworben und eine Zeitung in Aussicht gestellt, »die einerseits fähig ist, Fragen aufzuwerfen, andererseits Antworten sucht, im gemeinsamen Dialog und durch die kontinuierliche Recherche«. Das Projekt solle den »Bereich der politischen Aktivisten sprengen«, stets aber mit den sozialen Bewegungen verbunden, gar deren »Werkzeug« sein. Nach einjähriger Vorbereitung erschien zum Ende des Sommers 2004 ein 36seitiges Probeexemplar von Diagonal.

Die erste Ausgabe ist den selbstgesetzten Ansprüchen gerecht geworden: Qualität bei den Inhalten, eine plausible Auswahl von Themen, pluralistisch, nützlich, zugänglich; außerdem ein angenehmes Format. Konzipiert ist sie als Medium einer »horizontalen Kommunikation«, das »unabhängig und kritisch« ist, gleichzeitig aber sorgfältig in der Information und Analyse. Gemacht wird sie von Leuten »mit mehr Zweifeln als Gewissheiten«, die aber beflügelt sind von der Idee, eine »andere Zeitung« zu machen, in der Humor und Satire einen besonderen Platz finden.

»Diagonal hat nichts mehr mit dem Konzept von Gegenöffentlichkeit zu tun«, sagt Fernan Chalmeta vom Redaktionskollektiv, an dem sich mehr als 20 Personen beteiligen. »Mit einer Zeitung kannst du dieses Konzept nicht umsetzen.« Unter Gegenöffentlichkeit verstand die Gruppe UPA-Molotov, in der Chalmeta jahrelang aktiv war, die Fähigkeit, »horizontale Kommunikation« und »emanzipatorische Inhalte« zu vereinigen. Sender und Empfänger von Informationen sollten gleichzeitig Macher des Mediums sein. Das sei aber nur in wenigen Fällen gelungen.

Die Freien Radios entsprachen diesem demokratischen und partizipativen Modell. Trotz der »legalen Verdrängung« der Radios aus dem Äther seit der sozialdemokratischen Regierung unter Felipe Gonzalez zwischen 1982 und 1996, überlebten Radiosender wie Radio Clara in Valencia oder Hala Bedi Irratia in Gasteiz, die ein breites Publikum ansprechen. Hala Bedi wurde vor mehr als 20 Jahren von der Autonomen Linken gegründet. Mit einer Einschaltquote von mehr als 300 000 Zuhörern hält der Sender die dritte oder vierte Position im Großraum Gasteiz.

Der Boom war damals so groß, dass die Radios eigene Nachrichtenagenturen gründeten, um stets auf aktuelle Infos zugreifen zu können. Neben UPA-Molotov entstanden ANA in Barcelona oder Tas-Tas im Baskenland. Contra-Infos, eine Wandzeitung, die seit zehn Jahren jeden Dienstag an 2 000 Häuserwänden und Ladentüren der katalonischen Hauptstadt angebracht wird, zählt Chalmeta ebenfalls zur Gegenöffentlichkeit. Unzählige Musikfanzines dagegen drucken zwar alle Beiträge ihrer Leserschaft bzw. der Fangemeinden und Bands, doch die Beiträge sind meist unkritisch oder unpolitisch.

Diagonal unterscheide sich, so Chalmeta, von den vielen anderen linken Zeitschriften wie El Viejo Topo, Libre Pensamiento, Pagina Abierta, Viento Sur, Contrapoder oder Pueblos, die monatlich oder vierteljährig erscheinen. Das seien sehr parteien- bzw. gewerkschaftlich orientierte Medien, die zwar systemkritische Inhalte abdruckten, aber in ihrem Organisationsmodell weiter »hierarchisch« funktionierten. »Es ist keine Information im Dienste der sozialen Bewegungen«, beklagt Chalmeta.

Diagonal will dieses Problem beheben. »Verständigung muss als soziale Bewegung gedacht werden«, so ihr Anspruch, und »muss sich an den Teil der Gesellschaft wenden, den die Linke gemeinsam sensibilisiert hat«. Gemeint ist die kritische Öffentlichkeit, die an Demonstrationen teilnimmt, alternative Informationen konsumiert, aber nicht direkt in der Bewegung aktiv ist. Ein anarchistischer Gewerkschafter der Eisenbahnbranche soll zudem lesen können, welche Aktionen Umweltschützer oder Kleinbauern organisieren bzw. was die Arbeiter aus dem Gesundheitsbereich gegen die Privatisierungen unternehmen, obwohl sie einer anderen politischen Richtung angehören.

Die Auflage der Diagonal soll 20 000 Stück betragen und ab Januar 2005 alle zwei Wochen erscheinen. Sie soll am Kiosk – vorerst im Großraum Madrid – und durch einen landesweiten »alternativen« Vertrieb in Bars und sozialen Zentren verkauft werden. Mittelfristig soll die Zeitung wöchentlich erscheinen. »Und in ein paar Jahren täglich«, meint die Redaktion halb im Spaß und halb im Ernst. Nach den Massendemonstrationen gegen den Irak-Krieg und der Abwahl der konservativen Volkspartei erscheint der politische Augenblick ideal. Diagonal vertraut auf die sozialen Bewegungen. Würde man auch nur einen Bruchteil der Mitglieder der Gewerkschaft oder der Umweltorganisationen CGT bzw. Ecologistas en Acción als Abonnenten gewinnen, könnte sich das Projekt finanziell tragen. »Natürlich werden wir keine Gewinne einfahren«, erklärt Chalmeta, »aber heute ist es möglich, mit einem Konzert ein Jahr lang eine Publikation zu finanzieren«.

Chalmeta glaubt, dass Webseiten wie Indymedia, Nodo50, Rebelión und La Haine, die täglich hunderte Nachrichten, Artikel, Meinungen und Termine publizieren, die unabhängige Kommunikation weiterführen, die in den achtziger Jahren von den Freien Radios begonnen wurde. Das Problem dieser Webseiten sei aber, kritisiert Chalmeta, dass »man schon tief in den linken Grüppchen verankert sein muss, um alles zu verstehen«.

Erstaunlich hoch ist allerdings die Zahl der Zugriffe. In Spanien gibt es nur acht Tageszeitungen, die eine höhere Auflage als 30 000 Exemplare haben. In der Homepage von www.Rebelión.org dagegen habe man diese Zahl der täglichen Leser längst überschritten, »ohne einen Cent auszugeben«, erklärt der Journalist Pascual Serrano. Er betreut seit 1996 die elektronische Zeitung. Rebelión.org sei nichts anderes eine »weltweite Tafel«, deren Material sich dann in den eher traditionellen alternativen Medien wie Radios oder Nachbarschaftszeitungen wiederfinden. Es gibt Monate, in denen die Seiten von Rebelión, das meist gelesene spanischsprachige alternative Medium, zwei Millionen Mal abgerufen werden. Mehr als 1 000 freiwillige Autoren bzw. Übersetzer machen dies möglich.

Eine der treuen Unterstützerinnen von Rebelión, Rosa Miriam Elizalde, schreibt: »Wir müssen uns eine Kultur aneignen, die fähig ist, einen einfachen Computer mit Modem in eine Fischgräte zu verwandeln, die im Hals der Macht steckenbleibt.« Damit man die alternativen Medien wahrnehme, so Elizalde, sei es wichtig zu wissen, »mit welchem Teil des Internet-Universums wir diesen Dialog aufnehmen wollen«. Es sei eben nicht ein großer Platz voll mit Leuten, »zu denen wir mit Megafon sprechen«. Diagonal meint: »Internet ist nicht genug«. Bei so viel Lärm, der im Cyberspace heute erzeugt, sind Zeitungsprojekte mit eigener Programmatik wie Diagonal notwendiger denn je. Ob Diagonal jedoch überlebensfähig ist, hängt davon ab, ob die sozialen Bewegungen gewillt sind, die Zeitung als gemeinsamen Ort der politischen Vernetzung zu begreifen.

www.diagonalperiodico.net