Angriff der Leitkultur

Das politische Establishment erobert sich sein Lieblingsthema zurück: die Einwanderer. von stefan wirner

Für deutsche Reaktionäre muss es ein Gefühl sein, als habe jemand die Fenster aufgestoßen. Sie schnappen Frischluft und ventilieren kräftig. Endlich ist Schluss mit den Visionen einer multikulturellen Gesellschaft! Endlich hat die political correctness ein Ende, und es ist auch in Deutschland wieder möglich, seinem Rassismus freien Lauf zu lassen!

Die vergangenen Wochen standen im Zeichen eines Wettbewerbs um die strengste Forderung an Einwanderer und um die entschiedenste Absage an die multikulturelle Gesellschaft. Die Devise nach dem Mord eines Islamisten an dem niederländischen Filmemacher Theo van Gogh wurde von Dieter Wiefelspütz (SPD) im Bundestag ausgegeben: »Holland ist überall.«

Der wichtigste Vorsänger des Chors der Leitkultur wurde der brandenburgische Innenminister Jörg Schönbohm (CDU). All sein literarisches Wissen wandte er auf, um sein rechtsextremes Wählerpotenzial in Brandenburg zu bedienen. In der Welt beklagte er, dass Lessings Ringparabel aus dem Stück »Nathan der Weise« nicht an den Koranschulen in Deutschland gelehrt werde. »Dort wird vielmehr häufig gepredigt, dass man den richtigen der drei Ringe aus dem väterlichen Erbe am sichersten erlangen könne, indem man seinen beiden Brüdern den Schädel einschlägt und ihnen ihre Ringe von den Fingern schneidet.«

Zwar dürfte der gemeine rechte Wähler in Brandenburg von der Ringparabel keine Ahnung haben, dafür versteht er vielleicht umso mehr vom Schädeleinschlagen und Fingerabschneiden, mag sich Schönbohm gedacht haben. Er beklagte sich auch über die »Menge« an Ausländern, die in Deutschland lebe: »Es kommen zu viele. Wenn man in eine chemische Lösung immer mehr Fremdstoff schüttet, ist deren Lösungsfähigkeit irgendwann erschöpft. Es bildet sich Bodensatz, der die Flüssigkeit nicht mehr verändert.« Menschen als »Fremdstoff« und »Bodensatz«: Wer findet die Stelle bei Joseph Goebbels, von der Schönbohm seine Metapher entlehnt hat?

Platz eins in der Skala der deutschen Leitkultur geht also eindeutig an ihn. Platz zwei eroberte sich aus dem Hinterhalt und völlig unerwartet Helmut Schmidt, seines Zeichens elder statesman und ehemaliger Bundeskanzler. Er tobte sich im Hamburger Abendblatt mal so richtig aus. »Mit einer demokratischen Gesellschaft ist das Konzept von Multikulti schwer vereinbar«, sagte er. Solche Gesellschaften funktionierten nur dort, wo es »einen starken Obrigkeitsstaat gibt«, meinte der frühere Offizier der Wehrmacht. »Insofern war es ein Fehler, dass wir zu Beginn der sechziger Jahre Gastarbeiter aus fremden Kulturen ins Land holten.«

Viel Zeit, sich über derlei Ausladungen zu ärgern, hat der türkischstämmige Arbeiter, der vorzugsweise die SPD wählte, nicht. Denn Schmidt will die von Ausländern bewohnten »Ghettos in den Großstädten auflösen«. Mit der Polizei? Oder gleich mit der Armee? Platz zwei der Skala der Leitkultur hat sich Schmidt jedenfalls redlich verdient.

Schwierig wird die Entscheidung über Platz drei. Es gibt zu viele Bewerber mit sehr guten Bewerbungsunterlagen. Und sie kommen nicht nur aus den Kreisen der Opposition, nein, auch aus der Regierungskoalition melden sich Befürworter einer härteren Gangart gegen integrationsunwillige Einwanderer zu Wort. Dieter Wiefelspütz etwa verlangte »klare Ansagen« an die Einwanderer. »Die Kuscheldiskussionen müssen aufhören«, sagte er dem Focus. Oder Jürgen Trittin, der Bundesumweltminister. Er wildert in fremden Ressorts, um sich nicht mit Todesfällen bei Castor-Transporten herumärgern zu müssen. Er warnte, wie immer ganz im Trend, vor »Parallelgesellschaften«. »Wenn sich Polizisten in manche Stadtviertel nur noch mit schusssicherer Weste wagen, dann ist es zu spät«, sagte er der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Platz drei bleibt heiß umkämpft.

Alle haben ihre Meinung zum Thema, Köhler, Schröder, mannigfache Experten und sämtliche Hinterbänkler. Alle wissen, dass Islam nicht gleich Islamismus ist. Es wird gefordert und gefördert, Kopftücher müssen rauf und dann wieder runter, Eide sollen geschworen werden, die Rechtsprechung müsse akzeptiert werden. Was tun mit all den mutigen Querdenkern des öffentlichen Lebens, die sich auf die Schnelle so ihre Gedanken gemacht und Vorschläge zur Lösung gravierender Probleme ausgearbeitet haben? Kann etwa die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan (CDU) mit ihrer Idee, Imame sollten in den Moscheen auf Deutsch predigen, den Sprung in den Sessel der Ministerpräsidentin schaffen? Und was rumorte in dem grünen Bundestagsabgeordneten Hans Christian Ströbele, der sich einen muslimischen Feiertag in Deutschland wünschte? »Ich wollte natürlich nie einen islamistischen Feiertag«, sagte Ströbele der Jungle World. Aber einen solchen wünscht sich demnächst vielleicht al-Qaida in Deutschland und droht andernfalls mit der Erschießung irgendwelcher Geiseln.

Vielleicht kommt es ja auch zur Einberufung von Runden Tischen wie 1989. Der Vorsitzende der FDP, Guido Westerwelle, schlug einen »Runden Tisch der Religionen und der Politik« vor, ebenso wie Jürgen Rüttgers, der Vorsitzende der nordrhein-westfälischen CDU. Dieser verglich den Islamismus mit dem Faschismus und dem Kommunismus. Die nordrhein-westfälische CDU wünscht sich im Übrigen, dass sich die Muslime »auf den Weg zu einem deutschen Islam machen«. Der schleswig-holsteinische Innenminister Klaus Buß (SPD) erträumt sich, mal was anderes, einen »Euro-Islam«.

Die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck (Grüne), hingegen kam auf die Idee, den Einwanderern eine »Einladung zum Patriotismus« zukommen zu lassen. Sie forderte die Deutschen auf, ihr gespaltenes Verhältnis zum eigenen Land aufzugeben, erst dann könnten sie bei den Zuwanderern für ein Zugehörigkeitsgefühl zur neuen Heimat werben. Mehr Nationalismus führt zu mehr Integration, oder nicht?

In diesem Wirrwar würde man sich über das eine oder andere klare Wort freuen. »Terror ist Mord«, meint Mehmet Yildrim, der Generalsekretär der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (Ditib), die die Integrationsdemonstration am Sonntag voriger Woche in Köln organisierte, kurz und bündig. Die Terrorakte aber »haben nichts mit dem Islam zu tun«, sagt er der Jungle World. Wie war so treffend auf einem Transparent auf der Demonstration zu lesen: »Unschuldige Menschen zu töten, bedeutet nicht Jihad.« Was aber bedeutet Jihad?

Und was wird aus der multikulturellen Gesellschaft? Ist sie »grandios gescheitert« (Angela Merkel) oder »gegen die Wand gefahren« (Laurenz Meyer)? Oder ist sie »nicht mehr und nicht weniger als eine Zustandsbeschreibung« (Katrin Göring-Eckardt) und »kein grüner Spinnkram, sondern die Realität« (Claudia Roth)?

Was all diese Diskussionen mit der Integration von Einwanderern, mit islamistischem Terror und Antisemitismus, mit dem Brandanschlag auf eine Moschee in Sinsheim, dem Mord an Theo van Gogh oder gar mit Hartz IV zu tun haben, ist schwer zu sagen. Sicher ist nur, welcher der am häufigsten gebrauchte Befehl der vergangenen Wochen war: »Lernt Deutsch!«