Blaue Augen überall

Eine Basketball-Massenschlägerei führte in den USA zu Rekordstrafen und zu vielen unnötigen Befürchtungen. von kim bönte

Wenn den Freunden des unbefleckten Sports nach Abwechslung ist, dann weisen sie auf die USA hin. Hooligans gebe es dort nicht, sagen sie, und obwohl körperbetonte Sportarten dort unglaublich beliebt seien, gehe es bei den Lieblingssportarten absolut gewaltfrei zu.

Als es am letzten Wochenende jedoch anlässlich des NBA-Matches zwischen den Indiana Pacers und den Detroit Pistons zu völlig eindeutigen und in alle Welt übertragenen Ausschreitungen kam, sind diejenigen, die von Sportlern sportliches Verhalten erwarten, ziemlich kleinlaut geworden.

Denn so ungefähr hat es wohl begonnen: 45,9 Sekunden vor dem Ende der Partie hatte Ron Artest den Detroit-Spieler Ben Wallace gefoult, woraufhin der seinen Gegner schubste.

Der Hobby-Rapper Artest gilt ohnehin als Bad Boy des Basketballs, insgesamt acht Mal wurde er in den letzten beiden Spielzeiten gesperrt. 2002 hatte er in New York einen am Spielfeldrand stehenden Fernseher zerschlagen, Mitte November erst wurde er von seinem Verein für zwei Wochen gesperrt, nachdem er erklärt hatte, während der Saison auf Promotion-Tour für sein Album gehen zu wollen. Diplomatisch zu sein und die Ruhe zu bewahren, gehört schließlich nicht unbedingt zu seinem Repertoire, wie der Spieler nach dem Foul an Wallace eindrucksvoll bewies: Als er von einem aus dem Zuschauerbereich geworfenen Bierbecher getroffen wurde, flippte er völlig aus. Er sprang in den Zuschauerbereich und ging auf die dortigen Fans los, einige Mannschaftskollegen schlossen sich ihm an, am Ende der fünfminütigen Massenschlägerei gab es neben einigen blauen Augen und gebrochenen Nasen auch noch Rekordstrafen: Ron Artest darf ein Jahr lang den Court nicht mehr betreten, Stephan Jackson wurde für 30 Spiele gesperrt, Jermaine O’Neill für 25, die Sperre von Ben Wallace beträgt fünf Matches. Die verhängten Strafen belaufen sich insgesamt auf 143 Matches.

David Stern, der für Disziplinarmaßnahmen zuständige Commissioner der NBA, erklärte später: »Das Verhalten der Betroffenen ließ jede Professionalität und Selbstkontrolle vermissen, die von Spielern der NBA erwartet werden.«

Entsprechend verhängte er Strafen, die es so noch niemals gab. Zuletzt erhielt im Jahr 1977 Kermit Washington von den Los Angeles Lakers 60 Tage Spielverbot, nachdem er seinem Gegner Rudy Tomlanovich mit einem gezielten Schlag das Kinn gebrochen hatte.

»Das war das Schlimmste, was ich in meiner Laufbahn als Spieler und Trainer jemals gesehen habe«, erklärte Detroits Coach Larry Brown unmittelbar nach dem Spiel, sein Kollege Rick Carlisle von den Indiana Pacers fügte hinzu: »Ich bin jetzt 20 Jahre dabei. Ich dachte, ich kämpfe um mein Leben. So etwas sieht man nicht einmal beim Eishockey.« Beide Trainer hatten vergeblich versucht, ihre Spieler zu beruhigen.

Die Basketball-Prügelei wurde zum Gesprächsthema Nummer eins, die meisten Kommentatoren sahen in den Ausschreitungen vor allem einen Grund, sich sehr, sehr zu schämen. Mitch Alborn von der Detroit Free Press beschrieb zum Beispiel den Morgen danach, »an dem wir wie ein Boxer vor dem Spiegel standen und prüften, wie schwer die Verletzungen sind. Blaue Augen überall, bei den Sportlern, bei den Fans, beim Sport und auch bei unserer Stadt.«

Bill Conlin, Kolumnist der Tageszeitung Philadelphia Daily News, bemühte dagegen das Bild vom untergegangenen römischen Reich: »Amerika im Allgemeinen und der amerikanische Sport im Besonderen sind genauso verwöhnt und von einer ähnlichen vom Luxus übersättigten Dekadenz wie das alte Rom in seinen letzten Tagen.« Die vor den Toren Roms lauernden Barbaren seien »die Westgoten und die Hunnen und all die anderen Armen und Hungrigen des Imperiums« gewesen, die USA diskutierten fröhlich eine Massenschlägerei bei einer Sportveranstaltung, während die wahren Probleme ganz woanders lägen: »Wir haben den 11. September, bin Laden und al-Qaida. Unsere Westgoten und Hunnen sind Millionen islamischer Fundamentalisten und noch einige Millionen anderer, die uns wegen unseres Reichtums und unserer Arroganz nur unwesentlich weniger hassen als die Mullahs im Irak.«

Es werde Zeit, sich auf die wirklich wichtigen Themen zu besinnen, meinte Conlin weiter: »Die NBA-Ausschreitungen sind nur eine weitere geplatzte Blase, ein großes, eitriges Blitzlicht, das unsere Aufmerksamkeit von dem weit ekligeren und hässlicheren Bild ablenkt, das wir abgeben.«

Lediglich das renommierte Internet-Magazin Slate wollte den allgemein prognostizierten Untergang der Neuen Welt nicht herbeischreiben. Unter der Überschrift »Fight! Fight! Fight!« erklärte der Publizist Ben Mathis-Lilley kurz und bündig: »Warum wir noch viel mehr Basketball-Ausschreitungen brauchen.«

Die Debatte über die Vorbildfunktion von Sportlern sei absolut hysterisch und heuchlerisch, schrieb er. »Müsste ich nur auf der Grundlage der veröffentlichten Kolumnen eine Zusammenfassung der Ereignisse veröffentlichen, dann muss in etwa Folgendes geschehen sein: Ron Artest verprügelte seinen eigenen Trainer mit einem Baseballschläger, Stephen Jackson zeigte dem verdutzten Publikum in der Halle einen selbstgedrehten Pornofilm, und Jermaine O’Neill griff zum Mikrophon und beleidigte sowohl Mutter Teresa als auch unsere im Einsatz befindlichen Truppen.«

Der beständige Verweis darauf, dass die Fans von den live übertragenen Gewalttaten der Spieler und Zuschauer traumatisiert und angeekelt seien, entspreche nicht den Tatsachen. Ganz Amerika habe am Telefon gehangen, um Freunde und Bekannte aufzufordern, sofort den Fernseher einzuschalten – und die Schlägerei absolut lustig gefunden:

»In der Bar, in der ich das Spiel gesehen habe, war wirkich niemand, der ein Lamento über die beschmutzte Ehre der NBA, des Sports im Allgemeinen und der menschlichen Zivilisation im Besonderen angestimmt hätte. Falls geheult wurde, dann vor Lachen – zum Beispiel über den gut angezogenen Fan, der versuchte, Artest zu zeigen, wer der Boss ist.«

Der NBA habe nichts Bessereres passieren können als diese Massenschlägerei, sagte Mathis-Lilley weiter. Denn nachdem die Zuschauerzahlen und damit auch das Interesse der Medien in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken seien, trügen die Schlagzeilen der letzten Woche unbedingt dazu bei, dass die Sportart wieder wahrgenommen werde: »Die Basketball-Ausschreitungen waren sogar in meinem Lokalsender der Aufmacher – und ich lebe in Brooklyn. Wann haben Sie zuletzt erlebt, dass Ihre Eltern, Ihre Arbeitskollegen, eigentlich jeder außer Bill Walton im November, also sehr früh in der Saison, so intensiv und ausdauernd über die NBA diskutiert haben?«

Im Grunde sei nichts Schlimmes passiert, weil niemand ernsthaft verletzt worden sei, schreibt Mathis-Lilley. An jedem Wochentag fänden in x-beliebigen Kneipen weit drastischere Gewalttaten statt. Die aufgeregten Kommentare über die Schlägerei seien daher absoluter Bullshit: »Wenn dies das erste Anzeichen der Apokalypse war, dann wird die Reise in die Hölle ein ziemlich behaglicher Trip!«