Sag Nein zum Atmen!

In einem der verseuchtesten ökologischen Krisengebiete Europas, der serbischen Industriestadt Pancevo, wollen die Bewohner nicht länger vergiftet werden. von boris kanzleiter

Es ist kühl an diesem Vormittag, und ein beißender Wind weht um die Straßenecken. Die Leute vor dem Infostand tippeln nervös von einem Bein auf das andere und rufen sich ermutigende Sprüche zu. Noch fünf Minuten, und wir werden erfahren, wie die Bewohnerinnen und Bewohner von Pancevo auf den Aufruf zum Protest gegen Umweltverschmutzung reagieren. Wird alles still bleiben und nichts geschehen? Oder werden Sirenen heulen, Autohupen dröhnen, Trillerpfeifen schrillen? Wird die Stadt für zehn Minuten zum Stillstand kommen? Gelingt es, die Bürger noch einmal zu mobilisieren, so wie im Sommer, als es zur ersten großen Demonstration kam? Oder wird das beginnende Aufbegehren wieder von der ängstlichen Apathie eingeholt, die in den vergangenen Jahren wie eine bleierne Wolke über der 20 Kilometer östlich von Belgrad liegenden Stadt schwebte, die als eines der verseuchtesten ökologischen Krisengebiete Europas gilt?

11.55 Uhr: Fünf Minuten vor zwölf. Der Protest steht unter dem Motto: »Sag Nein zum Atmen!« Die Bewohner von Pancevo sind zu »zehn Minuten des zivilen Ungehorsams« aufgerufen. Aber der Verkehr auf der Hauptstraße rollt weiter. Auch sonst passiert nichts. Nur die etwa 20 Aktivistinnen und Aktivisten des Protestbündnisses am zentralen Infostand in der Innenstadt ziehen sich den Mundschutz und die Atemmasken vor das Gesicht, die zum Markenzeichen ihrer Aktionen geworden sind. Jetzt fangen einzelne Autofahrer an zu hupen. Verkäuferinnen treten aus den umliegenden Geschäften auf den Gehweg und schauen neugierig die Straße hinauf und hinab. Auch manche von ihnen ziehen jetzte eine Maske aus der Tasche und stülpen sie über die Nase.

11.57 Uhr: Die Sirenen des Luftschutzes fangen an zu heulen und das Hupen der Autos wird lauter. Auf einmal kriecht ein mulmiges Gefühl mit dem kalten Wind unter die Mützen und dicken Jacken. Die schrillen Sirenen erinnern an die Nato-Luftangriffe im Frühjahr 1999, als das Industriegebiet in den Vororten fast täglich von Marschflugkörpern bombardiert wurde und die Bewohner in die Luftschutzkeller oder ganz aus der Stadt flohen. Draußen vor der Stadt brannten die Öltanks der Raffinerie, die Lagerhallen der Kunststofffabrik und die Produktionsanlagen der Düngemittelfabrik.

11.58 Uhr: Ein Löschzug der Feuerwehr fährt mit eingeschalteten Hupen die Straße entlang und beteiligt sich am Protest. Auch ein Taxikonvoi hat sich gebildet und fährt lärmend hinterher. Die Luftschutzsirene jault weiter. Aus den Autos recken sich geballte Fäuste. Die Leute vom Infostand winken zurück. Die Protestaktion scheint ein Erfolg zu werden.

12.08 Uhr: Nenad Maletin, einer der Aktivisten am Infostand, hat die Atemschutzmaske wieder heruntergezogen. Sie baumelt nun wie ein Halstuch über seiner Daunenjacke. Am Ohr hält Nenad das Mobiltelefon und erkundigt sich, wie die zehn Protestminuten in anderen Teilen der Stadt verlaufen sind. Nach ein paar kurzen Gesprächen verrät sein Grinsen die Antwort: »Wir können zufrieden sein«, sagt er und steckt das Handy wieder in die Tasche. »Überall in Pancevo haben sich Leute dem Lärmprotest angeschlossen.« Ein paar Minuten später hören wir im Lokalradio eine Sondersendung. Die Korrespondenten berichten in schnellen Sätzen aus verschiedenen Teilen der 130 000 Einwohner zählenden Stadt: Am Marktplatz beteiligten sich Bauern aus der Umgebung am Protest. Geschäfte wurden für zehn Minuten geschlossen. Beschäftigte des Krankenhauses legten kurzzeitig die Arbeit nieder. Überall waren Hupen und Sirenen zu hören. In einigen Schulen wollten die Schülerinnen und Schüler den Unterricht verlassen. Aber die Schulleitungen verboten eine Teilnahme am Protest und reagierten mit Einträgen ins Klassenbuch und mit Disziplinarmaßnahmen.

Die Kälte vertreibt die Aktivistinnen und Aktivisten von der Straße in die umliegenden Cafés. Nenad Maletin hat gute Laune und nimmt sich Zeit zu erklären, was in den vergangenen Monaten in Pancevo passiert ist: »Im Grunde wissen alle Bewohner von Pancevo, dass wir hier konstant vergiftet werden«, beginnt der etwa 25jährige zu erzählen. »Bei bestimmten Wetterlagen können wir die Abgase aus den umliegenden Fabriken riechen. Es ist ein ätzender Gestank, manchmal süßlich, manchmal säuerlich. Das hängt von der Windrichtung ab und davon, welche der Fabriken gerade die Ventile öffnet. Viele Einwohner sind krank. Die Krebsrate ist extrem hoch. Viele Leute haben Allergien, Hautausschläge und Atemwegserkrankungen«, beschreibt Maletin den Alltag in der Industriestadt an der Donau.

Dass die Bewohner von Pancevo wegen der Luftverschmutzung erkranken, ist nichts Neues. Die Abgaswolken liegen über der Stadt, seitdem in den sechziger Jahren die Fabriken gebaut wurden und die vormals gemütliche Kleinstadt in den größten petrochemischen Industriestandort im damaligen Jugoslawien verwandelt haben. Seit vergangenem Sommer regt sich nun erstmals ernst zu nehmender Protest: »Die Gruppe von Leuten, die nicht mehr hinnehmen wollen, dass sie permanent vergiftet werden, hat eine kritische Masse überschritten«, freut sich Maletin.

Ausschlaggebend für den Stimmungsumschwung war die Installation von Messanlagen an drei verschiedenen Punkten der Stadt im vergangenen August. Verschlossen viele Bürger jahrelang die Augen vor der schmerzlichen Einsicht, dass sie den bescheidenen Wohlstand der Stadt mit ihrer Gesundheit erkauften, wurden sie nun an Ort und Stelle mit den Messwerten konfrontiert. Und was die Bewohner von Pancevo auf den kleinen Tabellen auf den Monitoren der Messanlagen sehen, ist erschreckend: »Täglich werden die Grenzwerte für verschiedene Chemikalienkonzentrationen in der Luft weit, manchmal um das Hundertfache, übertroffen«, sagt Maletin. In der Lokalzeitung Pancevac, die im Café ausliegt, sind die Werte abgedruckt. Der Blick auf das Diagramm zeigt: Insbesondere die Werte für das Krebs erregende Benzol sind in diesen Tagen extrem hoch. Zu bestimmten Zeiten wird eine Konzentration von über 100 µg pro Kubikmeter Luft erreicht. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) rechnet bei Benzolbelastungen von nur ein µg pro Kubikmeter mit einem erheblichen Anstieg der Fälle von Leukämie. Einen offiziellen Grenzwert für die Chemikalie gibt es nicht, weil auch kleinste Substanzen krebsfördernd wirken.

Als die Installation der Messanlagen im Sommer die Bewohner der Stadt in Unruhe versetzte, bildeten Mitglieder verschiedener lokaler Vereine und Gruppen eine gemeinsame Protestkoalition. Noch im August vereinigten sich 15 lokale Organisationen – von Frauengruppen und den Pfadfindern bis zum Roten Kreuz – zum Netzwerk der Nichtregierungsorganisationen und Bürgerinitiativen in Pancevo (NVOPVO). Zuerst forderten die Aktivisten Lokalpolitiker der verschiedenen Parteien dazu auf, sich ihren Forderungen nach einer Verbesserung der Umweltsituation und einer umfassenden Information über die Gefährlichkeit der Verschmutzung anzuschließen. Acht von neun Parteien reagierten zumindest verbal positiv, und auch der Bürgermeister Srdjan Mikovic erklärte seine Unterstützung. Nur die Rechtsextremisten der Serbischen Radikalen Partei (SRS) blieben abseits.

Am 9. Oktober folgte dann die erste große Demonstration: Etwa 3 000 Menschen zogen durch die Stadt in Richtung Industriegebiet. Der Regierung in Belgrad und dem Management der trotz der forcierten Privatisierungspolitik der vergangenen Jahre noch immer staatseigenen Unternehmen stellten sie ein Ultimatum. Bis zum 15. November sollten sie mit konkreten Vorschlägen antworten, wie die Situation zu verbessern sei. Ansonsten würden die Proteste weitergeführt und radikalisiert werden. Zum ersten Mal berichteten nun landesweit Zeitungen auf den Titelseiten und Nachrichtensendungen im Fernsehen über die Situation in Pancevo.

In der Zwischenzeit begannen die Umwelt-Aktivisten, den Protest überall in der Stadt sichtbar zu machen. Als Symbol fungiert die Atemschutzmaske. Die Aktivisten binden sich die Maske täglich um. Sie ist zu ihrem Erkennungszeichen geworden. Bei verschiedenen Aktionen wurden die Denkmäler der Stadt mit den Masken verziert. Inhaber von Modegeschäften schlossen sich an und banden Schaufensterpuppen die Maske um. Überall werden die Bewohner von Pancevo daran erinnert, dass Atmen in dieser Stadt lebensgefährlich ist. Kinos zeigten einen Spot, der zu Protesten aufruft.

Und der Protest hat tatsächlich Erfolge aufzuweisen. Immerhin sehen sich die Industriebetriebe und die Regierung mittlerweile gezwungen, öffentlich Stellung zu nehmen. Auf das Ultimatum sind einige Antworten eingetroffen. Sogar der Vizepremier Miroljub Labus hat reagiert, ist zu Gesprächen in die Stadt gekommen und hat Hilfe in Aussicht gestellt. Aber den Aktivistinnen und Aktivisten des NVOPVO ist klar, dass sie nicht nachlassen dürfen. Maletin sagt: »Wir müssen weiter öffentlichen Druck ausüben. Sonst erreichen wir außer schönen Versprechungen gar nichts. Der zehnminütige zivile Ungehorsam von heute ist nur der Auftakt zu weiteren Aktionen.«

Der Optimismus von Nenad Maletin und seinen Mitstreitern ist überraschend. Denn tatsächlich ist das, was in Pancevo in diesen Monaten geschieht, ein Novum in Serbien. Schwere Umweltprobleme gibt es in der ehemaligen jugoslawischen Republik mehr als genug. Durch das trostlose zentralserbische Kraljevo fließt der phenolhaltige Fluss Ibar, der wie ein Chamäleon seine Farbe wechselt. In der Bergbaustadt Bor nahe der rumänischen Grenze fallen die Vögel mit Schwermetallvergiftungen von den Bäumen. In Belgrad tropfen dioxinhaltige Chemikalien aus verrosteten Eisenbahnwaggons, die durch die Innenstadt rattern und manchmal im verrotteten Schienenbett entgleisen. Aber nirgends regt sich bislang anhaltender öffentlicher Protest.

Die Suche nach dem Grund für die Apathie führt in die traurige Geschichte des Scheiterns alternativer Bewegungen in Jugoslawien. Während sich in Westeuropa seit Beginn der siebziger Jahre mit dem Aufbruch der Neuen Sozialen Bewegungen ein kritisches Bewusstsein der Öffentlichkeit über die ökologischen Gefahren industrieller Produktion bildete, kam es in Jugoslawien erst Mitte der achtziger Jahren zu Gehversuchen alternativer Bewegungen, die zwar im Verdacht der Dissidenz standen und mit politischer Repression belegt wurden, im Vergleich zu anderen osteuropäischen Staaten aber außerordentlich stark waren. Am Ende der achtziger Jahre konnten subkulturelle Experimente in Musik und Film, die entstehende Frauenbewegung, unabhängige Gewerkschaftsgruppen und Ansätze einer Ökologiebewegung ihre Stimme erheben. Aber der Ausbruch des Krieges verschüttete die meisten Ansätze. Wenn Protagonisten aktiv blieben, dann in Anti-Kriegsgruppen oder im Exil. Die meisten allerdings zogen sich entsetzt in die Privatsphäre zurück.

Gleichzeitig haben der Krieg, die desaströse Wirtschaftskrise und das Wirtschaftsembargo in Serbien eine ruinierte Volkswirtschaft hinterlassen. Bei einem monatlichen Durchschnittslohn von etwas über 200 Euro und grassierender Arbeitslosigkeit sind die Menschen mit dem täglichen Überleben beschäftigt. Politik betrachten sie meist mit Misstrauen. Kein Wunder: Die öffentliche politische Sphäre wird von einer Vielzahl von Parteien dominiert, deren Führungspersonal sich in oft infantil anmutenden Auseinandersetzungen und Korruptionsskandalen theatralisch zerfleischt und einen politischen Meinungsstreit nur simuliert.

Die zwischen stumpfem Nationalismus, hysterischem Klerikalismus, abgestandenem Monarchismus und rigidem Wirtschaftsliberalismus oszillierenden Programme der relevanten Parteien verkaufen einen Pluralismus der politischen Idiotie und kulturellen Regression als Demokratisierung. Desillusioniertheit und Apathie der Bürger sind dabei Folge und gleichzeitig Voraussetzung für dieses System der politischen Manipulation und Kontrolle. »Unser Hauptproblem ist, dass die Leute nicht glauben, dass sie selbst etwas ändern können«, meint Nenad Maletin und trifft damit die Stimmung im ganzen Land, nicht nur im Hinblick auf die ökologische Krise.

Umso erstaunlicher ist das Aufbegehren der Bürger von Pancevo. Ganz zufällig ist es aber nicht, dass ausgerechnet hier eine kritische Ökologiebewegung zu entstehen scheint. Pancevo ist zwar eine Kleinstadt, dennoch existiert hier eine alternative Szene. Während des Krieges waren Friedensgruppen aktiv. Seit Jahren findet hier ein Comic-Festival statt, das in ganz Serbien bekannt ist. Viele der Aktivistinnen und Aktivisten des NVOPVO kennen sich aus diesen Zusammenhängen. Mit der Unterstützung durch die Redaktionen der Wochenzeitung Pancevac und des Radio Pancevo finden die Aktivitäten des NVOPVO den Weg zu den Bürgerinnen und Bürgern. Wie lange die Energie der NVOPVO-Leute reicht, muss sich freilich noch erweisen.

Denn tatsächlich ist das Desaster in Pancevo von einem Ausmaß, das es selbst Optimisten schwer macht zu glauben, dass man in dieser Stadt eines Tages wieder leben kann, ohne sich zu vergiften. Daran haben nicht zuletzt auch die Folgeschäden des Nato-Bombardements vom Frühjahr 1999 ihren Anteil. Vom ersten bis zum letzten Tag des zweieinhalbmonatigen Luftkrieges schlugen im Industrierevier, das direkt an das Wohnviertel Vojlovica grenzt, immer wieder Marschflugkörper ein. Die Raffinerie, die Düngemittelfabrik Azotara und die Kunststofffabrik Petrohemija wurden schwer getroffen. Tagelang stand eine bedrohliche schwarze Rußwolke über der Stadt.

Nach einem Bericht des UN-Umweltprogramms (UNEP) verbrannten oder versickerten in diesen Tagen 85 000 Tonnen Öl- und Öl-Derivate, 460 Tonnen des hochgradig krebserregenden Vinylchlorids, das für die Plastikproduktion verwendet wird, 2 100 Tonnen des hochtoxischen Lebergiftes 1,2-Dichloräthan, acht Tonnen des Schwermetalls Quecksilber und 250 Tonnen Ammoniak für die Kunstdüngerproduktion. Nach Analysen des Washingtoner Institute for Energy and Environmental Research (IEER) lag die Konzentration des 1,2-Dichloräthan im Grundwasser mehrere tausend Mal über dem US-Grenzwert. Die jugoslawischen Grenzwerte für Vinylchlorid wurden nach Messungen des Institutes für Gesundheitsschutz um das 10 000fache überschritten.

Seitdem sind beinahe sechs Jahre vergangen. Ein Team der UNEP, das die ökologischen Folgeschäden des Nato-Bombardements untersuchte, hat im vergangenen April sein Büro geschlossen. Ein ernsthaftes Clean up hat nicht stattgefunden.

NVOPVO im Internet: www.nvopvo.cjb.net