Die Grammatik der Erfahrung

»Formalismus, Moderne Kunst, heute« im Hamburger Kunstverein und die »Utopia Station« zu Gast im Haus der Kunst in München. von kerstin stakemeier

Im Haus der Kunst in München gastiert die »Utopia Station«, und der Kunstverein in Hamburg zeigt »Formalismus, Moderne Kunst, heute«. Zwei internationale Gruppenausstellungen, im Konzept nahezu spiegelverkehrt, tragen als Titelmelodie Konzepte und Namen linker Politik. Die »Utopia Station«, kuratiert von Hans-Ulrich Obrist, Molly Nesbit und Rirkrit Tiravanija, ist ein fortlaufendes Projekt, an dem zum jetzigen Zeitpunkt schon mehr als 200 bildende Künstler, Architekten, Theoretiker und Musiker beteiligt waren. Begonnen wurde es als Ausstellung im Arsenal der 50. Venedig Biennale 2003. Seitdem läuft es weiter, in Hans-Ulrich Obrists »ongoing interviews« und in Treffen, Publikationen und Kollaborationen. Der Titel ist programmatisch, es handelt sich um Zwischenstationen der Utopie, die immer auf dem Weg ist, wie Molly Nesbit in ihrer Ankündigung der Münchner Ausstellung betont.

Bis zum 16. Januar ist die »Utopia Station« im Haus der Kunst beheimatet und bereitet mit dem Untertitel »On the road to Porto Alegre« die nächste Station vor, in der die Ausstellung sich in das World Social Forum auflösen will. Politisch soll das Konzept sein, politisch auch und gerade indem es nicht ergebnisorientiert, sondern offen, nicht links, sondern offen, nicht als »Ideologie«, sondern als »Katalysator« (Nesbit) wirken soll. Nach diesem Prinzip entstanden bereits zur ersten Ausstellung in Venedig mehrere hundert Poster mit Statements aller beteiligten Künstler, mit denen die Ausstellungsarchitektur – ein Holzturm, der in München in drei Teile zerlegt wurde – zur Plakatwand wurde. Lax werden hier politische Gegenstände (Irak-Krieg) mit etablierten Positionen der Gegenwartskunst (Isaac Julian, Hans-Peter Feldmann, John Bock) oder Ikonografien der letzten Jahrzehnte (Lawrence Wiener und Yoko Ono) verknüpft – ein diffuses politisches Interesse verbreitete sich im Haus der »Entarteten Kunst«.

Die Ausstellung »Formalismus, Moderne Kunst, heute« zeigt im Hamburger Kunstverein 25 künstlerische Positionen, vereinigt unter dem ehemaligen Namen der Avantgarde im Russland der Oktoberrevolution. Der russische Formalismus hatte zwischen 1916 und 1930 versucht, die Poetik der Bilder linguistisch mit einer neuen Grammatik zu bekämpfen. Gegen die poetische Repräsentation setzte er die Fähigkeit ästhetischer Produktion zur »Verfremdung« der Wirklichkeit. Er endete mit Stalin, der den Formalismus als Schimpfwort entdeckte, da er dem geforderten Realismus widersprach. Nur als Opposition gegen eine herrschende Norm kann der Formalismus produzieren. Er setzt keine positiven Utopien in Szene, sondern bricht die Norm, indem er ihre Herrschaft einer neuen Grammatik unterwirft.

Die Norm, die in der Ausstellung gebrochen wird, ist die, dass »Formalismus« und »Inhaltismus« im Gegensatz zueinander stehen. Yilmaz Dziewior stellt Positionen in Zusammenhang, die so unterschiedlich sind wie die genaue, malerische Exaktheit der in London arbeitenden Tomma Abts, die sich bis in 60 Farbschichten steigert, und die sich über den Raum verstreuende Installation der in Berlin und Glasgow arbeitenden Cathy Wilkes. In gefundenen Alltagsfetzen, autobiografischen Abfallprodukten und Mechanisierungen körperlicher Erfahrungen produziert Wilkes in eine Raumecke ein Tagebuch aus Material, eine Grammatik der Erfahrung der Gegenstände in Holzklötzen, Milchflaschen, Mobiltelefonen, Bohrmaschine, Faden und eine Dose der Kosmetikfirma »Clarins«. Hier setzt die Ausstellung nicht wie die »Utopia Station« einen Inhalt, zu dem die Künstler produzieren, sondern gruppiert zu Unterschiedlichem produzierende Künstler unter einem inhaltlichen Interesse. Grammatiken der Form, die nicht mit viel Identifikationspotenzial aufwarten, sondern mit »Entautomatisierungen« (Viktor Sklovskij) der ästhetischen Wahrnehmung.

Die Ausstellung »Formalismus, Moderne Kunst, heute« setzt mit einem konventionelleren Ausstellungskonzept ein als die »Utopia Station«, das jedoch der künstlerischen Produktion eine progressivere Stellung zuweist. Ob gute oder schlechte Kunst in Ausstellungen gezeigt wird, interessiert den Kunstkritiker, der abschätzt, aber nicht den Linken, dessen Interesse es ist, die Welt zu denken, um sie umwerfen zu können. Anri Salas Zusammenarbeit mit dem Bürgermeister von Tirana, der sich in der »Utopia Station« mit der Wahrnehmung der Stadt beschäftigt, indem er die Bemalung ihrer Häuser dokumentiert, ist hierfür sicherlich interessanter als Michaela Meises zerbrechliche Papierskulpturen. Aber die Frage nach dem Formalismus zwingt, anders als die nach der Utopie, Kunst nicht in die Unmittelbarkeit der Aktion. Kunst ist von revolutionärem Interesse, wo sie nicht den individuellen Ausdruck, sondern den möglichen Standard sucht. Einen neuen Standard gegen die Gegenwart, der sich an der Gegenwart schult und sie verändert.

Tino Sehgals Choreografie ist in beiden Ausstellungen vertreten. Er lässt in seinen Arbeiten das Ausstellungspersonal, angesprochen vom Besucher auf der Suche nach Sehgals Arbeit, vorgegebene Texte rezitieren, die durch die Nennung des Namens des Künstlers und des Entstehungsjahrs der Arbeit zurück in die künstlerische Verantwortlichkeit gestellt werden. Sehgal wendet sich gegen die Materialität der Kunst, gegen den Zwang, Objekte zu produzieren. Das schafft den Zwang der Mehrwert produzierenden Produzenten, Objekte herzustellen, nicht ab, fragt aber nach der Grammatik der Norm, um ihr eine neue Norm der Grammatik entgegenzusetzen.

Woran ist linke Kunst zu erkennen, nachdem der Fordismus das revolutionäre Subjekt Arbeiterklasse in das repräsentierte Subjekt Angestellter umgearbeitet hat? Und wie ist Kunst kritisch, wenn die kritische Masse als Jugendkultur, die von Forum zu Forum jettet, funktioniert? Die Abwesenheit des revolutionären Subjekts setzt an die Stelle der Kollektivität der Produzierenden eine Liebe zur Differenz und die Bewegung der Arbeitsgruppen. An die Stelle einer solidarischen Kritik der Produktion tritt die Repräsentation gemeinsamer Gesinnungen. Die von der »Utopia Station« übernommene Losung von Porto Alegre, »Eine andere Welt ist möglich«, verströmt den dezenten Charme eines Restpostenmarkts. Partikularisiert und differenziert, bleibt so der Orientierungspunkt der Linken in der Kunst die Suche nach widerständiger Identität. Identifikation und Wiederholung sind gefordert, nicht Ausdruck gegenwärtiger ästhetischer Erfahrungsmöglichkeiten.

Neben denen, die hiergegen direkt an der Schwelle von Kunst und Politik die künstlerische Produktion eröffnen, etwa dem Critical Art Ensemble oder Las Agencias, wird auf dem Feld der künstlerischen Positionen so die Marginalisierung wieder zum Ausweis von Subversion. Der Utopismus des einfachen Lebens, der »Krieg den Palästen – Friede den Hütten!« forderte, verabschiedete sich aus Flugblättern und anderen Texten der radikalen Linken in den Neunzigern, in denen die Debatte um eine antinationale Position sich gegen die Politik der folkloristischen Genügsamkeit stellte. Mit der Befreiung von der nationalen Bewegung statt der Hoffnung auf nationale Befreiungsbewegungen stieg auch die Hoffnung auf die Bäckerei für alle, statt der Rumkugeln für jeden. In der Kunst jedoch versucht sich die Linke an Adornos Diktum gegen die Beruhigungsfunktion der bürgerlichen Kunst: »Der Bürger wünscht die Kunst üppig und das Leben asketisch; umgekehrt wäre es besser.«

Die Linke der jugendlichen Differenz wünscht sich ihr Leben fett und die Kunst mager. Aber diese Umkehrung funktioniert als Trash-Kult statt als Strenge in der aufgezeichneten ästhetischen Erfahrung. Wieder funktioniert Kunst als Beruhigung – als die über die eigene Subversion. Der Widerstand scheint mit der angenommenen Alltäglichkeit des Materials linear anzusteigen. Die Multitude feiert im Stil der Armut die Wiederkehr der »Gegenkultur« und holt die künstlerische Produktion zurück in die Spiegelfunktion. Formalismus, beheimatet im nachrevolutionären Ausstellungsraum, ist weit entfernt davon, politische Praxis zu sein. Die »Utopia Station« jedoch wiederholt die politische Praxis als ästhetische Geste. Diese Absage an die Autonomie der Kunst im Namen der Subversion kehrt zurück als Politik der Zierleiste; als Widerstand statt Revolution.

»Formalismus, Moderne Kunst, heute«. Hamburger Kunstverein. Bis 9. Januar 2005

»Utopia Station«, Haus der Kunst, München. Bis 16. Januar 2005