Kontrolle und Willkür

Gerade die Willkür der Drogenpolitik ist ihr ideologisches Geschütz. von diedrich diederichsen

Drogen sind Kultur. Ob man sie nimmt und welche, hat dem Selbstverständnis der meisten User zufolge klassisch weiche Gründe, die in Orientierung, Präferenz, Geschmack und Zugehörigkeitsgefühlen zu suchen sind. Je weniger aber eine solche kulturelle Begründung erkennbar ist, desto weniger auch Solidarität und Mitgefühl für User. Der kulturelle Nullpunkt ist die Sucht, obwohl auch ihr oft Entscheidungen zugrunde liegen, jene individuellen Gründe, die die Mittelklasse und ihre Kultur sonst so lieben. Denn das ist das Brisante an Drogen: Sie gelten als Kultur, aber Kultur hat hier ausnahmsweise sehr direkte, ja physische und in zweiter Instanz legale, den eigenen Status betreffende Folgen. Kultur und Orientierung, die sich physisch zeigen, sind aber verdächtig und werden zunehmend geächtet. Auf der anderen Seite sind Drogen, nicht nur für den allgemein geächteten alternativlosen Elends-User inmitten des neoliberalen Spektakels, einer der wenigen Wege, die Intensität des Gefühls zu erleben, das sich nur einstellt, wenn eigene Handlungen Folgen haben, massive Folgen. Die einzige Gemeinsamkeit aller Drogen: Ursache – Wirkung. When I put the spike into my vein, dann kommt die große Wirkung … Das ist weit weg von politischer Subjektivität, aber es ist mehr Subjektivität als die Wahrnehmung eines Unterhaltungsangebots – also das, was uns sonst noch so geboten wird.

Auch wenn die Linke uns immer gewarnt hat: Dass sich der neoliberale Staat zurückzieht, stimmt erstens gar nicht so, und zweitens braucht man auch in den Fällen, wo man es erwarten und befürchten muss, nicht zu hoffen, irgendwelche staatsfernen Freiräume geschenkt zu bekommen. Ganz abgesehen davon, dass ein Freiraum, der nicht finanziert ist, keiner ist. Eine privatisierte Handschelle bleibt eine Handschelle, ein privatisierter Schäferhund bleibt deutsch und bissig. Private Hochsicherheit ist – wie man aus den USA weiß – in der Regel repressiver als der gute alte Knast.

Trotz dieser Warnungen hat doch jeder von uns insgeheim auf eine Art von Deregulierungs-Dividende gehofft. Das Regime der Selbstverantwortung, die Privatisierung der Arbeitsdisziplin müsste doch auch Platz für ein paar freie Entscheidungen lassen, so ganz ohne Substanz kann doch auch die Ideologie des freien Unternehmertums nicht funktionieren. Zum Beispiel im Umgang mit Drogen. In der Logik des Neoliberalismus müsste es doch liegen, dass wir selber entscheiden, welche Drogen wir in welcher Menge nehmen, den Rest regelt der Markt.

Auf der anderen Seite kann man sich Drogengebrauch in den meisten Fällen schon lange nicht mehr als freies Handeln unter hedonistischer Sonne vorstellen. Und das gilt nicht nur für den Elendskonsum, für den vielleicht aber gerade noch zutreffen mag, dass alles, auch ein kurzer Kick, angenehmer ist als das ganz normale Leben mit Ein-Euro-Job-Drohungen, mithin die Entscheidung für ein Leben mit Drogen eine echte Wahl unter den allerdings denkbar dürftigen Bedingungen des Lebens, das bald immer mehr Menschen unter Hartz IV führen werden.

Doch auch in vielen höher gestellten Branchen ist der Kick nun gar kein freier negativer Akt wie in klassischen Drogen-Songs von Velvet Underground bis Tobias Gruben. In vielen Branchen herrscht informell ja weniger ein Drogenverbot als ein Gebot, sie zu nehmen – anders kann man den Job nicht schaffen (oder den Feierabend). Wer je die Freude hatte, wie der Autor dieser Zeilen, in einer Diskussionsrunde neben so genannten Spitzenpolitikern zu sitzen, weiß, wie sehr diese Leute drauf sind, innerlich bebend, überaktiv, die Pumpe presst prall den Lebenssaft, ungesund schwitzend, hyperventilierend und bis an den Rand bereit zu irgendwas. Die so genannten »Die da oben« sind ganz arme Säue auf ganz schlechten Drogen.

Aber auch wenn man dran denkt, wie drei von vier Mitgliedern der Ramones in einem überaus überschaubaren Zeitraum als Frühfünfziger gefällt wurden, kann man ahnen, wie wenig auch freie Entscheidung und fröhlicher Hedonismus der Punk-Jugend, sondern ein eiserner Zwang, die kreative Arbeitskraft zu reproduzieren, das Leben im unangepassten Unterhaltungsgewerbe regelt. Die regulierenden Zwänge schafft der Markt also tatsächlich ganz alleine.

Ist es nicht das große Rätsel neoliberaler Gesundheitspolitik, wie mit Erfolg überall im Westen der Kampf gegen den Tabak geführt wird? Natürlich, die Tabak-Unternehmen holen sich entgangene Einnahmen, indem sie asiatische Frauen anfixen, aber freiwillig gibt niemand Märkte auf. In den USA gibt es keine unmittelbare ökonomische Motivation für den Staat, die Zigarettenkonzerne zu bekämpfen. Schäden in der Gesundheit der Bevölkerung belasten keine Krankenkassen. Die Armen sterben längst, weil sie sich den Krankenhausaufenthalt nicht leisten können, und fallen niemandem zur Last.

Nur ideologiekritische Erklärungen vermögen zu verfangen: Man soll halt in dem Gefühl verankert leben, dass jede Entspannung, jede schlechte Angewohnheit, jede »schlechte Subjektivität« im Sinne Althussers sich rächt, dass man auf sich acht geben muss, sich nicht gehen lassen darf. Dabei passen die scheinbar gegensätzlichen Gewohnheiten, Kokain zu nehmen, um es im Job zu schaffen, und nicht zu rauchen und Sport zu treiben, um fit zu bleiben, gut zusammen: Beides fühlt sich wie ein Akt aus freien Stücken an, dient aber der Anpassung an externe Forderungen an meine Leistungsfähigkeit.

Man hat da scheinbar eine Wahl zwischen der einen (gesunden) und der anderen (ungesunden) Handlung. In Wirklichkeit ist aber nur entscheidend, dass man spürt, die Verantwortung liege bei einem selber, man dürfe sie nicht abwälzen. Die einzige Botschaft ist: Du bist verantwortlich, und solange du eine Entscheidung triffst, die dir unangenehm oder unheimlich ist, also einen inneren Schweinehund überwindest, wird sie schon irgendwie richtig sein.

Warum läuft Herr R. dann also irgendwann Amok – oder träumt davon? Nicht weil er unterdrückt wäre im Sinne von eingesperrt und von Verboten umstellt, sondern weil er überfordert ist von seiner scheinbar existenziellen Wahl, nämlich von dem Zwang, persönliche Verantwortung zu übernehmen für eine Entscheidung zwischen zwei schlechten und von außen aufgezwungenen Alternativen.

Je mehr Verantwortung und Schein-Souveränität den Einzelnen zugerechnet wird, desto weniger agiert der Staat als ein einheitliches zurechnungsfähiges Subjekt. Eine Seite seines Handelns wird durch die Einrichtung von Fixerstuben repräsentiert. Das ist klassisch sozialdemokratisch, fürsorglich, pragmatisch. Die Institution Fixerstube verwaltet relativ unbürokratisch den Drogenkonsum und lässt die Straßen, auf denen Drogenabhängige seit Jahren von Platzverboten, Verhaftungen und Willkür bedroht sind, ansehnlich und sicher aussehen. Hier setzt also eine zweite Routine ein, und der eben noch so fürsorglich pragmatische Staat zeigt sein anderes Gesicht, das der Willkür der Polizei und der neuen privaten Exekutivorgane, die mit Härte die Einkaufszonen kontrollieren.

Dass nicht die permanente Präsenz von Prügeln und Folterdrohung die Realität totalitärer Regime ausmacht, konnte man von Leuten, die in der DDR oder in südamerikanischen Militärdiktaturen aufwuchsen, ebenso oft hören wie in letzter Zeit auch aus den USA: Das zentrale Kriterium von Totalitarismus ist die Unberechenbarkeit der Macht. Da scheint er sich mit den neoliberalen Regimes des Westens zu treffen. Das Gegenüber kann immer anders reagieren. Das Prinzip Daschner oder Schimanski. Auch in Deleuzes berühmtem, der Kontrollgesellschaft den Namen gebenden Essay »Postskriptum zur Kontrollgesellschaft« ist das der entscheidende Punkt: Die Kennkarte, mit der du in die innere Stadt eingelassen wirst, ist manchmal gültig und manchmal nicht, du weißt nie, wann sie gilt. Das Einzige aber, was du lernen sollst, ist, dass du selbst verantwortlich bist, für die Willkür der anderen.