Flut im Sperrgebiet

Die indonesische Provinz Aceh ist am stärksten von der Flutkatastrophe betroffen. Nur zögerlich organisiert die Regierung Hilfsmaßnahmen für die umkämpfte Region. von alex flor
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Erst langsam rückt Aceh ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Aceh ist die am schlimmsten von der Erdbeben- und Flutkatastrophe am zweiten Weihnachtsfeiertag betroffene Region. Aktuelle Zahlen sprechen von rund 80 000 Toten in Aceh, Tendenz weiter steigend.

Die Provinz am Nordzipfel der indonesischen Insel Sumatra ist jedoch nicht erst seit voriger Woche eine Krisenregion. Seit vielen Jahren ist das Leben der Menschen in Aceh von Leid und Angst geprägt. 40 Prozent leben unter der absoluten Armutsgrenze mit weniger als zwei Euro täglich. 1976 erhoben Unabhängigkeitskämpfer der Bewegung Freies Aceh (Gam) die Waffen gegen die indonesische Zentralregierung. In den vergangenen Jahren eskalierte der Konflikt. Ende Mai 2003 wurde in Aceh das Kriegsrecht verhängt und ein Jahr später durch den zivilen Notstand abgelöst. In der Realität bedeutet dies nur, dass die Befehlsgewalt vom Militär auf die zivile Regierung der Provinz übertragen wurde.

30 000 bis 40 000 Soldaten stehen in Aceh. Die Militäroperation der indonesischen Streitkräfte (TNI) dauern auch nach der Katastrophe an. Jeden Tag erreichen uns Meldungen von bis zu zehn Todesopfern. Ausländischen Organisationen, Journalisten und Touristen ist der Zugang in die Provinz seit Verhängung des Kriegsrechts nahezu völlig versperrt.

Während aus Sri Lanka und Thailand sofort berichtet wurde, vergingen Tage, bis Berichte aus Indonesien eintrafen. Die ersten Eindrücke prägen das Bewusstsein. Die Tatsache, dass auch deutsche Urlauber zu den Opfern zählen, erhöht die Betroffenheit und damit auch die Spendenbereitschaft. Aber viele Leute glaubten zunächst, am stärksten betroffenen seien Sri Lanka und Thailand. Zusammen mit Indien bilden diese beiden Länder auch den Schwerpunkt bisheriger Hilfsaktionen deutscher und internationaler Organisationen.

Auch in der indonesischen Hauptstadt Jakarta wurde die Katastrophe völlig unterschätzt. Fernsehunterhaltungsprogramme wurden nur kurz unterbrochen, um das Seebeben zu vermelden. Erste Schätzungen beliefen sich »nur« auf 4 000 Tote. Erdbeben und Vulkanausbrüche gehören in Indonesien fast zum Alltag. Es dauerte, bis man langsam begriff, dass dieses neuerliche Beben Ausmaße annahm, die höchstens von der Explosion des Vulkans Krakatau im Jahre 1883 übertroffen wurden. Die völlige Fehleinschätzung der Lage seitens der Regierung zeigt ein weiteres Mal ihre Ferne von den Problemen der Menschen vor Ort – eine der Ursachen für die seit Jahren anhaltenden Sezessionsbestrebungen in Aceh.

Politische Bedenken behielten zunächst die Oberhand. Es dauerte drei Tage, bis sich die Regierung dazu durchringen konnte, den Ausnahmezustand auszusetzen und das Krisengebiet für internationale Hilfsorganisationen zu öffnen. Die dem Epizentrum am nächsten gelegene Stadt Meulaboh wurde erst zwei Tage nach der Flutwelle überflogen, um die Lage in Erfahrung zu bringen. Schätzungsweise ein Zehntel der 40 000 Einwohner Meulabohs hat überlebt.

Während in Sri Lanka und Thailand sofort die Bergungsarbeiten begannen, befanden sich Rettungsaktionen der großen Hilfswerke für Aceh Ende der vergangenen Woche größtenteils erst in der Vorbereitungs- oder Anlaufphase. Keine der großen Organisationen kann auf lokale Netzwerke von Partnerorganisationen zurückgreifen – eine Folge der langen Abschottung des Gebietes. Und auch jetzt noch unterliegen alle Hilfsaktionen der Aufsicht des Militärs. Zugelassen sind nur Organisationen und Journalisten, die bereits in Indonesien akkreditiert sind, andere müssen zunächst ein bürokratisches Genehmigungsverfahren durchlaufen. Strenge Vorschriften gelten auch für die Aktivitäten der Hilfsorganisationen und Medienvertreter. »Politische Angelegenheiten Nein, soziale Angelegenheiten Ja«, gab Vizepräsident Jusuf Kalla zu verstehen.

Solche Beschränkungen könnten bald zum Politikum werden. Denn Nichtregierungsorganisationen und Presse haben sich vorgenommen, die Hilfsaktionen genau unter die Lupe zu nehmen und zu beobachten, ob die Kriegsparteien TNI und Gam versuchen, die Lage zu ihren Gunsten auszunutzen. Vor allem gilt das Augenmerk der Korruption. Allzu häufig kam es in der Vergangenheit vor, dass Politiker und Bürokraten einen tiefen Griff in die Spendenkassen wagten. Insbesondere die Verwaltung in Aceh gilt als korrupt. Erst kürzlich wurde der am 7. Dezember wegen Korruptionsverdachtes verhaftete Gouverneur der Provinz, Abdullah Puteh, seines Amtes enthoben.

Somit ist der Gouverneursposten vakant, und weite Teile der Zivilverwaltung Acehs liegen in Trümmern bzw. waren wegen des Krieges schon seit Monaten nicht mehr arbeitsfähig. Konsequenterweise übernahm nun vorübergehend die Zentralregierung in Jakarta wieder das Kommando. Das Gesetz über die »besondere Autonomie«, das am 1. Januar 2002 in Kraft getreten war, wurde somit wohl endgültig obsolet.

Ob der von beiden Seiten verkündete, aber nicht formell vereinbarte Waffenstillstand eingehalten wird, bleibt fraglich. Vereinzelt erreichen uns Berichte von neuerlichen bewaffneten Zusammenstößen. Nur wenige Stunden nach der Flutkatastrophe wurden vor der Kulisse von mindestens 3 000 völlig zerstörten Häusern in Bireuen vier Menschen erschossen, darunter der lokale stellvertretende Kommandeur der Widerstandsbewegung. Die relative Ruhe der vergangenen Tage ist möglicherweise eher darauf zurückzuführen, dass beide Parteien paralysiert sind. Die TNI verlor durch die Flut hunderte, wenn nicht tausende ihrer Soldaten.

Im Moment steht für die Menschen in Aceh die Sorge um das Überleben im Vordergrund. Es fehlt an Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und sauberem Trinkwasser. Der Ausbruch von Malaria, Dengue-Fieber, Durchfallerkrankungen und anderen Seuchen könnte schon in Kürze weitere Todesopfer fordern. Es fehlt an Kerosin zum Kochen und an Treibstoff. Straßen und Brücken sind zerstört, der Flughafen von Banda Aceh ist schwer beschädigt.

Die Hilfsbereitschaft in der indonesischen Bevölkerung ist groß. In vielen Städten wurden Sammelstellen für Kleidung, Medikamente und Nahrungsmittel eingerichtet. Doch die Verteilung von Hilfsgütern durch Freiwillige ist nur eine Form von Soforthilfe. Dringende Aufgaben wie die Wiederherstellung der Trinkwasserversorgung, die Einrichtung von Notlazaretten und vieles mehr können nur von entsprechend geschultem und ausgerüstetem Personal großer Hilfsorganisationen wahrgenommen werden. Wenn das Militär es zulässt.

Alex Flor ist Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Watch Indonesia! e.V.