Für eine neue Internationale

Politisches Handeln ist niemals ohne Fehler, Niederlagen und Scheitern zu haben. Aber ohne Intervention gibt es keine Emanzipation. von moe hierlmeier

Heute, da im hegemonialen Sprachgebrauch unter Solidarität die Unterstützung der Reichen durch die Armen verstanden wird, hat es der Begriff der Emanzipation schwer. Nur schwerlich kann man Eva Kreisky widersprechen, dass er wie ein »einigermaßen verbrauchter (Kampf-)Begriff« anmutet. Auch in der Linken.

Dabei sind Emanzipation und Solidarität dringliche Fragen. Der französische Philosoph der Dekonstruktion Jacques Derrida begründete die Notwendigkeit einer neuen Internationale folgendermaßen: »In dem Augenblick, wo einige es wagen, Neo-Evangelisierung zu betreiben im Namen des Ideals einer liberalen Demokratie, die endlich zu sich selbst wie zum Ideal der Menschheitsgeschichte gekommen wäre, muss man es herausschreien. Noch nie in der Geschichte der Erde und der Menschheit haben Gewalt, Ungleichheit, Ausschluss, Hunger und damit wirtschaftliche Unterdrückung so viele Menschen betroffen. Anstatt in der Euphorie des Endes der Geschichte die Ankunft des Ideals der liberalen Demokratie und des kapitalistischen Marktes zu besingen, (...) sollten wir niemals diese makroskopische Evidenz vernachlässigen, die aus den tausendfältigen Leiden einzelner besteht: Kein Fortschritt der Welt erlaubt es zu ignorieren, dass in absoluten Zahlen noch nie, niemals zuvor auf der Erde so viele Männer, Frauen und Kinder unterjocht, ausgehungert oder ausgelöscht wurden.«

Der kategorische Imperativ für eine Linke besteht frei nach Marx weiter darin, alle Verhältnisse umzustoßen, in denen der Mensch ein unterdrücktes und versklavtes Wesen ist. Oder um es mit Rückgriff auf die Ethik von Emmanuel Levinas zu formulieren: Der Anruf des Anderen, seine Andersheit erlegt mir Pflichten auf, durch die ich, indem ich offen bin für diesen Anruf, überhaupt erst sein kann. Dabei ist der Andere, der mich anruft, nie ein abstraktes Wesen, sondern immer ein konkret Anderer, der um Gastfreundschaft und Asyl bittet. Dass Levinas mit dem Anderen immer den bedrängt Anderen gemeint hat und nicht den bedrängenden Anderen, sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

Der Anruf des Anderen verhallt heute aber auch in Teilen der Linken weitgehend. Der Epochenbruch von 1989, der Niedergang der nationalen, antiimperialistischen Befreiungsbewegungen, die diversen Kriege der neunziger Jahre, in denen man mit keiner der kämpfenden Seiten solidarisch sein konnte, sondern nur noch mit den Opfern, und die damit einhergehenden Debatten mit einer verwilderten antideutschen Linken haben politische Wüsteneien hinterlassen, die eine grundsätzliche Debatte um die Linke und den Begriff des Politischen erforderlich machen.

Dabei gilt es zunächst einmal zwei Figuren zurückzuweisen, die in den Neunzigern an Bedeutung gewonnen haben. Die eine Figur ist der verlorene Sohn. Nach einer frühpubertären Phase der Dissidenz kehrt er jetzt, wo er sich erwachsen fühlt, an den heimeligen Herd der imperialen Ordnung zurück. Aus Entsetzen über die Existenz islamistischer Terrornetzwerke schwingt er sich zum Verteidiger einer Zitadellenkultur auf, deren Existenz auf militärischer, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Macht beruht. Munitioniert mit dem Begriffsarsenal von Aufklärung, Fortschritts- und Entwicklungstheorien, fordert er mit Bezug auf die Menschenrechte und das Glücksversprechen des Kapitalismus die Ausweitung imperialer Weltordnungskriege. In den Palästinensern kann er nur noch ein antisemitisches Vernichtungskollektiv erkennen. Was bedeutet schon die Zerstörung des Sozialen durch die Besatzung und den Mauerbau in der Westbank, wenn es gilt, einen (imaginierten) zweiten Holocaust zu verhindern? Die israelischen Linken und die PalästinenserInnen, die versuchen, mit der Logik der Erniedrigung des jeweils Anderen zu brechen, werden vom verlorenen Sohn als Trojanisches Pferd angesehen. Der verlorene Sohn ist für die Linke tatsächlich verloren. Mit ihm lohnt sich keine Debatte über Emanzipation und Solidarität.

Im Gegensatz dazu ist die Auseinandersetzung mit der zweiten Figur notwendig und sinnvoll. Es handelt sich um die Figur des kritischen Kritikers, der das Spiel auf dem sicheren Hochsitz außerhalb des Platzes beobachtet und von dort aus seine Urteile fällt. Er ist der Scharfrichter der Theorie über die sozialen Bewegungen. Die Existenz vieler Widersprüche und Konflikte haben ihn Zuflucht auf ein sicheres Terrain suchen lassen. Nie steht er in Gefahr, einen Ball zu verschlagen oder auf dem glatten Spielfeld auszurutschen. Süffisant macht er sich über die Fehler sozialer und politischer Bewegungen lustig. Der einzige Träger von Emanzipation ist das eigene Selbst. Erst wenn alle anderen so klug sind wie er, kann über Emanzipation diskutiert werden. Es ist die höchste Form von Identitätspolitik. Was oft als Antipolitik beginnt, endet bestenfalls in einem politischen Quietismus, meist aber in Elitismus oder Zynismus.

Der kritische Kritiker hat es einfach mit seiner Kritik an sozialen Bewegungen. Die Kritik trifft meist einen richtigen Sachverhalt. Und dennoch verfehlt sie oft das Politische dieser Bewegungen. Deren Charakteristikum ist es, dass sie immer im Bestehenden aufbrechen, widersprüchlich und von Brüchen durchzogen sind und somit den Ansprüchen der reinen Kritik niemals gerecht werden können. Bewegungen sind keine homogenen Blöcke. Entscheidend für deren Beurteilung sind die Möglichkeitshorizonte, die sich mit ihnen eröffnen. Die Aufgabe der Linken in und an der Seite von Bewegungen besteht genau darin, diese Horizonte zu erweitern. Dass dies nicht ohne Fehler, Um- und Holzwege sowie Sackgassen zu haben sein wird, versteht sich aus der Offenheit der jeweils gegebenen politischen Situationen. Genau diese Erkenntnis führte schon Bertolt Brecht gegenüber der »Weisheit« der Tuis ins Feld. Seine Texte sind als Versuchsanordnung zu verstehen, wie unter schwierigen, weil widersprüchlichen Bedingungen Emanzipation möglich ist. Deren Verwirklichung stellen sich aber zwei zentrale Hindernisse in den Weg: die Macht der Herrschenden und die Unzulänglichkeit der Niederen. Anders als die Tuis, die aus Gründen politischer Reinheit und Unschuld glauben, sich aus den politischen Kämpfen heraushalten zu können, und dies als Form der Weisheit sehen, setzt Brecht auf die politische Intervention im Bewusstsein der Schwierigkeiten: »Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit ohne Furcht verbringen, auch ohne Gewalt auskommen, Böses mit Gutem vergelten, seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen, gilt für weise. Alles das kann ich nicht.«

Brecht will lieber im Fluss schwimmend über den Fluss nachdenken, als am trockenen Ufer den Fluss nur anzuschauen. Der Zweifel gilt auch den scheinbar starren Verhältnissen. Gesellschaftliche Veränderungen kommen meist auch für die Protagonisten schnell und unerwartet. Das war 1789, 1848 und 1917 schon so und 1968 oder auch 1999 in Seattle nicht anders. Es kommt auf die Veränderung der Welt an, nicht nur auf ihre Interpretation. Die 11. Feuerbachthese steht deshalb im Mittelpunkt seines Denkens. Doch ist dieses Tun niemals unschuldig, gerade weil es kein Außerhalb des geschichtlichen Geschehens geben kann. Politisches Handeln ist niemals ohne Fehler, Niederlagen und Scheitern zu haben. Der »Zweifel« in Permanenz ist keine Alternative, wie Brecht im »Lob des Zweifels« ausführt: »Den Unbedenklichen, die niemals zweifeln, begegnen die Bedenklichen, die niemals handeln. Sie zweifeln nicht, um zur Entscheidung zu kommen, sondern um der Entscheidung auszuweichen. Köpfe benützen sie nur zum Schütteln. Mit besorgter Miene warnen sie die Insassen sinkender Schiffe vor dem Wasser.«

Auch wenn es nicht dem Zeitgeist entspricht: Ohne die Bereitschaft zu politischer Intervention wird Emanzipation nicht zu haben sein. Dabei könnte eine so verstandene interventionistische Linke durchaus gewichtige Positionen einbringen. Etwa die, dass Emanzipation nur noch global gedacht werden kann. Die Kämpfe gegen die Zumutungen einer neoliberalen Globalisierung dürfen nicht bei einer »Anti-Globalisierung« stehen bleiben, sondern müssen in eine Bewegung für eine »andere Globalisierung« transformiert werden. Ein Zurück in einen vermeintlich sicheren keynesianischen Wohlfahrtsstaat ist nur um den Preis des Ausschlusses der Anderen zu haben und somit reaktionär.

Eine weitere unhintergehbare Position muss in der Gegnerschaft zum imperialen Krieg bestehen. Dies gilt auch dann, wenn es sich bei den unmittelbaren Kriegsgegnern selbst um diktatorische Regime oder terroristische Netzwerke handelt, mit denen sich zu solidarisieren sich von selbst verbietet. Statt auf mögliche Subjekte der Befreiung zu hoffen, wie dereinst bei den nationalen Befreiungsbewegungen, geht es um den Aufbau einer eigenständigen dritten Position zu den imperialen Weltordnungskriegen.

Eine so verstandene Internationale ist kein Ziel, das einmal vollendet sein wird. Sondern sie ist in den politischen Kämpfen immer schon vorhanden, ohne dass sie jemals ganz verwirklicht sein wird. Sie wird niemals eine Einheit sein. Schon deshalb muss sie offen für den Anruf des Anderen sein und die Bereitschaft zum Lernen mitbringen. Hierfür gibt es seit Seattle gute Ansätze. Diese Bewegung hat sich die Form der »Internationale« nicht als Ziel, sondern als Ausgangspunkt gegeben. Die Anerkennung der Differenz ist ein weiteres Merkmal. All dies ist keine Garantie für einen Erfolg. Ein Abbruch des Aufbruchs ist angesichts der Widersprüche jederzeit möglich. Im Offenhalten des Prozesses und der Erweiterung des Horizontes dieser Bewegungen besteht die Bedingung der Möglichkeit von Emanzipation. Nach wie vor. Nur muss man dies auch wollen.

Moe Hierlmeier ist Mitglied des Buko-Arbeitsschwerpunkts Weltwirtschaft und Redakteur der Zeitschrift Fantômas. Sein Buch »Internationalismus – eine Ideengeschichte von Vietnam bis Genua« erscheint bald im Schmetterling-Verlag in zweiter Auflage.