Wahlen ohne Karussell

Die ukrainische Präsidentschaftswahl hat der Oppositionskandidat Juschtschenko gewonnen. Nun muss er sich auf einen langwierigen Machtkampf mit seinen Gegnern in der Oligarchie einstellen. von franziska bruder

Diesmal ist es der Amtsinhaber, der sich mit dem Wahlergebnis nicht abfinden will. Insgesamt vier Klagen wegen »massiver Wahlfälschungen« reichten Mitarbeiter des Premierministers Viktor Janukowitsch beim Obersten Gericht der Ukraine ein, nachdem die Wahlkommission den Oppositionskandidaten Viktor Juschtschenko mit 52 Prozent der Stimmen zum Sieger erklärt hatte. Nachdem er sich zunächst geweigert hatte zurückzutreten, erklärte in seiner Neujahrsansprache, dass er die Wahl zwar weiterhin nicht anerkenne, aber sein Amt aufgeben werde.

Anfang Dezember hatte das Oberste Gericht die Stichwahl zur Präsidentschaft wegen eklatanter Verstöße gegen das Wahlgesetz für ungültig erklärt und mit dieser Entscheidung eine Wiederholung am 26. Dezember erzwungen. Zunächst stritt die Opposition darüber, wie ein Kompromiss mit den Kräften um den amtierenden Präsidenten Leonid Kutschma aussehen könnte. Denn diese forderten Gegenleistungen für die notwendigen Gesetzesänderungen.

Die Opposition wollte vor allem die weitgehende Beschränkung auf eine Wahl am Wohnort durchsetzen. Zuvor wurden mit einer in der Ukraine »Karussell« genannten Methode Tausende von Menschen mit Zügen und Bussen quer durch das Land gefahren, damit sie mehrfach ihre Stimme abgeben konnten. Eine weitere Methode des Wahlbetrugs, die durch eine neues Gesetz unterbunden werden sollte, war der Transport der Urnen in die Wohnungen von »Invaliden«. Häufig wurden die Urnen danach gut gefüllt in den Wahlbüros abgeliefert.

Als Preis für die Zustimmung zu einem neuen Wahlgesetz und einer Neubesetzung der Wahlkommission forderte Kutschma eine Verfassungsänderung, um die Rechte des Präsidenten zugunsten des Parlaments und der Regierung zu beschneiden. Das ausgehandelte Ergebnis: Die Wahlgesetzänderungen wurden angenommen, und die neue Verfassung wird frühestens am 1. September 2005 in Kraft treten.

Die Einschränkung der präsidialen Macht wird jedoch auch von vielen Oppositionellen befürwortet. Oleksander Moroz, Vorsitzender der Sozialistischen Partei der Ukraine, sagte in einem Interview mit der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza, man könne nicht einfach den »bösen Zaren« Kutschma durch einen »guten Zaren« Juschtschenko ersetzen. Die Machtakkumulation müsse gesetzlich eingeschränkt werden, schließlich befänden sich in der Umgebung Juschtschenkos Leute, die bereits früher an der Macht waren und damals keine demokratische Änderung der Verhältnisse angestrebt hätten. Juschtschenko selbst war Vorsitzender der ukrainischen Nationalbank. Und als Premierministerin ist unter anderem die Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko im Gespräch, der wegen dubioser Energiegeschäfte in den neunziger Jahren Korruption vorgeworfen wird.

Auch in der Regierung bröckelten die Fronten. Am 6. Dezember beurlaubte Kutschma Janukowitsch, der den Präsidenten öffentlich als »Feigling« bezeichnete und auf Gerüchte anspielte, dieser habe sich von Juschtschenko die Aussicht auf Straffreiheit erkauft. Es geht hierbei vor allem um die Aufklärung des Mordes an dem ukrainischen Journalisten Georgi Gongadze. Indizien sprechen dafür, dass Kutschma der Auftraggeber des Attentats war.

Der Rückzug Russlands dürfte diese Auflösungserscheinungen verstärkt haben. Präsident Wladimir Putin hatte im Wahlkampf für Janukowitsch Partei ergriffen, doch Mitte Dezember unterschrieb die russische Regierung eine gemeinsame Erklärung mit Vertretern der Nato. Darin hieß es, dass man eine unabhängige, souveräne und territorial integrierte Ukraine unterstütze, da dies »prinzipielle Bedeutung für die gemeinsame und unteilbare Sicherheit und Stabilität von uns allen« habe.

Der russische Staatspräsident erklärte sogar, er habe nichts gegen einen EU-Beitritt der Ukraine. Da dies aber in den nächsten zehn Jahren wohl nicht anstehe, wolle er die wirtschaftlichen Beziehungen mit der Ukraine im Rahmen des Gemeinsamen Wirtschaftsraumes intensivieren, dem Belarus, Russland, Kasachstan und die Ukraine angehören. Gleichzeitig aber versuchte Putin, das nationalistische und antisemitische Spektrum für sich zu gewinnen, indem er die Hoffnung äußerte, dass sich in der Ukraine keine »antirussischen und zionistischen Kräfte« durchsetzen würden.

EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso gratulierte Juschtschenko bereits vor der Verkündung des vorläufigen Endergebnisses, doch die polnischen und litauischen Bemühungen, Juschtschenkos Wahlsieg mit einer verbindlicheren Perspektive für den EU-Beitritt zu honorieren, scheiterten am Widerstand der französischen Regierung. Stattdessen wird die Ukraine weiterhin als »enger Nachbar« angesehen, dem im Rahmen eines »gemeinsamen Aktionsplans« nach der Annäherung an EU-Standards ein freier Zugang zum Markt der EU, eine Teilnahme an Unionsprogrammen sowie eine Zusammenarbeit bei der Grenzsicherung und der Bekämpfung der organisierten Kriminalität angeboten werden.

Nicht allein die Distanz der EU, auch die Abhängigkeit von russischen Energielieferungen zwingen die Wahlsieger zu Kompromissen mit Putin. Eine weitere Warnung kam aus dem autokratisch regierten Turkmenistan, das unmittelbar nach der Entscheidung des Obersten Gerichts am 3. Dezember ankündigte, seine Gaspreise um die Hälfte zu erhöhen oder die Lieferungen, mit denen die Ukraine 45 Prozent ihres Verbrauchs deckt, Anfang 2005 stark einzuschränken.

Mit ähnlichen Drohungen mischten sich auch die oligarchischen Clans in den Wahlkampf ein. Mitte Dezember meldeten die ukrainischen Tageszeitungen, der Konzern Naftohaz werde seine Lieferung an kommunale Heizkraftwerke wegen angeblich ausgebliebener Zahlungen um 30 bis 70 Prozent drosseln.

Mit konzilianten Erklärungen versuchen Juschtschenko und Timoschenko, ihre überwiegend ostukrainischen Gegner zu beruhigen. Die Umstrukturierung des Machtgefüges könnte dennoch zu heftigen Konflikten führen, wie der bislang ungeklärte Tod des ehemaligen Ministers für Verkehr und Transport, Heorhij Kirpa, zeigt. Dieser war noch vor einem Jahr als Nachfolger Kutschmas gehandelt worden. Sein Ressort organisierte während der Wahlen die »Karussells«, doch Kirpa lehnte es nach Angaben der ukrainischen Zeitung Den’ ab, für die zweite Stichwahl erneut Wahlfälschungen zu organisieren. Möglicherweise wird dies nicht der einzige prominente Todesfall bleiben.

Juschtschenko hat angekündigt, sich auch einen anderen Premierminister zu suchen, falls die in der Ostukraine besonders unbeliebte Timoschenko im Parlament keine Mehrheit findet. Seine Regierung muss sich auf einen langwierigen Machtkampf einstellen, und die Oligarchie der Ostukraine verfügt nicht nur über ökonomische Druckmittel. Die Mehrheit für Janukowitsch fiel in dieser Region am 26. Dezember zwar deutlich geringer aus, doch die meisten Einwohner sehen ihre Interessen eher durch eine enge wirtschaftliche Kooperation mit Russland gewahrt. Gesichert scheint derzeit allein Juschtschenkos Wahlsieg. Das Oberste Gericht wies in der vergangenen Woche alle vier Klagen Janukowitschs zurück.