Die Welt ist keine Landkarte

Emanzipation braucht Argumente. Mindestens ebenso hilfreich können Erfahrungen sein. Für eine Praxis der Emanzipation plädiert kai pohl
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Am Anfang ist das Wort? Philosophen, Denker und andere Autoritäten, die ja bekanntlich die Welt interpretieren, sind dazu verdammt, den Ereignissen hinterherzulaufen. Sie können der materiellen Praxis, die sich automatisch, aber keineswegs geräuschlos oder unschuldig vor ihren Augen ausbreitet, de facto nicht vorauseilen. Keine noch so ausgetüftelte Prognose kann die Gegenwart überholen; sie ist bestenfalls eine Annäherung an die Realität; ein Modell von etwas, nicht das Etwas selbst. In Technologien akkumuliertes Wissen, nicht frei flottierender menschlicher Geist, schafft das, was wir gemeinhin Fortschritt nennen. Technologie, sagt Friedrich Kittler, ist Wissen, das Macht verleiht. Wenn Ideen nicht die Welt verändern, sondern Artikulation von Transformationen sind, die zumindest ansatzweise in Erscheinung treten, dann bereiten Verbalisieren und Theoretisieren nicht den Weg für das Entkommen aus dem kapitalistischen Trauma. Im besten Fall sind sie der Kompass, der den Weg finden hilft.

Das Wissen von der Welt und der Blick auf die Welt sind heute mehr denn je an Technologie gebunden. Als gründlicher Beobachter des gesellschaftlichen Spektakels verwies Guy Debord auf die Abspaltung einer medientechnisch konstruierten Wirklichkeit, deren Vollendung vor knapp 40 Jahren noch bevorstand. Bereits in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts lieferte der Semantiker Alfred Korzybski eine Beschreibung dieser Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem: »The map is not the territory.«

Heute ist die Medienwirklichkeit, als Vervielfachung des Territoriums durch technische Wiedergabe, als Überwucherung des Territoriums durch technische Konstruktion und nicht zuletzt als Überwachung des Territoriums, das nun selbst als technische Konstruktion vorliegt, der Originalschauplatz aller Theorie, auch der linken. Debatten werden auf der Landkarte abgehalten; Wortgefechte zwischen Gedankengebäuden simulieren eine Arena der kognitiven Auseinandersetzung. Wir sind mit einem Gebirge aus Anschauungen und Texten konfrontiert, das niemand mehr zu überblicken in der Lage ist, und falls doch, verhindert schon die Quantität des Materials, das man überhaupt noch Zeit für praktische Dinge übrig behält. Das aufgetürmte Wissen mag in seiner Menge beruhigend wirken, es nützt aber nichts, solange es keine Macht verleiht.

Praxis ohne Theorie ist blinder Aktionismus; Theorie ohne Praxis ist Reflexion im Leerlauf. Im schlimmsten Fall mündet Theorie in selbstzweckhaftes Gemurmel, erzeugt Redundanzen, verstellt den Blick auf die Wirklichkeit, anstatt Licht in den Schlamassel zu bringen. Im schlimmsten Fall liefert Theorie die Karte für ein Territorium, das es nicht gibt. Auf den Schlachtfeldern dieser Welt kommt jedoch Technologie zum Einsatz, keine Theorie.

Letztgenannte ereifert sich, von einem Haufen Fachidioten streng wissenschaftlich betrieben, im Namen des technischen Fortschritts: »Die Gestaltung von Technologie ist selbst ein Schlachtfeld« (1). Um das Rennen zu gewinnen, werden Methoden angewendet und nicht Meinungen geäußert. Wenn linke Theorie eine relevante Kritik der Verhältnisse leisten will, dann nur als Praxisbegleitung, nicht als Konzeptschmiede. Wer Verhältnisse verstehen möchte, muss sich zumindest auf Augenhöhe mit ihnen befinden. Wer Verhältnisse beenden möchte, muss unterscheiden zwischen Aktionen, die an ihnen kratzen, und solchen, die den virtuellen Kontext der Medienwirklichkeit nicht verlassen. Emanzipation ist kein utopisches Projekt.

Wenn es aber, zumindest hierzulande, keine lebendige Praxis linken Widerstandes gibt, wie Michael Wilk schreibt (Jungle World 50/04), wozu dann all das theoretische Geklingel? Ist nicht alles längst gesagt? Steht nicht alles irgendwo bereits geschrieben? Muss Theorie nicht schweigen können oder wenigstens einmal sich ausruhen dürfen? Immerhin, die Kritikerin, der Theoretiker, die mit schwerem Kopf am Kneipentisch einschlafen, erwachen womöglich – und sei es im Traum – am Krankenbett des Kapitalismus; was könnte es Besseres geben? Schnipp schnapp, und schon sind die Schläuche und Kabel gekappt, die den hilflosen Patienten am Leben erhalten!

Jedoch gibt es gegenwärtig kaum Anzeichen, die darauf hindeuten, dass die Herrschaft des automatischen Subjekts ernsthaft in Gefahr geraten könnte; sie ist machttechnisch und medientechnologisch hervorragend abgesichert. Die interessante Frage, wenn es um Wege aus dem Kapitalismus geht, lautet nicht: »Wohin wollen wir?«, sondern: »Wie kommen wir hier raus?«

Das Dilemma besteht darin, dass die Gesellschaft als »kybernetische Maschine« funktioniert: Ihre Kooperationsform ist die Warenproduktion, ihr Zweck die sich selbst organisierende Wertverwertung; die individuelle Reproduktion ist nur möglich innerhalb dieser Form, d.h. jede und jeder ist gezwungen, sie zu reproduzieren; die Struktur der Verwertung erzeugt die soziale Struktur, nicht umgekehrt. (2)

Wie ist es möglich, diesem geschlossenen Regelkreis zu entkommen? Jedenfalls nicht mit Beschwörungen à la Sinistra!, die in so geisterhaften Formeln münden, wie der einer »Befreiung von uns selbst« (Jungle World, 48/04), und auch nicht mit dem Bedauern über das Fehlen einer »sozialen Alternativstruktur« (M. Wilk, Jungle World, 50/04), die ja notwendig abseits des Zwangs zur Verwertung existieren müsste.

Erst einmal: Es ist ein schizophrener Zustand, wenn der Kopf die Welt zu erkennen weiß als dringend veränderungswürdig, während die Hände offenbar gezwungen sind, dieselbe ungeliebte Realität immer wieder neu ins Werk zu setzen. Die moderne Arbeitsteilung erzeugt den Konflikt zwischen theoretisch gestähltem »Hirnmuskel« und Aktionismus der »Handarbeit« immer wieder neu. Sicher mangelt es auch außerhalb von attac nicht an Imagination: Diverse andere Welten sind möglich! Es nützt aber wenig zu wissen, wohin es uns zieht, wenn wir keinen Weg finden, der uns dorthin führt.

Das Modell Napster hat gezeigt, wie der prozessierende Selbstzweck der Wertverwertung immer wieder Gegebenheiten erzeugt, die über die Grenzen des Systems hinausweisen. Das Wissen, das notwendig ist, um das Spiel am Laufen zu halten, ist mit Sicherheit ebenso dazu geeignet, das System zum Absturz zu bringen. Wir alle sind Teil einer kybernetischen Maschine, deren Mechanik das Knowhow hervorbringt, das gebraucht wird, um die Maschine zu reproduzieren. »Ihr seid Räder im Getriebe der Maschine, die euch platt walzt. Jeder Angriff wird zum Futter der Maschine, die euch glatt macht«, singt die Band Das Bierbeben. Dass der Kapitalismus seine Dynamik nicht zuletzt daraus bezieht, den Widerstand seiner Gegner durch eine geschickte Mischung aus Abwehr, Denunziation und Integration zu eliminieren, ist weithin bekannt. Wer aber versteht, wie ein Prozess funktioniert, sollte in der Lage sein, ihn jederzeit abzuschalten. Vielleicht heißt das Zauberwort gar nicht Angriff, sondern Entzug bzw. Wiederaneignung von Ressourcen, die nötig sind wie die Luft zum Atmen; nur einige Beispiele (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): assambleas, Berlin umsonst, copyleft, die Hacker-Szene, oekonux, schrumpfende Städte, urban art etc.

Sicher, Emanzipation braucht Argumente. Mindestens ebenso hilfreich können Erfahrungen sein; manchmal hilft schon ein Blick ins Geschichtsbuch. Gewiefte adelige Landesherren hatten im Mittelalter eine bestimmte frühbürgerliche Schicht mit Privilegien ausgestattet, weil sie an den Produkten und Handelsgütern interessiert waren, die diese Leute ihnen beschaffen konnten. Herzog Konrad von Zähringen legte im Jahr 1120 im Stadtrecht von Freiburg fest: »Jeder, der in die Stadt kommt, darf sich frei dort niederlassen. Und wer ein Jahr und einen Tag dort gewohnt hat, ohne dass ein Herr ihn als seinen Knecht zurückgefordert hat, erfreut sich fortan sicher und unangefochten der Freiheit.« (3) Damit förderte der Adel unbewusst, aber nicht folgenlos, die Protagonisten einer Herrschaft, die ihm bald schon das politische Zepter entreißen sollten. Den heute regierenden späten Erben des Bürgertums dürfte klar sein, dass es nicht leicht werden wird, den Status einer Gesellschaft aufrechtzuerhalten, worin Bildung und Wissen in definierter, aber nicht vollständig kanalisierbarer Höhe und Breite vonnöten sind, um einerseits die eigenen anspruchsvollen Bedürfnisse zu erfüllen und andererseits die solcherart mit Erleuchtung und Durchblick versorgten Komparsen auf Dauer in einem enger und ungemütlicher werdenden Knast festzuhalten.

Es ist an der Zeit, endlich damit aufzuhören, Macht und Herrschaft pauschal zu Feinden der Emanzipation zu erklären. Es ist an der Zeit zu unterscheiden zwischen Herrschaft, die in all ihren Variationen auf die Gegnerliste gehört, und Macht, die bitter nötig ist, um gegen Herrschaft überhaupt vorgehen zu können. »Macht als Herrschaftsinstrument ist zu bekämpfen, des Ausdrucks sollte man hingegen mächtig sein.« (4)

Emanzipation ist nicht per Rezept in der Apotheke einzulösen. Trotzdem erscheint es absolut notwendig, sich den monolithischen Säulen wenigstens anzunähern, ohne deren Infragestellung eine Absetzung der Herrschaft nicht zu haben sein wird. Emanzipation beginnt mit dem Aufkündigen der herrschenden Übereinkunft, wonach alle Wünsche und Träume auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben haben. Da man in der Sphäre der Wünsche bestenfalls mit symbolischen Mitteln agieren kann, müssen wir zu einer Praxis der Emanzipation gelangen, die als Minimalkonsens die Befreiung vom stummen Zwang der Verhältnisse zum Ziel hat, die Wiedererlangung des Zugriffs auf die Reproduktion des Lebens, auf die Produktion seiner Grundlagen und die Wiedererlangung des Bewusstseins, ein gesellschaftliches Wesen zu sein, das heraus muss aus der Rolle des eingeschüchterten und kontrollierten Objektes, um überleben zu können.

(1) Ernst Lohoff: »Das schwarze Bedürfnis«; Jungle World, 48/00

(2) »Freie Kooperation als Weg aus dem Kapitalismus?«; www.opentheory.org/

fk-wak/text.phtml

(3) zitiert aus: Karlheinz Schönherr: »Deutschland, Land im Herzen Europas«; Deutscher Bücherbund 1974; S. 176

(4) DJ Pappenspalter: »Käfer rocken! Seidels plattmachen!«; Gegner 15/04; S. 63