Der Akteur hat’s schwer

Am 26. Januar beginnt das fünfte Weltsozialforum in Porto Alegre. Warum manche Globalisierungskritiker die Koffer packen und andere nicht, erklärt gottfried oy

Es sei die »größte Innovation der emanzipatorischen Linken der letzten Jahrzehnte«, ein »lebendiger Bruch mit der neoliberalen Katastrophe« – die linke Publizistik ist voll des Lobes für das »Forum der Foren«, das zum ersten Mal im Jahr 2001 in Brasilien stattfand. Während die großen NGO und diverse dogmatische Gruppen die inzwischen auf globaler, kontinentaler, nationaler und regionaler Ebene existierenden Sozialforen auf der Suche nach neuem Fußvolk durchforsten, sucht die radikale, undogmatische Linke dort nach Wegen aus der Selbstisolation. Die anfängliche Begeisterung ist allerdings inzwischen einer etwas gedämpften Grundhaltung gewichen.

Von Aufbruchsstimmung ist wenig zu spüren, sobald vom diesjährigen Weltsozialforum in Porto Alegre die Rede ist. Wenn in einer Woche die Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum in Davos in die fünfte Runde geht, werden sich wieder über 100 000 Menschen in tausenden von Einzelveranstaltungen tummeln, in Panels die anwesende Prominenz beklatschen, in Seminaren und Workshops diskutieren.

Die vermeintliche Offenheit der Veranstaltung mit ihrem Charakter zwischen einem Markt der Möglichkeiten und einer Sommeruniversität wird weiterhin als Wert an sich gehandelt; Gewerkschaften, Kirchen und Stiftungen entdecken alljährlich neu ihre Begeisterung für Bewegungen »von unten«, vornehmlich natürlich nicht für jene im eigenen Land. Business as usual könnte man meinen, wenn es nicht inzwischen schon eine kleine Geschichte der Sozialforen gäbe. Wie allerdings mit dieser Geschichte umgegangen werden soll, daran scheiden sich die Geister.

So steht denn an erster Stelle die Frage: hinfahren oder daheim bleiben? Gegen die Reise hat sich Hartmut Regitz von der Aktion 3. Welt Saar entschieden, einer globalisierungskritischen Initiative. Er beobachtete als Teilnehmer des vierten Weltsozialforums in Mumbai eine »Kultur der Statements« statt offener, kontroverser Debatten sowie nach seinem Geschmack zu viel Starkult und flache Parolen. Letztgenannte sind teilweise in Form von »Aufrufen der sozialen Bewegungen und Massenorganisationen« verbreitet worden, was der Charta der Sozialforen widerspricht, ein Raum für Diskussionen und nicht selbst ein Akteur mit fixen Positionen zu sein. Der Nahost-Konflikt und der Irak-Krieg wurden vor der Folie eines kruden Antiimperialismus als Auseinandersetzungen zwischen Gut und Böse gehandelt, die »nationale Souveränität« der »unterdrückten Völker« eingefordert.

Aber auch die Meinungen der mehreren hundert Teilnehmer aus Deutschland, die einzeln oder per Gruppenticket mit Attac Deutschland, dem Evangelischen Entwicklungsdienst, dem DGB Bildungswerk, der Ebert-, Böll- und Luxemburg-Stiftungen sowie diverser NGO anreisen, sind durchaus heterogen.

»Kann ein Sozialforum tatsächlich ein herrschaftsfreier Raum sein, in dem alle auf gleicher Augenhöhe miteinander diskutieren, oder werden hier alte Herrschaftsverhältnisse aufrechterhalten und neue produziert?« Mit Fragen wie dieser im Gepäck fährt Susanne Spindler, Bildungsreferentin der Rosa-Luxemburg-Stiftung Nordrhein-Westfalen, nach Porto Alegre. Sie sieht einen der größten Knackpunkte im Zusammentreffen von NGO und sozialen Bewegungen. Hier bestehe nicht nur ein großes Gefälle, was die Ressourcen der einzelnen Organisationen betrifft, auch die Interessen seien zum Teil deutlich different. Beispiele dafür gibt es viele. Wenn etwa der Attac-Funktionär und Mitorganisator des Sozialforums in Deutschland, Hugo Braun, die Formel vom offenen Raum in gewohnter gewerkschaftlicher Manier in den Dreischritt »konstruktiver Dialog«, »Konsens« und »gemeinsames Handeln« übersetzt und dem Ganzen dann noch das Prädikat »politische Reife« verleiht, ist Vorsicht angebracht. Allerdings betont Spindler auch, dass es neben den benennbaren Themen auch auf den Subtext, auf die Stimmung ankomme, die sich bei dem Treffen entfalte.

Tatsächlich macht es sich das Weltsozialforum – wenn man überhaupt von dem Akteur Weltsozialforum sprechen kann – hinsichtlich der Rolle der sozialen Bewegungen recht einfach. In der Darstellung des Neoliberalismus als eines Konfliktes zwischen denen »da oben« und denen »da unten« sowie einer Rückbesinnung auf antiimperialistische Welterklärungsformeln werden die sozialen Bewegungen aus ihrer Verantwortung entlassen. Dieser Zugang unterschlägt, dass es nicht nur neoliberale Strategen waren, die dem Fordismus den Garaus machen wollten, sondern auch die sozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre, die gegen die Fabrikgesellschaft und ihre stumpfsinnigen und sinnentleerten Arbeits- und Lebensweisen kämpften. Insofern ist der Neoliberalismus selbst auch eine ambivalente Erfolgsgeschichte.

Der Sozialwissenschaftler Ulrich Brand, der sich selbst als »akademischen Aktivisten« bezeichnet, erklärt an diesem Punkt sein »großes Interesse an theoretischen Fragen«. Er fordert eine »bewegungsorientierte Theoriearbeit« auf den Weltsozialforen ein und bietet selbst, in enger Kooperation mit Susan George und Immanuel Wallerstein, Veranstaltungen zu gesellschaftstheoretischen Fragestellungen an. Überhaupt zeigen die auf dem Weltsozialforum ebenfalls vertretenen Ansätze der Multitude oder einer Machtkritik, für die etwa John Holloway steht, dass der krude Antiimperialismus der verschiedenen Aufrufe sozialer Bewegungen nicht repräsentativ ist.

Staatstragend geht es natürlich auf dem Weltsozialforum auch zu, obwohl Regierungsvertreter und Parteien – wie im Übrigen auch bewaffnete Gruppen – ausgeschlossen sind. Für Philipp Hersel, den Koordinator der u.a. von Attac Deutschland angebotenen Gruppenreise, steht nach der Flutkatastrophe in Südostasien die Frage an erster Stelle, ob die geforderte Entschuldung an Bedingungen geknüpft werden soll. Wenn ja, an welche: Menschenrechtspolitik, Armutsbekämpfung oder Entwicklungsprojekte? Welche Akteure könnten statt des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank für die Entschuldung sorgen und sie überwachen? Soll es nur einen einmaligen Schuldenerlass geben, oder ist nicht vielmehr eine Neuordnung des Kreditwesens, etwa die Einführung eines Schieds- statt eines Gläubigerverfahrens, angebracht? Welche Länder sollten neben den ärmsten von der Entschuldung profitieren: Brasilien, Mexiko, Russland, die Türkei?

Bei solchen zweifellos wichtigen Fragen wird man den Eindruck nicht los, es mit Nachwuchspolitikern, Schattenkabinetten und alternativen Regierungsprogrammen zu tun zu haben. Dabei hat man in Porto Alegre diesbezüglich schlechte Erfahrungen gemacht: Während noch vor zwei Jahren der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva und sein Null-Hunger-Programm abgefeiert wurden, dürften beim diesjährigen Treffen die Proteste wegen der ausbleibenden Sozialreformen im Vordergrund stehen.

So bleibt das Weltsozialforum eine schillernde Veranstaltung, nicht zuletzt wegen der blumigen, wenig greifbaren Sprache der globalisierungskritischen Bewegung. Dennoch, als Forum des internationalen Austauschs ist ein Treffen wie das Weltsozialforum trotz oder vielleicht sogar wegen der Widersprüche unverzichtbar. Wenn nur dieses unbändige Verlangen nicht wäre, Widersprüche aufzulösen und klare Verhältnisse zu schaffen. Aber das kennt man ja aus der kleinsten Politgruppe.